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Der Knausgård des 18. Jahrhunderts - Rétif de la Bretonne. Reinhard Kaiser entdeckt für uns eines der schonungslosesten und großartigsten Memoirenwerke der Weltliteratur.
Es ist ein ungeheures Unterfangen, das Rétif de la Bretonne in der Vorrede seines Buches ankündigt: »Ich gehe daran, Ihnen hier das ganze Leben eines Ihrer Mitmenschen vorzulegen, ohne etwas zu verschleiern, weder von seinen Gedanken, noch von seinen Taten. Der Mensch, dessen Seele ich hier anatomieren werde, konnte allerdings kein anderer sein als ich selbst.«
Und er macht ernst - völlig ungeschminkt erzählt er alles,
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Produktbeschreibung
Der Knausgård des 18. Jahrhunderts - Rétif de la Bretonne. Reinhard Kaiser entdeckt für uns eines der schonungslosesten und großartigsten Memoirenwerke der Weltliteratur.

Es ist ein ungeheures Unterfangen, das Rétif de la Bretonne in der Vorrede seines Buches ankündigt: »Ich gehe daran, Ihnen hier das ganze Leben eines Ihrer Mitmenschen vorzulegen, ohne etwas zu verschleiern, weder von seinen Gedanken, noch von seinen Taten. Der Mensch, dessen Seele ich hier anatomieren werde, konnte allerdings kein anderer sein als ich selbst.«

Und er macht ernst - völlig ungeschminkt erzählt er alles, was ihn einst bewegte, alles, was er tat, und alles, was er dachte: Gutes wie Böses, Edles, Niederträchtiges, Verwerfliches, Peinliches, Obszönes, Widerliches, Naives, Lobenswertes. Alles.

Und er schreibt damit eines der schonungslosesten, aber auch großartigsten Memoirenwerke aller Zeiten, ebenbürtig einem Samuel Pepys, Jean-Jacques Rousseau oder Giacomo Casanova. Von der Jugend auf dem Land über die Zeit in der Klosterschule bis in die Zeit als Drucker und Schriftsteller in Paris, wo er zum berühmtesten Beobachter der niederen Stände wird. Unzähligen Frauen begegnet der leicht entflammbare und triebhafte Rétif auf seinem Weg, und auf alle möglichen Weisen versucht er sich ihnen zu nähern.

Er liefert ein ungemein reichhaltiges Zeitbild Frankreichs vor und während der Revolution - und eine Tiefenbohrung in die menschliche Psyche, wie es sie vorher noch nie gab und auch lange danach nicht mehr geben sollte.

Der Klassiker zum Buchmessengastland Frankreich!
Autorenporträt
Rétif de la Bretonne (1734 bis 1806) wuchs bei Auxerre in der Bourgogne auf und zog als Drucker und Autor nach Paris. Er verfasste ca. 200 Bücher, darunter viele Romane, Sozialutopien und lizenziöse Schriften. Seine Nuits de Paris gelten als eines der ersten großen Werke der Großstadtsoziologie. An Monsieur Nicolas arbeitete er über viele Jahre hinweg. Das Buch wucherte ihm ins Uferlose. Er starb verarmt und vereinsamt. Reinhard Kaiser lebt und arbeitet als Autor und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er schrieb eigene Sachbücher und Romane und entdeckte für Deutschland u.a. Nancy Mitford und Vivant Denon wieder. In spektakulären Ausgaben bringt er den Deutschen das Werk Grimmelshausens wieder näher. Zuletzt hat er aus Rétif de la Bretonnes Vielbändern 'Monsieur Nicolas' und 'Die Nächte von Paris' kluge Auswahlen getroffen und diese übersetzt - und sie damit erstmals in all ihrer literarischen Größe einem deutschen Publikum zugänglich gemacht. Reinhard Kaiser lebt und arbeitet als Autor und Übersetzer in Frankfurt am Main. Er schrieb eigene Sachbücher und Romane und entdeckte für Deutschland u.a. Nancy Mitford und Vivant Denon wieder. In spektakulären Ausgaben bringt er den Deutschen das Werk Grimmelshausens wieder näher. Zuletzt hat er aus Rétif de la Bretonnes Vielbändern 'Monsieur Nicolas' und 'Die Nächte von Paris' kluge Auswahlen getroffen und diese übersetzt - und sie damit erstmals in all ihrer literarischen Größe einem deutschen Publikum zugänglich gemacht.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.03.2018

Was ist das, Unmoral?
„Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz“ – In seinen Memoiren huldigte
der französische Autor Nicolas Edme Rétif de la Bretonne dem Ideal rückhaltloser Authentizität
VON FRITZ GÖTTLER
Das seltsame Buch hat Friedrich Schiller den „Monsieur Nicolas“ genannt, das Erinnerungsbuch des Rétif de la Bretonne. Sein Lebenswerk, coming of age in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Memoiren sind zum großen Teil Lausbubengeschichten, man hakt sich autobiografisch in der Jugend fest und bleibt dort hängen. Auch Rousseau ist das passiert, in seinen „Confessions“, die als Vorbild immer durchscheinen bei Rétif. Alles ist Abenteuer, Erregung, neue Erfahrungen auf allen Seiten. Und überall junge Frauen und Mädchen, die er haben will und die ihn haben wollen.
Das „seltsame Buch“ von Rétif de la Bretonne hat mit seiner Naivität und Sinnlichkeit in der deutschen Klassik, die manchmal eine Tendenz zur Stubengelehrtheit aufwies, kräftig eingeschlagen. Ein guilty pleasure: „Ich habe es nun gelesen, soweit es da ist“, schreibt Schiller am 2. Januar 1798 aus Jena an Goethe in Weimar, „und ungeachtet alles Widerwärtigen, Platten und Revoltanten mich sehr daran ergetzt. Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen … Mir, der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Buch … einen unschätzbaren Wert.“ Auch Wilhelm von Humboldt war fasziniert, er traf Rétif in Paris und rühmt eine „gutmütige Redlichkeit und ein unbeschreibliches Feuer“. Beide wünschen sich eine deutsche (wenigstens Partial-)Ausgabe. Die wurde aber erst jetzt vorgelegt, ausgewählt, übersetzt und diskret kommentiert von Reinhard Kaiser.
Nicolas Edme Rétif de la Bretonne war ein Vielschreiber, schon vor dem „Monsieur Nicolas“. Zwischen 1768 und 1791 brachte er fast jedes Jahr ein neues Buch heraus – Titel wie „Die tugendhafte Familie“, „Der Fuß der Fanchette“, „Der verführte Landmann oder Die Gefahren der Stadt“, „Der Pornograph“ (in dem es freilich um das Problem der Prostitution geht), „Zeitgenossinnen oder Die Abenteuer der schönsten Frauen der gegenwärtigen Jahre“. Von den Achtzigern des 18. Jahrhunderts bis zu seinem Tode arbeitete er dann an seinem „Monsieur Nicolas“, brachte es auf 5000 Seiten.
Geboren wurde er am 6. Februar 1734 in Sacy bei Auxerre, er starb am 23. Oktober 1806 in Paris. In der Jugend hat er Ziegen gehütet, kam dann ins Seminar, unter die Fuchtel seines strengen Bruders, es folgte die Gesellenzeit in diversen Druckereien, alles verbunden mit einer Menge amouröser Episoden, viel Sex und der überirdisch intensiven Liebe zur Frau seines Chefs. Vor der Französischen Revolution war er einer der wenigen Autoren, die vom Schreiben leben konnten, in der Revolution verlor er die Basis seines Lesepublikums. Er verarmt, heißt es im Nachwort von Reinhard Kaiser, schreibt „auf Papiere, die er auf der Straße zusammensucht und dann zu Hause trocknet“. Seine „Nuits de Paris“ sind eines der aufregendsten Zeugnisse zu den Tagen und Nächten der Revolution.
1790 kaufte er sich eine kleine eigene Druckerpresse und produzierte nun seine Bücher selbst. Der „Monsieur Nicolas“ ist als das Buch seines Lebens gedacht, sein ganzes Leben, absolut authentisch erzählt, die bäuerliche Welt, in der er aufwächst, die kleinbürgerliche, in die er hineinwächst, die Moral in den Zeiten des radikalen Umbruchs. Immer wieder wird, in Nebensätzen und Parenthesen, das Authentische, Wahre des Buchs propagiert. Die Authentizität eines Erzählers, schreibt Humboldt, der „Begebenheiten erdichtet und hernach steif und fest glaubt“.
Doch der große Wurf, die große Linie gelingt Rétif nicht. Sein Buch bleibt burlesk, episodisch, abrupt. Roland Barthes spricht in seiner Vorlesung „Die Vorbereitung des Romans“ von einem Typ des Schreibens, den er Lebensschrift nennt: „Das neue Prinzip, das diese neue Schrift ermöglicht = die Zerlegung, Fragmentierung, ja sogar Pulverisierung des Subjekts … Je mehr sich Leben und Schreiben fragmentieren (sich nicht fälschlich zu vereinen suchen), desto homogener ist jedes Fragment …“.
Im „Monsieur Nicolas“ erzählt kein Intellektueller, sondern ein Handwerker. Selbst Sex hat etwas Handwerkliches in den Episoden. Und er vollzieht sich oft in Teamarbeit von beiden Beteiligten. Die Schnitterin Nannette zum Beispiel, in einem Maultierstall: „Sie drückte mich an ihre Brust, die schönste, die ich bisher gesehen hatte. Heftig bewegt, erwiderte ich ihre Küsse. Eine wahre Liebeswut schien Nannette zu packen ... Sie wurde bleich, ihre Knie gaben nach; sie drückte mich an sich und stieß mich wieder zurück, wieder und wieder. Schließlich überkam sie ein solcher Sinnenrausch, dass sie genommen werden wollte, und sie tat, was dazu erforderlich war. Gleich einer zweiten Sappho half sie der Natur, ließ sie ihre Wirkung tun und löste in mir eine unbekannte Erschütterung aus.“
Eine Psychopathologie des Alltagslebens, besser: eine Soziophysiologie. Die Szene mit Nannette hat einen komischen Effekt, Nicolas erlebt seine Initiation und – es ist das Jahr 1745, Nicolas ist zehneinhalb Jahre alt – zeugt erstmals: „Ah, dieser Moment des ersten Zeugungsakts, ungeheuerlich! – ich fiel in Ohnmacht …! Als ich wieder zu mir kam, war ich mit Wasser übergossen …“. Schwankhafte Komik ist Teil der Authentizität in diesem Buch, sie erfasst auch seinen pädagogischen, aufklärerischen Impuls. Angesichts der skandalfreien Natürlichkeit und der leidenschaftlichen Frühreife in Sachen Sex kommt natürlich die Prostitution ganz schlecht weg. Unmoralisch, notiert Rétif quasi nebenbei, „ein neues Wort, das mir heutzutage von überallher entgegenschallt ... Aber ich muss wahrhaftig sein, sonst bin ich null und nichtig.“
Im 18. Jahrhundert war das autobiografische Erzählen noch einmal höchst erfolgreich, dann haben die Französische Revolution und die neue Bürgerlichkeit das ganze Genre demoliert. Das Individuum wird zur Diskussion gestellt, aufgebaut und auseinandergenommen in einer einzigen Bewegung. In der Auseinandersetzung mit der neuen Komplexität sucht Rétif immer wieder ein Retour zur Aufrichtigkeit. „In diesem robespierreistischen und puritanischen Zeitalter muss man bis zum Überdruss auf solche einfache Sachen beharren.“ Er will nicht in den Zirkeln der Reflexivität sich verrennen, sondern Spuren hinterlassen. Ein paar Jahre lang geht er auf die Brücken zur Île Saint-Louis, um in die steinernen Brückengeländer kleine private Graffiti einzuritzen. Kann man die verlorene Unschuld der Lebensgeschichten zurückgewinnen?
Dutzende von Kindern hat Nicolas in seinem Leben gezeugt, von den meisten erfährt er erst, als sie schon im Jugend- oder Erwachsenenalter sind. An manchen Tagen verlief die Produktion serienweise – zum Beispiel, weil ein Buch, das er las, nach wenigen Seiten ihn restlos befeuerte, dass er mehrere Frauen hintereinander beglückte. Ein Furor, ein „Angriff mit einer solchen Wut, dass sie vor lauter Schreck und Überraschung glaubte, ich sei verrückt geworden. Die nächste „war besiegt, ehe sie selbst so weit war“. Dann: „Ich nahm mir nicht mal die Zeit, die Tür zu schließen.“ Und sie schafft es nicht, ihm zu sagen, dass draußen vor dieser Tür ihre Schwester auf sie wartet. „So viel zur Wirkung von erotischer Lektüre. Aber ich kenne ein Buch, das noch viel gefährlicher ist als die oben genannten. Ich meine Justine – dieses Buch verführt zur Grausamkeit. Danton las darin, um sich zu erregen.“
Am Ende schreibt Rétif nicht nur, er produziert seine Bücher selbst, erledigt den Satz, die Korrekturen, den Druck, wird der totale Autor, der vollkommene literarische Produzent. Noch einmal Roland Barthes: „Ich stellte mir manchmal einen perversen Autor vor, der Werke nur geschrieben hätte, um das Recht zu erlangen, eines Tages seine Autobiografie zu schreiben.“
Rétif de la Bretonne: Monsieur Nicolas oder Das enthüllte Menschenherz. Ausgewählt, aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Reinhard Kaiser. Galiani Berlin Verlag, Köln 2017. 720 S., 38 Euro. E-Book 34 Euro.
In der Jugend hütete er Ziegen,
kam ins Seminar und stand
unter der Fuchtel seines Bruders
In die steinernen Geländer der
Brücke zur Île Saint-Louis ritzt
er kleine private Graffiti ein
Nicolas Edme Rétif de la Bretonne auf einem um 1785 entstandenen Porträt.

Fotos: imago/Leemage (oben), Verlag Galiani Berlin
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So radikal authentisch wie Karl Ove Knausgård war schon das 18. Jahrhundert. (...) Das Proletarische als das Ursprüngliche hat diesen Autor beseelt - und sein Projekt weit hinaus in die Moderne katapultiert. Und da ist er nun und kann wieder gelesen werden, vorurteilsfrei wie noch nie. (...) Glänzend ins Deutsche übersetzt, vorbildlich erschlossen, ausführlich annotiert. Durs Grünbein Die Zeit 20180201