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"Wer gut zu gehen weiß, bleibt ohne Spuren." Kai Marchal war 22, als er dieser daoistischen Weisheit folgend in den 1990ern mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China reiste. Dieses Land verkörperte damals für ihn das radikal Andere, einen letzten Sehnsuchtsort jenseits der westlichen Lebensform. In unserer chaotischen Gegenwart ist China längst ins Zentrum der Welt gerückt; mit dem schleichenden Niedergang des Westens wird auch die neue Führungsmacht China immer wichtiger. Doch was wissen wir eigentlich über das chinesische Denken? Suchten Daoisten, Konfuzianer und Buddhisten "nur" nach…mehr

Produktbeschreibung
"Wer gut zu gehen weiß, bleibt ohne Spuren." Kai Marchal war 22, als er dieser daoistischen Weisheit folgend in den 1990ern mit der Transsibirischen Eisenbahn nach China reiste. Dieses Land verkörperte damals für ihn das radikal Andere, einen letzten Sehnsuchtsort jenseits der westlichen Lebensform. In unserer chaotischen Gegenwart ist China längst ins Zentrum der Welt gerückt; mit dem schleichenden Niedergang des Westens wird auch die neue Führungsmacht China immer wichtiger. Doch was wissen wir eigentlich über das chinesische Denken? Suchten Daoisten, Konfuzianer und Buddhisten "nur" nach Weisheit - oder verfolgten sie ein philosophisches Projekt, das uns auch heute noch helfen kann, ein gelingendes Leben zu führen? Welche neuen Perspektiven können uns Denker wie Laozi, Wang Bi oder Wang Yangming anbieten? Das Ergebnis von Kai Marchals langjährigem Ringen mit dem Gegenstand "China", der sich uns wie kein anderer entzieht, ist ein Buch, das auf faszinierende Weise sehr unterschiedliche Genres miteinander verbindet: philosophische Einführung, literarischer Essay, Reisebericht, autobiografisches Bekenntnis.
Autorenporträt
Kai Marchal, 1974 in Wilhelmshaven geboren, lebt mittlerweile in Taipeh und lehrt Philosophie an der National Chengchi University. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche und literarische Texte in deutscher, englischer und chinesischer Sprache.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.03.2019

Wie Konfuzius Heidelberg erreichte
Kai Marchal erzählt ein Leben auf Chinas Spuren

Es muss um das Jahr 243 gewesen sein, dass Wang Bi, ein genialischer junger Mann in China, auf den Gedanken verfiel, Konfuzius, diesem staatstragenden Urheber bieder-konventioneller Sentenzen, eine größere Abgründigkeit zuzusprechen als Laotse, dem antiautoritär-anarchistischen Mystiker des Taoismus. Dass Konfuzius als Prototyp des weisen Menschen sich an Alltägliches hielt und es ablehnte, über so etwas wie das Nichts zu sprechen, deutet Wang Bi so, dass er nicht die Illusion habe nähren wollen, man könne das Nichts verobjektivieren, sich selbst ihm gegenüberstellen. Gerade damit zeige er, dass er sein eigenes Denken ganz auf das Nichts gestellt habe, das im Ursprung aller Dinge sei, es gewissermaßen verkörpere. Laotse dagegen, der sich laufend über das Nichts auslässt, gebe damit zu erkennen, dass er in Wirklichkeit noch in der Vorstellung eines Seins gefangen sei, das er wortreich zu überwinden versuche. "Wer sich auf die Suche nach der Wahrheit begibt", schrieb Wang Bi, in deutsche Wörter übertragen, "darf nicht nach Kontrolle streben; vielmehr muss er sich ganz dem Ursprungshaften zuwenden und die Worte verwerfen - so wird er ganz von selbst und dem Himmel gleich ins Wandlungsgeschehen eintreten."

Was soll man mit einer solchen Geschichte anfangen? Das Nichts, das Tao, das Ursprungshafte - alles schon mal gehört und bei Exotik (das Andere der Vernunft . . .), Esoterik oder einfach nur Geschwurbel abgelegt. Zahlreiche Fallen verstellen den Zugang zum sogenannten traditionellen chinesischen Denken, das sich direkt, etwa durch Nacherzählung, offenbar kaum erschließen lässt. Zu viele Begriffe sind kontaminiert und verfälscht, zu viele Kontexte unbekannt. Der in Taipeh lehrende deutsche Sinologe und Philosoph Kai Marchal wählt deshalb einen anderen Weg, der ebenso ungewöhnlich wie einleuchtend ist. Wang Bis Gedanken macht er zum Fluchtpunkt eines Memoirs, das auf höchst unsystematische und unterhaltsame Weise um die Frage kreist, wie es einen jungen Deutschen, der an sich und der "ironischen Coolness" seiner bundesrepublikanischen Umgebung leidet, zum alten China verschlägt und nach Zwischenstationen in Heidelberg, Paris und Osaka nach Taiwan. Marchal erzählt seinen bisherigen Lebensweg - jetzt ist er 45 - nicht als Flucht, sondern im Gegenteil als den von ständigen Selbstzweifeln begleiteten Versuch, zu etwas wirklich Vernünftigem vorzustoßen. Er nimmt sich gewissermaßen als Versuchsperson, um die Kluft zu überbrücken, die sich zwischen einer europäischen Sozialisation im späten zwanzigsten Jahrhundert und einem Denker wie Wang Bi auftut. Um so die Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts auch einmal aus einer anderen Perspektive betrachten zu können als der des abstiegsbedrohten Europa.

Das hört sich dann, wenn zum Beispiel vom durch Kellnerjobs finanzierten Studium in Heidelberg die Rede ist, so an: "Ich las ,A First Course in Literary Chinese' von Harold Shadick so lange, bis ich das Altchinesische im Schlaf herunterbeten konnte und mich ganz glasig fühlte von so viel Fremdheit; und wenn ich dann in Panik geriet, weil ich nicht wusste, was ich einmal mit meinem Leben anstellen würde, zog ich einfach tiefer an dem Joint, der lange nach Mitternacht in der Küche des Vier-Sterne-Hotels zwischen den Kellnern kreiste. In solchen Nächten leuchtete sogar das Spülicht mystisch-grün." Innen- und Außenwelt, Frosch- und Vogelperspektive gehen fließend ineinander über; der Text bekommt seine Lebendigkeit dadurch, dass er sich zwar mit viel Sinn für Aberwitz, Melancholie und paradoxe Konstellationen ständig auf Abschweifungen einlässt, dabei aber nie sein Leitthema aus dem Auge verliert. Egal ob es um den Zauber geht, den der unergründlich-geniale "Professor W." verströmt, um die tüchtige chinesische Geschäftsfrau Josefine, die den Autor in Paris als Dolmetscher für ihre Akupunktur-Praxen einstellt, oder um das Apartment, das er in Osaka mit zwei ebenso gescheiten wie tumben amerikanischen Sprachlehrern teilt: Immer verfolgt man mit Spannung, wie es ausgeht - ob der Held aus seinem Zwiespalt zwischen westlichem Kulturpessimismus und der Skepsis gegenüber der vermeintlichen östlichen Irrationalität letztendlich herausfinden wird.

Unterbrochen werden die biographischen Abschnitte dabei regelmäßig durch Darstellungen alter chinesischer Texte, deren Verständnis im Lauf der Jahre zunimmt. So stellt Marchal den Lesern immer mehr Kontexte zur Verfügung, lebensweltliche ebenso wie historisch-kritische, und lässt sie sich gegenseitig spiegeln. Die chinesischen Denkfiguren stehen meist nicht in einer direkten Entsprechung zu den verschiedenen Lebensstationen; es gibt keinen linearen Erkenntnisfortschritt und auch keine zusammenhängende Auseinandersetzung mit den chinesischen Konzepten. Die Strategie besteht eher darin, sie in verschiedenen, immer mehr angereicherten Konstellationen aus sich heraus sprechen zu lassen - fast wie in einem Zen-Koan, dessen rätselhafte Paradoxa jeder selber auflösen muss. Schon auf den ersten Seiten werden die Leser ermuntert, sich selbst in eine Beziehung zu den fremden Geschichten zu bringen. Gleich zwei Mal taucht das Wittgenstein-Zitat auf: "Wenn irgendetwas gesehen (wirklich gesehen) wird, dann bin immer ich es, der es sieht."

Mit dieser didaktischen Enthaltung vollzieht das Buch selber die Sprachskepsis nach, die Wang Bi und viele andere chinesische Denker zur Philosophie beitragen. "Weil unser Blick von Häusern und Wänden verstellt wird, sehen wir die Gesamtheit des Himmels nicht mehr", heißt es im 16. Jahrhundert bei dem Neokonfuzianer Wang Yangming, dem Marchal ebenfalls viele Seiten widmet. "Häuser und Wände" stehen hier für die Festschreibungen der Kultur, hinter denen letztlich ein sich aufplusterndes Selbst stecke. Um dem Leben im Ganzen gerecht zu werden, meint Wang, sei es nötig, solche Immobilien des Geistes niederzureißen, um das Bewusstsein im Fließen zu halten.

Man kann nicht sagen, dass sich Marchal derartigen Kategorien vorbehaltlos ausliefert. Mehrmals betont er seine "postchristliche, tragische Weltsicht (Dostojewski, Sartre, Graham Greene!)", mit der er in seiner ostasiatischen Umgebung öfter anecke. Doch je weiter das Buch voranschreitet, desto deutlicher wird - ohne dass er das einmal so ausdrücklich resümiert -, was ihn an den alten Chinesen interessiert: Sie befreien aus dem Korsett allzu festgezurrter "Identitäten", die das Denken in eine Sackgasse führen, es von der sie umgebenden Welt abschotten. Nach Wang Bi zog die chinesische Geistesgeschichte keine schroffen Grenzen zwischen Taoismus und Konfuzianismus mehr, und sein Konzept des "Nicht-Seins" bahnte den Weg für die "Leere" des Buddhismus, der später in China Einzug hielt.

Seit Wang Bi gehörte zum chinesischen Kultivierungsideal unausgesprochen auch das Programm einer Ent-Bildung, die Fähigkeit zur Einklammerung all der Konventionen und Begriffe, die man sich zuvor mühsam erworben hatte. Für Marchal ist das ein persönliches Thema und zugleich ein aktuell politisches. Der Überdruss an den Borniertheiten der heimischen Milieus trieb ihn hinaus in die Welt, doch immer wieder holte ihn auch der Zweifel über die Kosten dieser für die Jetztzeit typisch gewordenen Art Entwurzelung ein: "Weggehen: Hieß das, glatt und formlos werden, wie die Kapitalströme und Lieferketten? Oder kantig werden, klobig und dunkel?" Gerade angesichts des Wiedererstarkens eines völkischen Denkens in Deutschland ist seine Endbilanz jedoch klar: "Nur die ,Fremdartigkeit in sich selbst' (Hegel) gibt einer Kultur, die noch Geist besitzen will, die Kraft, auch in Zukunft geistvoll zu sein."

Die eigene Geschichte, die Marchal im Buch erzählt, geht gut aus. In Taipeh trifft er auf die in Taiwan geborene und nach vielen amerikanischen Jahren nach Taiwan zurückgekehrte C. Y., die zu seiner Lebensgefährtin wird. Seither scheint der Autor seinen Frieden mit der globalen kulturellen Nicht-Zugehörigkeit gemacht zu haben.

MARK SIEMONS

Kai Marchal: "Tritt durch die Wand und werde, der du (nicht) bist. Auf den Spuren des chinesischen Denkens". Matthes & Seitz, 352 Seiten, 28 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension

Mark Siemons liest Kai Marchals Buch als Bildungsgeschichte eines postchristlichen Europäers, der die Berührung mit chinesischen Denktraditionen von Konfuzius bis Wang Bi nicht scheut und dem Leser seine Erlebnisse und Erfahrungen in einem Ineinander von Innen- und Außenperspektive, unter Abschweifungen und mit Witz und Melancholie schildert. Spannend findet Siemons zu sehen, wohin der Zwiespalt zwischen westlichem Kulturpessimismus und östlicher Irrationalität führt. Der Wechsel zwischen Biografischem und Quellentexten erscheint ihm anregend und verschafft ihm lebensweltliche und historisch-kritische Kontexte.

© Perlentaucher Medien GmbH