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Die Theorie der Gerechtigkeit gehört zu den am intensivsten bestellten Feldern der zeitgenössischen Philosophie. Allerdings haben die meisten Gerechtigkeitstheorien ihr hohes Begründungsniveau nur um den Preis eines schweren Defizits erreicht, denn mit ihrer Fixierung auf rein normative, abstrakte Prinzipien geraten sie in beträchtliche Distanz zu jener Sphäre, die ihr »Anwendungsbereich« ist: der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Axel Honneth schlägt einen anderen Weg ein und gewinnt die heute maßgeblichen Kriterien sozialer Gerechtigkeit direkt aus jenen normativen Ansprüchen, die sich…mehr

Produktbeschreibung
Die Theorie der Gerechtigkeit gehört zu den am intensivsten bestellten Feldern der zeitgenössischen Philosophie. Allerdings haben die meisten Gerechtigkeitstheorien ihr hohes Begründungsniveau nur um den Preis eines schweren Defizits erreicht, denn mit ihrer Fixierung auf rein normative, abstrakte Prinzipien geraten sie in beträchtliche Distanz zu jener Sphäre, die ihr »Anwendungsbereich« ist: der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Axel Honneth schlägt einen anderen Weg ein und gewinnt die heute maßgeblichen Kriterien sozialer Gerechtigkeit direkt aus jenen normativen Ansprüchen, die sich innerhalb der westlichen, liberaldemokratischen Gesellschaften herausgebildet haben. Zusammen machen sie das aus, was er »demokratische Sittlichkeit« nennt: ein System nicht nur rechtlich verankerter, sondern auch institutionell eingespielter Handlungsnormen, die moralische Legitimität besitzen. Zur Begründung dieses weitreichenden Unterfangens weist Honneth zunächst nach, daß alle wesentlichen Handlungssphären westlicher Gesellschaften ein Merkmal teilen: Sie haben den Anspruch, einen jeweils besonderen Aspekt von individueller Freiheit zu verwirklichen. Im Geiste von Hegels Rechtsphilosophie und unter anerkennungstheoretischen Vorzeichen zeigt das zentrale Kapitel, wie in konkreten gesellschaftlichen Bereichen - in persönlichen Beziehungen, im marktvermittelten Wirtschaftshandeln und in der politischen Öffentlichkeit - die Prinzipien individueller Freiheit generiert werden, die die Richtschnur für Gerechtigkeit bilden. Das Ziel des Buches ist ein höchst anspruchsvolles: die Gerechtigkeitstheorie als Gesellschaftsanalyse neu zu begründen.
Autorenporträt
Axel Honneth, geboren 1949, ist Jack C. Weinstein Professor of the Humanities an der Columbia University in New York. 2015 wurde er mit dem Ernst-Bloch-Preis, 2016 für Die Idee des Sozialismus mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. 2021 hielt er in Berlin seine vielbeachteten Benjamin-Lectures zum Thema des Buches Der arbeitende Souverän.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.08.2011

Mit Hegel in die
vernünftige Wirklichkeit
In einem großen Wurf versucht Axel Honneth,
Gerechtigkeitstheorie und Gesellschaftsanalyse zu verbinden
Was der Frankfurter Philosoph Axel Honneth in seinem neuen Buch erreichen möchte, sagt er in aller wünschenswerten Klarheit: nämlich „die freiheitsverbürgenden Handlungssphären gegenwärtiger Gesellschaften in ihrem vollen Umfang freizulegen.“ Und nicht nur das. Wie bereits der Untertitel kundtut, soll dies innerhalb des „Grundrisses einer demokratischen Sittlichkeit“ geschehen. Das heißt bei Honneth, dass eine ambitionierte soziologische Gesellschaftstheorie sich mit einer philosophischen Gerechtigkeitstheorie um die Erklärung und Wahrung dessen bemühen wird, was später „soziale Freiheit“ heißt. Der steinige Weg dorthin soll durch das Verfahren der „normativen Rekonstruktion“ gesichert werden. Darunter versteht Honneth nichts weniger als ein sich gegenseitig kontrollierendes Vorgehen: nur diejenigen vorhandenen Institutionen und soziale Praktiken werden dargestellt und analysiert, die relevant sind für die Durchsetzung und Verkörperung allgemein anerkannter Werte. Die Werte wiederum müssen dahingehend überprüft werden, ob und wie sie innerhalb von Institutionen und sozialen Praktiken als gesellschaftsstabilisierend anerkannt gelten. Auf diese Weise soll das überbordende empirische Material einerseits gebändigt und andererseits die ausdifferenzierte soziale Wirklichkeit adäquat abgebildet werden.
Weil das Vorhaben groß und die Methode entsprechend komplex ist, bedarf es noch eines Rahmens, innerhalb dessen das alles plausibel gemacht werden kann. Honneth hat sich für das Theorieprofil Hegels entschieden, von dem er den Begriff der „Sittlichkeit“ entlehnt, die „normative Rekonstruktion“ abgewonnen hat und den Totalitätsanspruch übernimmt. Er will auch dessen Grundsatz belegen, der in den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ formelhaft „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ lautet. Selbst der Aufbau des Buches – historischer Teil, Kritik alternativer Modelle, eigene Systematik – ist dem deutschen Idealisten abgeschaut, allerdings ohne jede dialektische Ambition und in schärfster Zurückweisung der Hegels Werk tragenden Geistmetaphysik.
Dem skelettierten, dafür gegenwartstauglich gemachten Hegel bleibt es überlassen, nicht nur den alten Deutungskonkurrenten Kant aus dem Feld zu schlagen, sondern auch dessen tatsächliche und vermeintliche Nachfolger. Während die Altvorderen der „Frankfurter Schule“ aus guten Gründen schon kaum mehr einer Erwähnung wert betrachtet werden, dürfte sich nicht nur Jürgen Habermas die Augen reiben: Er, der selbst an einer großen Rechtsphilosophie arbeitet, und viele andere werden als institutionenvergessene Kantianer beiseitegeschoben, um Platz für das Soziale zu bekommen. Kants Idee der „wohlgeordneten Freyheit“ ist für Honneth nämlich nichts anderes als der Verzicht auf die Dimension des „Sozialen“. Ein solch defizitäres Freiheitsverständnis, das immer erst nachträglich die Bedingungen dafür schaffen muss, die Anwendung der bloß gedachten Freiheit erst zu ermöglichen, verbleibt in einer schlecht gedachten Rechtsmetaphysik. Ganz anders sei dies bei Hegel angelegt. Der gehe davon aus, dass das „Subjekt als in soziale Strukturen eingebunden gedacht werden“ müsse, die seine „Freiheit garantieren“, bevor es erst dann „als freies Wesen in Verfahren hineinversetzt werden kann, die über die Legitimität der gesellschaftlichen Ordnung wachen.“
Während man die historische Rekonstruktion des Freiheitsbegriffs und vor allem die Kritik an Kant mit einigem Staunen liest, schließlich wäre die vom Königsberger an prominenter Stelle verwendete, bei Honneth titelgebende Formulierung vom „Recht der Freiheit“ zumindest erwähnenswert gewesen, so aufschlussreich ist der bei weitem umfangreichste, weil systematische Teil. Darin wird ein soziales „Wir“ vermessen, das sich in den Sphären „persönlicher Beziehungen“, „marktwirtschaftlichen Handelns“ und „demokratischer Willensbildung“ bewegt. „Persönliche Beziehungen“ sind für Honneth Freundschaft, Liebe und Familie. Allen drei weist er, hier ganz historisierender Soziologe, eine völlig neue Ausformung in der aufgeklärten Moderne zu. Erst ab diesem Zeitpunkt würden sich in den drei Beziehungsformen Freiheitsspielräume eröffnen, bei den Nutzenerwägungen durch Gleichberechtigungen abgelöst werden. Seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts könne im Falle der „Freundschaft“ gar von einer „schichtübergreifend genutzten Form der persönlichen Beziehung“ gesprochen werden. Trotz aller Veränderungen, die von Honneth immer wieder kritisch kommentiert werden, sieht er in den maßgeblichen „normativen Regeln“ der Beziehungen zwischen Individuen keinerlei Änderungen. So werde in der Liebe weiterhin die Kraft der Persönlichkeitserweiterung erlebt, in der Familie, also Vater, Mutter, Kind, fänden ohne Unterbrechung die Interaktionen gegenseitigen Lernens, Überprüfens und Anerkennens statt. Resümierend heißt es: „Dadurch, daß die Mitglieder einer demokratisierten Familie in einer solchen wechselseitigen Spiegelung spielerisch mit ihren natürlichen Grenzen umzugehen lernen, verwirklichen sie im institutionalisierten Miteinander eine einzigartige Form von Freiheit.“
Während Honneth in diesem Abschnitt die Sehnsucht nach Idealisierungen packt und er die Kälte nachmetaphysischen Denkens nicht immer ertragen möchte, erleben wir den Philosophen des Rechts der Freiheit weitaus überzeugender in der Analyse marktwirtschaftlicher Mechanismen. Hier entfaltet sich am überzeugendsten die Tugend der Aufbereitung von Materialien, die den philosophischen Freiheitstheorien nicht naturgemäß zufallen. Die Genese von Wirtschaftstheorien wird ebenso treffsicher wiedergegeben, wie die historisch-systematischen Zusammenhänge der Ausbildung von Arbeitsmärkten. Gerade bei der Analyse der Letzteren zeigt sich, wie verfehlt es wäre, wenn man Honneth einen affirmativen, ansonsten allenfalls übellaunigen liberal-kritischen Ansatz unterstellen wollte. Denn er weist nach, ganz gegen seinen, wenig flexiblen Ansatz der „normativen Rekonstruktion“ gerichtet, dass der Ausschluss vom Arbeitsmarkt nicht nur das hinlänglich bekannte Absinken aus der staatlichen Verantwortungsgemeinschaft bedeuten kann, sondern auch jedwede Teilhabe an demokratischen Kooperationen verloren geht. Dass Honneth hier den Kontakt mit französischen, um nicht zu schreiben: postmodernen Diskussionszusammenhängen sucht, zeigt die prinzipielle Offenheit eines Autors, der auch keine Berührungsängste mit dem Heidegger von „Sein und Zeit“ hat.
Bleiben seine Überlegungen zur „demokratischen Willensbildung“. Hatte sich im Abschnitt zuvor schon eine Skepsis gegen den eigenen Ansatz vernehmen lassen, wird zu Beginn, nicht minder klug, der gehälftete Hegel geopfert. So wird der Blick freier, etwa auf 19. Jahrhundert, das neben vielem anderen auch eines der zunehmenden „Verschränkung des allgemeinen Wahlrechts mit den Rechten auf Versammlungsfreiheit und politische Vereinigung war“. Wohlgemerkt allerdings nur dann, wenn wir unter die in den Blick genommene Geschichte der „gegenwärtigen Gesellschaften“ diejenigen Zentraleuropas und den USA verstehen. Doch Honneth möchte mehr. Es geht ihm darum, die Idee der „sozialen Freiheit“ innerhalb der Institution „Staat“ verwirklicht zu sehen. Hierbei fordert er eine Aufmerksamkeitserweiterung, die sich konsequent den „Bedingungen einer zwanglosen Selbstgesetzgebung“ zuwendet und die staatlichen Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus erst anschließend anzugehen versucht. Im Verlauf der weiteren Untersuchung bleibt es auch für Honneth schwierig, seinen Vorstellungen „politischer Kultur“ den Ruch wohlfeiler oder gar erbaulicher Sentenzen fernzuhalten. Das hat nicht nur mit dem Totalitätsanspruch oder der alten Unübersichtlichkeit politischer Theoriebildung zu tun. Vielmehr, und das registriert er selbst aufmerksam, können die normativen Rekonstruktionsleistungen den sich ständig verändernden Bedingungen der Möglichkeit von gesellschaftlichen Transformationen nicht Schritt halten. Gleichzeitig kann auf den Versuch, mit den vorgelegten Beschreibungen möglichst den Kern dessen zu treffen, was „soziale Freiheit“ bedeuten könnte, nicht verzichtet werden, will man das Projekt, normative Ordnungen zu verstehen, nicht aufgeben. Dass diese Spannung im „Recht der Freiheit“ produktiv gemacht wird, ist ein wichtiges Verdienst des Buches.
Noch aus einem anderen Grunde ist Axel Honneths monumentaler „Grundriß“ bedeutsam: er löst ein Versprechen ein, das Honneth vor knapp zwanzig Jahren mit seiner Analyse von Hegels „Kampf um Anerkennung“ gab. Es bestand darin nachzuweisen, dass die Idee der Freiheit dann größere Bedeutung annehmen würde, wenn man den Menschen in seinen Moral- und Rechtsvorstellungen als genuin „sozial“ denkt. Dass inzwischen im Fundament dieses Vorhabens Risse eingezogen sind und am First die Konstruktion gelegentlich bedenklich schwankt, ändert nichts an der Tatsache, dass hier eine kompakte Herausforderung für alle jene vorliegt, die politische Theorie ohne Normativität und ohne Gesellschaft mit Kant denken wollen. THOMAS MEYER
AXEL HONNETH: Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 628 Seiten, 34,90 Euro.
In der Liebe erleben wir die Kraft
der Persönlichkeitserweiterung
Er will die Idee der sozialen
Freiheit im Staat verwirklicht sehen
Suche nach der „sozialen Freiheit“: Axel Honneth. Foto: Juergen Bauer
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.2011

Frei macht, was ohnehin geschieht

Ist es zwingend, das "Soziale" so affirmativ zu behandeln, wie Axel Honneth es tut? Sein neues Buch enttäuscht philosophisch und soziologisch, weil es die Trennung von Sein und Sollen ablehnt.

Eine der größten Beschränkungen, an denen die politische Philosophie heute leidet, ist die Abkoppelung von der Gesellschaftsanalyse und damit die Fixierung auf rein normative Prinzipien." Axel Honneths neues Buch, das so beginnt, will diesem Mangel mit einer soziologisch informierten Demokratietheorie in der Nachfolge Hegels abhelfen. Die Fronten sind schon mit dem Eingangssatz entworfen: Gegen einen kantischen Normativismus von Theoretikern wie Rawls und Habermas setzt Honneth das Programm einer realitätsgesättigten normativen Rekonstruktion: Normen sind nicht a priori zu deduzieren, sie müssen aus den Reproduktionsbedingungen sozialer Praxis rekonstruiert werden.

Gegen einen normativen Individualismus entwirft Honneth ein Konzept sozialer Freiheit, in der der Mensch Selbstbestimmung nur in Gemeinschaft vollziehen kann. Das "Recht der Freiheit" erfüllt dieses Programm innerhalb einer imposanten Theoriearchitektur, die sich auf drei ihrerseits triadisch gegliederten Ebenen erhebt: von einer einleitenden historischen Rekonstruktion des Freiheitsbegriffs über die "Möglichkeit der Freiheit" in Recht und Moralität zur "Wirklichkeit der Freiheit" in den Formen persönlicher Beziehungen, wie Freundschaft und Liebe, in Austauschbeziehungen des Marktes und schließlich der demokratischen Politik.

Der Anspruch des Buches ist hoch, und warum nicht in der eher zu bescheidenen akademischen Philosophie in Deutschland? In jedem Fall ist es den Versuch wert, vom Begriff der Freiheit mehr zu verlangen, als es die politische Theorie üblicherweise tut. Viele Gründe zur Vorfreude also, die die gewisse Enttäuschung des Rezensenten miterklären mögen.

Dies gilt nicht für den ersten Hauptteil, eine luzide historische Darstellung des Freiheitsbegriffs aus der Perspektive der eigenen Konzeption. Sie kann als ein eigenes wichtiges Buch gelesen werden und bestätigt die Einsicht, dass Philosophen die besten Philosophiehistoriker sind.

Systematische Konturen bekommt die Theorie im zweiten Teil, in dem Honneth sich der Rekonstruktion von Recht und Moral zuwendet. Beide sind für ihn negative Vehikel. Sie schaffen Räume, um bestehende soziale Praktiken zu schützen und zu überprüfen. Sie reichen jedoch nicht hin, um neue Formen der Vergemeinschaftung zu schaffen. Recht und Moral ermöglichen Freiheit, aber verwirklichen kann sie sich in ihnen nicht. Stärker wäre diese These geraten, hätte Honneth sie mit weniger Abneigung gegenüber Recht und Moral und mehr Interesse an Gegenpositionen formuliert. Ob Recht gar "Einstellungen und Verhaltenspraktiken fördert, die einer Ausübung der von ihm geschaffenen Freiheit gerade im Weg stehen", bleibt die Frage.

Zudem schneidet Honneth Recht (und Moral) mit dieser Konstruktion vollständig von den sozialen Zusammenhängen ab, denen sie entstammen. Sie werden so auch ihrer expressiven Bedeutung für eine Gemeinschaft beraubt: Dieser Bedeutung wegen heiraten auch solche Paare, die sich lieben, weil sie sich lieben. Ihretwegen sehnen sich Paare, die nicht heiraten dürfen, nach einer Anerkennung durch Recht.

Im dritten und längsten Teil des Buches stellt sich dieser Einwand umgekehrt: Ist es zwingend, das "Soziale" so affirmativ zu behandeln, wie Honneth es tut? Sein Verständnis sozialer Freiheit, in der sich die Subjekte wechselseitig anerkennen und die eigenen Handlungsvollzüge auch als Bedingung der Handlungsvollzüge anderer erkennen, ist rein normativ. Seine Kritik an der Zerstörung sozialer Beziehungen durch Recht und Moral setzt aber einfach die Realität sozialer Beziehungen mit dieser normativen Bestimmung gleich. Dass die Degeneration des Sozialen aus ihm selbst kommen kann, in Familien wie in Märkten, lässt sich mit Honneths Theorie schwerlich erklären. Niemand dürfte Honneths Lob der Liebe, der Familie oder der Freundschaft widersprechen wollen. Aber wie geht eine Theorie, die die Trennung von Sein und Sollen ablehnt, damit um, dass es um das Sein der favorisierten Institutionen nicht mehr gut bestellt ist?

Deutlich wird dieses Problem an seiner Rekonstruktion des Marktes. Wenn Honneth "nüchtern konstatiert", dass das Konsumverhalten im Kapitalismus kein "Baustein demokratischer Sittlichkeit" geworden ist, so ist dem wie vielem in einem an Pointen eher armen Buch schwer zu widersprechen - was aber bedeutet diese Negativbilanz für die eigene Theorie? Warum ist der Markt eine Institution der Wirklichkeit der Freiheit, obwohl Honneths Vorstellung davon, wie ein Markt funktionieren soll, jedenfalls aus sich heraus niemals wirklich geworden ist?

Etwas enttäuschend bleiben die langen Überlegungen zur Demokratietheorie. Sie bestehen zu größten Teilen aus einer Rekonstruktion der sozialen und politischen Geschichte Europas. Wer sich auskennt, dürfte hier wenig Neues finden. Die Rekonstruktion folgt dabei konsequent einem Schema, in dem das positiv konnotierte Soziale mit schlechten Institutionen konfrontiert wird, so, als hätten beide nichts miteinander zu tun. 1914 war "das Kaiserreich" in der Lage, "große Bevölkerungsteile für die politischen Kriegsziele zu mobilisieren". Nach 1933 wurde "die demokratische Mehrheit alsbald in die Schrecknisse eines von Deutschland ausgelösten Weltkrieges hineingezogen". Das Soziale in Form der Bevölkerung, scheint es, can do no wrong, es wird vom Staat verführt.

Unsere Gegenwart bewertet Honneth streng, ohne dass sich dies stets aus der normativen Rekonstruktion herleiten ließe: Die europäische Integration ist "gescheitert", die demokratische Öffentlichkeit in der Bundesrepublik weitgehend am Ende: "Während vor achtzig bis hundert Jahren aus der Öffentlichkeit heraus noch konkrete Vorgänge namhaft gemacht werden konnten, ... scheint sich heute eine solche Voreingenommenheit staatlichen Handelns zugunsten kapitalistischer Verwertungsbedingungen gänzlich dem öffentlichen Blick zu entziehen, weil die erforderlichen Rücksichtnahmen in den parlamentarischen Körperschaften entweder gar nicht mehr thematisiert oder im Ernstfall unter Verweis auf Sachzwänge gerechtfertigt werden." Besser als heute war es also zwischen 1911 und 1931 in Deutschland, als die Öffentlichkeit noch Bescheid wusste. Hier irritiert mehr noch als das schwer nachvollziehbare Urteil die fehlende Neugierde auf gewandelte Bedingungen demokratischer Deliberation.

Der Ertrag des Demokratiekapitels besteht in der systematischen Erarbeitung von Funktionsbedingungen demokratischer Öffentlichkeit: Neben rechtlichen Garantien und einem gemeinsamen Kommunikationsraum mit Massenmedien bedürfen sie auch eines uneigennützigen Engagements der Beteiligten, ja ihrer Bereitschaft, private Bedürfnisse hintanzustellen. Eine Integration der anderen Elemente wirklicher Freiheit in dieses Demokratiekonzept gibt es nicht, ihr Zusammenhang wird zum Schluss postuliert: "Die Gesellschaftsmitglieder sind umso gleichberechtigter, selbstbewusster und ungezwungener in die öffentliche Willensbildung einbezogen, je weiter die Verwirklichung von sozialer Freiheit in den persönlichen Beziehungen und im wirtschaftlichen Marktverkehr bereits fortgeschritten ist." Hatten die besten Demokraten wirklich immer die glücklichsten Beziehungen? Widersprüche als Treibstoff einer Entwicklung zur Freiheit finden sich in dieser harmonischen Konzeption nicht.

Hegels Theorie bezog ihre Stärke aus ihrer Distanz zu moralischen Urteilen, ihrem Interesse an Institutionen, ihrem geschichtsphilosophischen Drive und einem begriffsgeleiteten Gegenwartshunger, der uns heute bei Denkern wie Habermas und Luhmann fasziniert. Wer solches in diesem voluminösen Band sucht, wird zu selten fündig: Das "Recht der Freiheit" orientiert sich nicht an Hegels Philosophie des Rechts, sondern an Honneths berühmter, aber kaum weiterentwickelten Deutung der Theorie des Selbstbewusstseins in Hegels "Phänomenologie". Diese wird auf die Ebene der politischen Theorie verlagert: Politik als verallgemeinerte gelungene Zweierbeziehung scheint das Ideal. Gegenwartsanalysen gehen in langen historischen Rekonstruktionen unter. Drei defensive Seiten über das Internet und pauschale Bemerkungen zum Stand der europäischen Integration bestärken den Eindruck eines Werks, das zur Zeit nach 1989 wenig zu sagen hat. Hegel konnte im ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts seine Rekonstruktion an eine Institution knüpfen, die ihre besten Zeiten noch vor sich hatte, den Staat. Die von Honneth idealisierten sozialen Interaktionen werden dagegen in ihrem normativen Gehalt nicht historisiert.

Nach Hunderten von Seiten geschichtlicher Darstellung zu Familie, Markt und Staat bestätigt sich der Verdacht des Lesers, dass alles, was für Honneth an diesen Formen normativ gehaltvoll ist, seinerseits keinem Wandel zugänglich ist. Ob mit Hegel oder ohne: Das methodische Programm im ersten Satz dieses Buches lautete anders.

CHRISTOPH MÖLLERS.

Axel Honneth: "Das Recht der Freiheit". Grundriss einer demokratischen Sittlichkeit.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 628 S., geb., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Freiheit als Vertrautsein mit der Welt. So definiert Christian Schlüter Freiheit nach Beendigung der Lektüre dieser für ihn im besten Sinne streitbaren Arbeit von Axel Honneth. Dankbar ist Schlüter dem Autor nicht nur für die Vergegenwärtigung einer in Vergessenheit geratenen Bedeutung der Freiheit. Honneths triadisch, im Rückgriff auf Hegel konzipierte Abhandlung bietet ihm neben dem seiner Meinung nach am besten gelungenen, begriffgeschichtlichen Teil eine Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Freiheit sowie eine weniger stark erscheinende Auseinandersetzung mit ihren Wirklichkeiten (Liebe, Internet). In den Zwischenräumen von Anspruch und Wirklichkeit sieht Schlüter den Autor kritisch Fahrt aufnehmen und schließlich zur welthaltigen, zur sozialen Dimension der Freiheit vorstoßen. Für Schlüter eine willkommene Umkehrung neoliberaler Vorstellungen von Freiheit.

© Perlentaucher Medien GmbH
»Das Kunststück, dem angeblich preußischen Staatsphilosophen (Hegel) Grundlagen moderner Gesellschaftskritik zu entnehmen, ist Honneth ... überzeugend gelungen.« Ludwig Siep DIE ZEIT 20110818
»Ein eindrucksvoller Versuch, die individuelle Freiheit zur Richtschnur von Gerechtigkeit zu machen.«