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Die splitternackte Schwarze, die sich bei frostklirrender Kälte auf dem Trottoir wäscht, und die New Yorker eilen mit hochgeklapptem Kragen vorbei; zwei Männer und eine Frau, die in einem Pariser Park die immer gleichen Runden drehen, und mit ihnen läuft ein geheimes Leben; oder der in einen Müllsack gehüllte Bettler, der, wie in einem rituellen Tanz, ununterbrochen brüllend herumhopst - solche einprägsamen sozialen Bilder, Freiheitsübungen eben, notiert Péter Nádas heute, nach seinem Leben in der Diktatur. Seine Folgerung daraus gleicht einer Bankrotterklärung: Freiheit scheint zu bedeuten,…mehr

Produktbeschreibung
Die splitternackte Schwarze, die sich bei frostklirrender Kälte auf dem Trottoir wäscht, und die New Yorker eilen mit hochgeklapptem Kragen vorbei; zwei Männer und eine Frau, die in einem Pariser Park die immer gleichen Runden drehen, und mit ihnen läuft ein geheimes Leben; oder der in einen Müllsack gehüllte Bettler, der, wie in einem rituellen Tanz, ununterbrochen brüllend herumhopst - solche einprägsamen sozialen Bilder, Freiheitsübungen eben, notiert Péter Nádas heute, nach seinem Leben in der Diktatur. Seine Folgerung daraus gleicht einer Bankrotterklärung: Freiheit scheint zu bedeuten, "dass die Realität meiner Umstände immer den Vorrang hat vor der Verpflichtung, Orientierungspunkte zu finden". Ein erschreckender Spiegel. Aber Nádas' leise und präzise formulierten Beobachtungen haben diese Wirkung: Woher man kommt, aus dem Osten oder Westen, man wird in seiner Sicherheit erschüttert. Ob es um Ceauºescus Hinrichtung geht, die er in einer TV-Sendung zur Weihnachtszeit sieht,oder um ein Interview der Mutter Teresa - Nádas zieht den Leser "in das Labyrinth der Selbsterkenntnis. Und das macht diese Erzählprosa so verführerisch" (Földényi).
Autorenporträt
Nádas, Péter
Péter Nádas, Erzähler, Dramatiker, Essayist und Fotograf wurde 1942 in Budapest geboren. Seine berufliche Laufbahn begann er 1961 als Fotoreporter für das Frauenmagazin "Nök Lapja". Nach zweijährigem Militärdienst arbeitete er dann ab 1965 als Journalist bei der Tageszeitung "Pest Megyei Hirlap", kam jedoch immer stärker in Konflikt mit den Leitlinien der offiziellen Berichterstattung, bis er 1968 die journalistische Arbeit aufgab und sich als freier Schriftsteller aufs Land zurückzog. Da er bis 1977 auf Grund der Zensur keinen Verlag für seine Werke fand, arbeitete er neben der schriftstellerischen Tätigkeit noch für verschiedene Zeitschriften. Auf Einladung des DAAD lebte Péter Nádas 1981 ein Jahr in Deutschland. Für seinen Roman "Buch der Erinnerung" (1986, dt.1991) wurde er u.a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem französischen Prix du Meilleur Livre Étranger und dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung (1995

) ausgezeichnet. Péter Nádas lebt in Gombosszeg und Budapest.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.09.2004

Der Gott der kleinen Schwindler
Auf verlorenem Posten: „Freiheitsübungen und andere kleine Prosa” von Péter Nádas
Die Einsamkeit kommt aus Mitteleuropa. Péter Nádas hat des öfteren davon erzählt, nicht nur in seinem gewaltigen „Buch der Erinnerung”, sondern vor allem auch in kleinen, fotografisch arbeitenden Prosastücken. Je genauer man hinschaut, desto größer werden die Details, und die Konturen des Ich verschwimmen. Ungarn, das Dorf Gombosszeg, und dort vor allem der Wildbirnenbaum im Hof seines Hauses: darum kreist Nádas‘ Schreiben. Das Ich, um das es geht, stellt sich dabei immer wieder in Frage. In dieser Atmosphäre existierte auch Kafka, hier schlummern immer noch die Möglichkeiten und die Desaster des alten Habsburgerreiches, Nádas kommt in seinen „Freiheitsübungen”, einer Sammlung von elf Prosatexten, gelegentlich darauf zu sprechen. Etwas merkwürdig Zeitloses lastet über der Landschaft hier.
„Freiheitsübungen und andere Kleine Prosa” handelt deswegen nicht nur von der Freiheit, die Ungarn seit 1989 erlebt. Es sind Übungen, von denen die ersten bereits in den siebziger Jahren gemacht wurden und die auf verwickelte Weise Existenz und Schreiben ineins setzen; der Übergang von der Diktatur zur Demokratie liefert nur neues Anschauungsmaterial. Schon der erste Text, „Von Blatt zu Blatt”, unterläuft die Erwartungen, gerade weil er auf gewisse Veränderungen zu sprechen kommt. Er zerfällt in acht kurze Betrachtungen, acht Blätter; die Blätter des Baumes und die Blätter aus Papier gehen ineinander über. Der Schreibvorgang wird den gesellschaftlichen Entwicklungen entgegengesetzt. Es wirkt wie eine Provokation, wenn der Autor ein Blatt an der Spitze eines Zweiges wahrnimmt, das sich inmitten des Stillstands, der unerträglichen Hitze als einziges bewegt. Der Selbstfindungsprozess der Demokratie stößt in diesen poetisch-philosophischen Preziosen auf die „Selbstbestimmung der Natur”, die einen anderen Zeitbegriff hat. Nádas erkennt, dass es einer demokratischen und liberalen Gesellschaft, wie er sie immer erstrebte, außerordentliche Schwierigkeiten bereitet, „sich irgendeine Art von Stillstand vorzustellen”. Und dass es jenen Gesellschaften, die sich 1989 "ins lang ersehnte Paradies aufgemacht haben", noch schwerer fällt.
Wenn Nádas das verlassene Dorf Salomfa aufsucht, die Hohlwege entdeckt, die Räderspuren, den Brunnen und sogar noch den Glockenturm, hält er die Ordnung der Dinge der furiosen Zeit der neunziger Jahre entgegen. Daraus zieht er auch die Kraft, gegen Goethe anzuschreiben, gegen das „europäische Mentalitätsmuster”. Das Eigentliche werde darin durch Redefluss und Worthäufung verdeckt, Goethe habe den „Bund der Verdränger” begründet, Werther „das Verschweigen der Depression” und das Melodram in Mode gebracht.
Die Depression zulassen, sich den wahren Verhältnissen stellen: das erfordert viele Formen. Analytische Passagen wechseln in diesem Buch mit Traumvisionen ab, poetischen Beschwörungen und lyrischen Notaten, und der Erzähler knüpft an Kafka an, wenn er am Rande eines ungarischen Dorfes plötzlich Gott begegnet. Er befindet sich in einer surrealen Welt, in der Kinder auf der Straße mit uralten Spielzeugen hantieren und Französisch sprechen. Ein Mädchen in einem leichten Sommerkleid führt ihn über die staubige, wellige Dorfstraße in ein Seitengässchen, wo ein sonnenverbrannter, älterer Mann in der austauschbaren Kleidung eines Tagelöhners sofort als Gott erkennbar wird.
Abseits, im kalten Glanz
Sein Blick ist eindeutig, man spürt sich selbst nicht mehr und auch die Welt tritt zurück, und man wird von irgendwelchen Leuten gepackt und an Apparate angeschlossen, es wird Blut abgezapft und das Ergebnis präsentiert: „Du willst nicht leben”. Darum geht es, das ist die Essenz der Dinge, und das letzte Wort hat Gott, der lächelt, weil „er wieder einmal jemanden bei diesem hinterlistigen kleinen Schwindel ertappt” hat.
Das ist eine Kurzgeschichte wie im klassischen Lesebuch, mit dem alten, chancenlosen Subjekt. Bei Nádas kommt aber noch etwas Archaisches hinzu. Im Osten hat die Individualisierung nie so recht stattgefunden, und deswegen ist er im Vorteil, denn der Westen hat die Individualisierung gerade erst hinter sich gelassen. Es bleibt etwas, das schon vor dem Ich da war. Das Ende der rumänischen Diktatorenfamilie Ceausescu, eine schöne Zukunftsverheißung, wird in diesem Buch zu einem symbolischen Akt: Die Aufständischen schlachten die beiden Herrscher genauso ab, „wie sie es mit ihren heißgeliebten und gern gekraulten Säuen am frühen Wintermorgen tun”, Richter und Despoten sind auf schreckliche Weise einander nah.
In vielen Anläufen werden der Westen und der Osten gegenübergestellt, Geschichte und Gegenwart aufeinander bezogen. Die Tonlagen verändern sich jäh, abstrakte Gedankengänge stehen unmittelbar neben sinnlichen Beobachtungen, und dieses Disparate scheint es zu sein, woraufhin sich die versprengten europäischen Erfahrungen gemeinsam bewegen.
Nádas will die Bedingungen der modernen und postmodernen westlichen Welt von innen her beleuchten, verfolgt sie bis in die feinsten Verästelungen ihres Denkens und zeigt sich dabei doch als ein anderer, als einer, für den „Freiheit” ein Fetisch war und der nun, immer noch fremd, vor ihren Erscheinungsformen steht. Er sehnt sich nach „Sinndeutung”. Doch Goethes Lösung funktioniert nicht mehr. Mitteleuropa liegt jetzt im Osten.
Die Literatur steht auf verlorenem Posten, und das ist paradoxerweise ihre größte Stärke. Die einzige Instanz, auf die der Autor sich berufen kann, gerät so in ein eigenartiges Oszillieren: das Ich bewegt sich einerseits zwischen unzugänglichen Zonen am Rande des Verschwindens, andererseits wirkt es manchmal geradezu hypertroph, pathetisch hochfahrend im Gestus, im kalten Glanz des Solitärs. In einem der schönsten Stücke umkreist Nádas die Parallelen zwischen Kafka und Hasek. Beide schrieben fast gleichzeitig im habsburgisch geprägten Prag, der eine deutsch, der andere tschechisch. Der berühmte letzte Satz in Kafkas „Prozess”, der als Textvariante aufgefunden wurde, handelt vom Tod des Josef K. und von der Scham, die ihn in seiner Imagination überleben wird - Haseks „Schwejk”, der in einem gänzlich anderen Kosmos zu spielen scheint und dennoch dasselbe meint, ist unvollendet geblieben. Nádas‘ Forderung ist die Forderung aller Literatur, es ist die Hoffnung, Schleichwege im Absurden zu finden, das Lebbare: „Lasst uns Schwejks letzten Satz suchen!” Nádas‘ „Freiheitsübungen” machen sich auf diese Suche, mit der Melancholie, auf die es ankommt.
HELMUT BÖTTIGER
PÉTER NÁDAS: Freiheitsübungen und andere Kleine Prosa. Aus dem Ungarischen von Ruth Futaky, Zsuzsanna Gahse, Laszlo Kornitzer und Ilma Rakusa. Berlin Verlag, Berlin 2004. 210 Seiten, 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2004

Der einzelne ist immer mehr als sein Land
Aber er weiß weniger als seine Muttersprache: Die "Freiheitsübungen" des Ungarn Péter Nádas / Von Hannelore Schlaffer

Seinem 1991 in Ungarn erschienen "Buch der Erinnerung" stellt Péter Nádas eine Selbstauslegung voran: "Es war meine Absicht, Geschichten zu erzählen, ein wenig wie Plutarch, parallele Erinnerungen verschiedener Personen zu verschiedenen Zeiten. Und die verschiedenen Personen wären naturgemäß alle ich, ohne daß ich es wirklich wäre." Auch Nádas' "Freiheitsübungen", sein jüngstes Buch, sind Befreiungsübungen eines Ich, das nur nach außen blickt und dennoch immer wieder im eigenen Inneren versinkt. In den unendlich vielen Texten von zwei, drei Seiten und Textchen von zwei, drei Zeilen mischt er die Genres bunt durcheinander. Mit fotografischer Genauigkeit hält er Dinge, einen Baum, einen Ausblick übers Meer fest; er erzählt Geschichten von streunenden Hunden, verfallenden Dörfern und geisterhaften Subjekten, die sich im Nebel der Ungewißheit verlieren, sorgt sich um die politische Entwicklung Ungarns nach dem Untergang des Sozialismus, um die Qualität der Zeitungen dort oder die Sauberkeit in den Zügen; in kleinen Essays, die an Rezensionen erinnern, entdeckt er seine eigenen literarischen Vorbilder wie etwa den zu Unrecht vergessenen Gregor von Rezzori, oder er vergleicht das Schicksal der beiden Josef: K. und Schwejk.

Die Vielfalt der Themen und Bilder spiegelt die Fülle der Welt, die sich dem neugierigen Auge erschließt und die dann einen Kopf belastet, der mit diesem Kauderwelsch der Wirklichkeit nicht fertig werden kann. Es ist kein Bewußtseinsstrom, den Nádas beschreibt, denn dieser könnte ebensogut auch bei geschlossenen Augen vor sich gehen; vielmehr läßt er einen Dokumentarfilm ablaufen, den der Zuschauer aber nur rudimentär zu erfassen vermag.

Nádas, der ehemalige Pressefotograf, hat schon in der Geschichte des "Eigenen Todes" sein verkalktes Herzgewebe in den Verästelungen einer Baumkrone wiedererkannt und den Krankheitsverlauf seines Herzinfarkts metaphorisch mit dem Jahreszyklus dieses Baumes verbunden. Phase für Phase und Bild für Bild ging er die Stadien der Entwicklung vom herbstlichen Zerfall zum winterlichen Ableben bis zum Wiedererblühen im Frühling durch, und wie in diesem Buch richtet Nádas stets sein Stativ vor bewegten Szenen auf und stellt sie mit einem Klick still. Das poetische Album seiner "Freiheitsübungen" enthält lauter solche Momentaufnahmen, die von den siebziger Jahren bis zur Jahrtausendwende reichen.

Die chronologisch nur flüchtig geordneten Szenen wechseln schlagartig mit dem Jahr 1989 ihr Motiv: Die lyrischen Träume und gespenstischen Albträume gehen über in politische Sorge und zivilisationskritischen Ärger. In den Jahren der politischen Latenz davor kommentiert Nádas nicht ausdrücklich, was er beobachtet; er spricht vielmehr durch die effektvolle Konfrontation dessen, was er bei seiner Schnipseljagd aufgelesen hat: "Durch das Grün des kleinen Birnbaums vor meinem Fenster schimmern das Blau des Rittersporns, das hellere Blau des Himmels und eine rosarote Rose." Mit solchen Sensibilitäten kokettiert Nádas gern, weil sie sich um so wirkungsvoller ausnehmen, wenn er sie dann in einen Rahmen aus gröbstem Schmutz faßt. Dem Blumenbildchen läßt er eine Eintragung folgen, so kurz und bündig wie abstoßend: ",In einem Fall hat ein zur Sodomie gebrauchter Schoßhund das Geschlechtsteil seiner verstorbenen Herrin herausgefressen', schreibt Gerichtsmediziner Dr. Schranz." Solch schwarze Romantik, die in Rosarot und Blutrot malt, nimmt das Kolorit von Kodakbildchen zu Hilfe, um die Abgründe des Herzens in möglichst grellen Farben vors Auge zu rücken.

Im zweiten Drittel des Buches nehmen die politischen Reflexionen zu. Das Kaleidoskop aus Wirklichkeitsstaub löst in den neunziger Jahren die aphoristische Selbstreflexion ab: "Ich bin Ungar, aber für andere hat das keine Bedeutung. Der einzelne ist immer mehr als das Volk, als das Land, indes kann einer ein noch so großer Wortkünstler sein, er weiß immer weniger als seine Muttersprache." Da aber Notizen aus den siebziger mit solchen aus den neunziger Jahren vermischt werden, unterstreichen sich gegenseitig Lyrik und Politik ebenso wie an anderer Stelle Zartheit und Brutalität.

Dabei begegnet Nádas auf der Suche nach dem Ich auch nach der Wende noch immer demselben an die Welt verlorenen Subjekt wie eh und je. Reportern gegenüber beschreibt er seine Selbstvergessenheit kaum anders als Jahre zuvor im "Buch der Erinnerungen": "Ich habe in der Diktatur gelebt, seit einer Weile lebe ich in einer Demokratie . . . ein einzelner Mensch als imaginiertes Abbild im Umkreis anderer imaginierter Gestalten, die alle nicht gänzlich mit mir identisch und gleichwohl auch nicht mit anderen identifizierbar sind, nur soweit, daß sie alle, in die Form von Einzelsätzen eingeschlossen, im strukturellen Zusammenhang anderer Sätze zusammenleben."

Nádas stellt diese Komposition aus "Einzelsätzen", diese additive Textstruktur, selbst her. Er gebraucht ein literarisch undeutliches, im zwanzigsten Jahrhundert aber verbreitetes Genre, für das sich der Begriff "Aufzeichnungen" anbietet. Durs Grünbein hat diesen Begriff in den "Berliner Aufzeichnungen" verwendet. Es handelt sich um Notate, die der Autor nach der Art eines ethnologischen Feldforschers im eigenen Land macht und die er so zufällig, wie es die Wirklichkeit eben vorschlägt, zu Papier bringt. Diese Niederschriften unterscheiden sich vom Tagebuch nicht nur dadurch, daß sie undatiert sind, sondern auch dadurch, daß der schreibende Betrachter scheinbar keinerlei Perspektive, keine subjektive, keine politische, keine moralische hat. Die Wahrnehmung der wirklichen Welt wird willkürlich in beliebigen Situationen angehalten und zu einem Themensee angestaut, auch wenn dieser manchmal nur so groß wie eine Pfütze sein mag.

Die Notate haben keinen Anfang und kein Ende, sie bekommen allein Kontur durch den Abdruck. Ohne ihn könnten sie fortgesetzt, wieder gekürzt oder auch ganz und gar vernichtet werden. Aber gerade diese Zufälligkeit steigert ihre Authentizität. Deshalb hat auch Roland Barthes über Roland Barthes in dieser verzettelten Weise gesprochen und seine Individualität in lauter alphabetisch geordnete Karteikarten aufgelöst. Die Poesie der neuen Gattung definiert der Autor meist durch den Titel seiner Sammlung: Barthes etwa gab seine Methode zu erkennen als "Fragmente einer Sprache der Liebe"; Julien Gracq zeigt die Entstehungsweise seiner Texte durch das Bekenntnis: "Lesend schreiben" an. Die Rudimente der Wahrnehmung sind nicht einmal Skizzen mehr zu nennen, sie sind keine Vorstudien, aus denen je ein vollständiges Bild entstehen sollte: in ihrer gestaltlosen Zufälligkeit geben sie vor, Welt pur zu sein.

Péter Nádas: "Freiheitsübungen und andere Kleine Prosa". Übersetzt von Ruth Futaky, Zsuzsanna Gahse, Laszlo Kornitzer, Ilma Rakusa. Berlin Verlag, Berlin 2004. 210 S., geb., 22,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Der ungarische Schriftsteller Peter Nadas schreibt gegen "europäische Mentalitätsmuster" an, stellt Helmut Böttiger fest, präziser müsste man wohl sagen: gegen westeuropäische Mentalitäten, zu deren unangenehmen Eigenschaften der bekennende Mitteleuropäer Nadas Schnelligkeit, Verdrängung, einen falschen Zeitbegriff zählt, der die Ordnung der Dinge übersieht. Nadas arbeitet in seinen kleinen Prosastücken nahezu fotografisch, erklärt Böttiger, was zur Folge habe, dass bei näherem Hinschauen die Details immer größer und das Ganze eher verschwommen wirken würde. Das Anschauungsmaterial liefere die Natur, das Nadas dem Selbstfindungsprozess der jungen osteuropäischen Demokratien entgegensetze. Er ist dabei auf manch interessantes Detail gestoßen, bekundet Böttiger: der Osten wirke archaischer, da die Individualisierung nie so recht stattgefunden habe, während der Westen sie gerade hinter sich lasse, ist eine seiner Entdeckungen. Immer wieder verschränkt Nadas Geschichte und Gegenwart von Ost- und Westeuropa, in abrupt wechselnden Tonlagen, so Böttiger, die lyrische Notate neben surreale oder Traumpassagen und abstrakte Gedankengänge stellten. "Die Depression zulassen" lautet für Böttiger das Nadas'sche Motto - das ist klar eine Herausforderung europäischer Mentalitäten.

© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Autor von hohem Rang. Marcel Reich-Ranicki 20210405