Produktdetails
  • Collection Folio
  • Verlag: Gallimard / Import / Plon, P.
  • Erscheinungstermin: Januar 2001
  • Französisch
  • Abmessung: 175mm x 107mm x 23mm
  • Gewicht: 208g
  • ISBN-13: 9782070414109
  • ISBN-10: 2070414108
  • Artikelnr.: 29756013
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.08.2004

Vom Glück verfolgt
Eine schwärmerische Biographie Henri Cartier-Bressons
1994 hatte der Journalist Pierre Assouline den Photographen Henri Cartier-Bresson um ein Interview ersucht, das ihm verwehrt wurde. Zu einem lockeren Gespräch durfte er indes gern vorbeikommen. Die beiden trafen sich mehrmals, und Cartier-Bresson geriet in ein wildes Erzählen; zwischen ihnen entstand eine Freundschaft und aus den Gesprächsnotizen Assoulines wurde schließlich eine Biographie über einen der großen Photographen des 20. Jahrhunderts, der unter anderem als Porträtist großer Persönlichkeiten berühmt wurde, jedoch alle tätlich angriff, die ein Photo von ihm, Cartier-Bresson, machen wollten.
Kongenial ist die Biographie den Porträts des Cartier-Bresson nicht geraten. Sie eröffnet keinen Blick auf die Persönlichkeit des Photographen, noch weniger auf das Geheimnis seiner Kunst; es handelt sich eher um eine Ansammlung von Anekdoten, um eine schwärmerische Liebeserklärung an das Photogenie.
Cartier-Bresson stammte aus einer Industriellenfamilie, die mit der Verarbeitung von Baumwolle reich geworden war. Gleichwohl wusste der kleine Henri nichts von solchem Reichtum. Seine Familie lebte bescheiden, ja in puritanischer Sparsamkeit. Noch auf sein SOS-Telegramm aus Afrika, wo Henri Cartier-Bresson schwer erkrankt daniederlag und seine Stunde schon nahen fühlte, erhielt er von der Familie nur die lapidare Antwort, eine Überführung seiner Leiche sei zu kostspielig, er solle bitteschön selbst nach Frankreich kommen.
Im Mittelpunkt der Biographie steht die Frage, auf welchen Wegen Cartier-Bresson zur Photographie fand. Nach der Familientradition hätte er seinem Vater in der Leitung der Firma eigentlich nachfolgen sollen; nach drei gescheiterten Anläufen des Sohnes, Abitur zu machen, war daran nicht mehr zu denken. Der Sohn trat nach längerem Zögern in das Maler-Atelier des André Lhote ein. Bei ihm lernte Henri Cartier-Bresson – so Assouline – allerdings weniger das Malen als das Sehen, die Gesetze des Bildaufbaus. Zur Ausbildung Cartier-Bressons trug aber vielleicht noch stärker das pulsierende Leben im Paris der zwanziger Jahre bei, die Begegnung mit namhaften Künstlern wie Gertrude Stein (die dem jungen Mann den Rat gab, mit dem Malen aufzuhören und in das Familienunternehmen einzutreten) und vor allem mit dem Kreis der Surrealisten.
Auf der Jagd mit der Leica
Zum Entsetzen des Vaters wechselte Cartier-Bresson Ende der zwanziger Jahre von der Malerei zur Photographie, die sich als Kunst noch kaum etabliert hatte. Die Geburtsstunde des Photographen fällt nach Assouline ins Jahr 1932, als er sich seine erste Leica in Marseille kaufte. Von da an trug er die Leica stets mit sich, immer bereit, einen ausdrucksstarken Augenblick zu erhaschen, einen Schnappschuss zu machen. Die Kamera war für ihn eine Waffe, mit der er aggressiv auf die Jagd ging.
Trotz der Erfolge, die Cartier-Bresson schon in den dreißiger Jahren als Photograph, insbesondere in New York, feierte, entschied er sich innerlich immer noch nicht ganz für die Kunst der Photographie. Um Geld zu verdienen, betrieb er sie zwar weiter, aber eine Weile lang hielt er den Dokumentarfilm für die geeignetere Form des Ausdrucks. Anfang des Zweiten Weltkriegs wurde er als Photograph von der Armee rekrutiert, hielt typische Szenen der drôle de guerre fest, bis er kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Juni 1940 in Kriegsgefangenschaft geriet. Seine Leica hatte er vorsorglich in den Vogesen vergraben.
Auf die Jahre im Stalag, einem Kriegsgefangenenlager in der Nähe von Heidelberg, kommt Assouline immer wieder zu sprechen. Cartier-Bresson muss seinem Biographen aber offenbar nicht mehr als Andeutungen von schrecklichen Erfahrungen gemacht haben. Die Jahre bis zur Flucht im Februar 1943 bleiben eigenartig farblos, auch wenn Assouline sie zu dem Erweckungserlebnis des Photographen stilisiert: Hier soll Cartier-Bresson das kennen gelernt haben, was ihm später die Geheimnisse des Leidens überall erschließen sollte. Recht vage, ja widersprüchlich sind Assoulines Angaben über Cartier-Bressons Leben im besetzten Frankreich nach der Flucht: da ist einerseits von seinem gefährlichen Leben im Untergrund, von den Verstecken die Rede, andererseits von den langen Porträtsitzungen bei Henri Matisse, Pierre Bonnard oder Georges Braque, an denen ihn die deutsche Besatzung offenkundig nicht hinderte.
Was die Jahrzehnte zwischen 1945 und 1970, also die wichtigste Phase im Schaffen des Photographen, betrifft, so besteht die Biographie in nichts anderem als einer langen Abfolge von Reisen, Orten und Persönlichkeiten. Da, wo sich der Leser eine Analyse der Photokunst gewünscht hätte, steigert sich Assouline in begeisterte Beschreibungen der Bilder – von denen nicht ein einziges abgedruckt ist –, in die Beschwörung eines genialen, vom Glück verfolgten Menschen, womit er offenkundig alles für gesagt hält. Dies Manko der Biographie mag damit zusammenhängen, dass der Photograph sich stets über seine Kunst ausschwieg, dass das Auge des Jahrhunderts sich selbst nicht sehen wollte.
FRANZISKA MEIER
PIERRE ASSOULINE: Henri Cartier-Bresson. Das Auge des Jahrhunderts. Aus dem Französischen von Holger Fock, Sabine Müller und Jürgen Schröder, Verlag Steidl, Göttingen 2003, 368 S., 25 Euro.
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