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Die »Gespräche« voller bislang unveröffentlichter Anekdoten sind eine perfekte Einführung in das Werk des großen Regisseurs Luis Buñuel und die überraschende Fortsetzung seiner wunderbaren Autobiographie »Mein letzter Seufzer«.

Produktbeschreibung
Die »Gespräche« voller bislang unveröffentlichter Anekdoten sind eine perfekte Einführung in das Werk des großen Regisseurs Luis Buñuel und die überraschende Fortsetzung seiner wunderbaren Autobiographie »Mein letzter Seufzer«.
Autorenporträt
Jean-Claude Carrière, 1931 in Südfrankreich geboren, ist Drehbuchautor und Schriftsteller. Er arbeitete u.¿a. mit Jacques Tati, MiloS Forman, Volker Schlöndorff, Jean-Luc Godard, Peter Brook, vor allem aber mit Luis Buñuel, dessen Co-Autor er ab 1964 war. Für sein Lebenswerk bekam Carrière 2015 einen Ehren-Oscar.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.02.2018

Allerletzter Seufzer
Der Schriftsteller und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière lässt den Filmregisseur Luis Buñuel wieder auferstehen
Keine Zaubersprüche. Keine Geisterbeschwörung. So beginnt, ohne jeden erzählerischen Spuk, Jean-Claude Carrière, Schriftsteller und Drehbuchautor, die Geschichte seiner letzten Begegnung mit dem Filmemacher Luis Buñuel, mit dem er mehr als zehn Jahre zusammenarbeitete, vom „Tagebuch einer Kammerzofe“ (1964) bis „Dieses obskure Objekt der Begierde“ von 1977, dem letzten, sechs Jahre vor seinem Tod entstandenen Film Buñuels. „Ich wollte ganz einfach sehen. Sehen und verstehen.“ Also zieht Carrière eines Nachts zum Friedhof Montparnasse in Paris, um den toten Freund in seinem Sarg aufzuwecken.
Angeregt wird er dazu vom letzten Absatz in Buñuels Autobiografie „Mein letzter Seufzer“, 1980, der letzten Zusammenarbeit: „Trotz meines Hasses auf die Medien würde ich gern alle zehn Jahre von den Toten auferstehen, zu einem Kiosk gehen und mir ein paar Zeitungen kaufen. Mehr verlange ich gar nicht. Mit den Zeitungen unterm Arm würde ich, bleich die Mauern entlangschleichend, zum Friedhof zurückkehren und von den Katastrophen der Welt lesen, um dann im sicheren Schutz meines Grabes beruhigt wieder einzuschlafen.“
Carrière hat einen Packen Zeitungen und Illustrierte dabei, als er zu Buñuel in die Gruft steigt, und nach einigen Versuchen klappt die Erweckungsaktion. Später bringt Carrière einen Wein mit, den Buñuel in kleinen Schlucken probiert, einen Rioja, Marqués de Riscal. In einer Mischung von Konfusion und Klarsicht philosophieren die zwei Freunde ein paar Nächte vor sich hin, lukianische Dialoge, durch die immer auch Sokratisches schimmert.
Altes und Neues, Erzähltes und Erfundenes geht ineinander über, die Zeiten vermischen sich. Buñuel erfährt vom Zusammenbruch des Kommunismus, vom Ausbruch von Aids, vom Internet und von 9/11 und dass Catherine Deneuve und Jeanne Moreau, mit denen er gedreht hat, noch leben und arbeiten – Carrière hat das Buch 2011 geschrieben –, seine Freunde Paco Rabal und Fernando Rey aber gestorben sind. Er spekuliert über den Unterschied von Leben und Tod, Religion und Atheismus, den Trugschluss des Cogito ergo sum. Die Vernunft, sagt er, ist die erste Feindin der Wahrheit. „Das Denken ist ein Eisenbahnschaffner. Wenn wir das richtige Ticket haben, können wir weiterfahren.“
Als (immer noch) Anarchist und Toter ist dieser Buñuel die vollkommene Inkarnation des Surrealismus. Die beiden erinnern sich an den Mai ’68 in Paris, einen Spaziergang durch das Quartier Latin, der Rauch hängt noch in der Luft, ausgebrannte Autos zeugen vom Straßenkampf der vorigen Nacht. „Und Luis entdeckte gerührt die Parolen seiner eigenen Jugend an den Hauswänden: Alle Macht der Phantasie! Es ist verboten zu verbieten! Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!“
Seine Verachtung für die Menschheit ist nicht geringer geworden, angesichts dessen, was sie der Erde antut, von Luftverschmutzung, religiösem Fanatismus, Terrorismus. „Wir sind die Schande des Sonnensystems und träumen von nichts anderem, als uns im Weltraum breitzumachen. Wie Brombeergestrüpp, wie Blattläuse.“ Schon im „Letzten Seufzer“ gab es den Wunsch, die Menschheit könnte sich selbst ausrotten, wäre damit nur eine winzige Episode in der Naturgeschichte des Planeten. Nihilismus, kreativ. „Ich erinnere mich, wie schön das war, das Geräusch des Regens.“
Auch für alle Ästheten und ihr Gefasel von Kunst hat Buñuel nur Verachtung übrig: „Alles, nur nicht Kunst“. Als sein großartiger Kameramann Gabriel Figueroa ihm für „Nazarín“ eine perfekte Einstellung vorbereitet hatte, wunderbar kadriert mit Wolken am Himmel und im Hintergrund den Popocatépetl, drehte er die Kamera um neunzig Grad: „Da lang wird gedreht.“ Das Misstrauen gegen alles Artifizielle geht zusammen mit einem Sinn für boshafte Späße. Immer wieder hat er seinen Tod vorgespielt, zum Schrecken seiner Besucher, „ausgestreckt auf dem Boden, bewegungslos, einen Fuß noch auf einem Stuhl, die Augen verdreht …“.
Als „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert wurde, tauchten vier naive mexikanische Journalisten bei Buñuel und Carrière auf, die sich für ein neues Drehbuch in die Einsamkeit der spanischen Berge zurückgezogen hatten. „Luis, glaubst du, dass du den Oscar bekommen wirst?“ Buñuel ganz ungerührt: „Aber natürlich! Ich habe bereits fünfundzwanzigtausend Dollar gezahlt, und am Abend der Preisverleihung muss ich noch einmal fünfundzwanzig drauflegen … Die Amerikaner haben ihre Fehler, aber sie halten ihr Wort.“ Vier Tage später wird daraus eine Schlagzeile der mexikanischen Zeitung, es gibt Indignation bei der Academy in Hollywood, Serge Silberman, der treue Produzent Buñuels, ist not amused. Ernst ist Buñuel aber in allem, was seine Arbeit angeht, ein absoluter Professional, der sich für manche Exzesse seines Metiers geniert. In Mexiko musste er viele kleine Filmprojekte annehmen, um für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen, jeden dieser Jobs hat er sehr ernsthaft erledigt. Zugleich galt: „Was ich nicht für einen Dollar mache, das mache ich auch nicht für eine Million Dollar.“
Als Surrealist hat er seine ganz eigenen Vorstellungen von Fake News, vom Phantom der Wahrheit. „Die Wahrheit ist so schwer zu fassen wie ein Aal zwischen zwei glatten Steinen. Im Leben wie im Tod … Belassen wir’s dabei! Beachten wir sie nicht weiter! Ja (das sagte er schon zu seinen Lebzeiten), fliehen wir sie, verdrehen wir sie, vernebeln wir sie. Bis sie sich schließlich selbst nicht mehr kennt. Nieder mit der Wahrheit! Seien wir willkürlich und verlogen. Und Fälscher und Schwindler …“. Das Internet könnte da nur nützlich sein: „Stellen Sie sich vor: eine vollkommen falsche Welt! … Eine nicht greifbare, wegrutschende Welt. Nicht verifizierbar! Nicht zu begutachten! Out of focus!
Nicht verifizierbar ist in diesem Buch auch, wer in den einzelnen Passagen sprechen mag (oder seufzen), wer diesen imaginären Buñuel fabriziert hat. Buñuel/Carrière sind ein merkwürdiges Doppelwesen – zwischen dem Schreiber und dem großen Filmemacher besteht eine imaginäre Beziehung der Mimikry. Was die Fake News mit dem Oscar und den zweimal fünfundzwanzigtausend Dollar für „Der diskrete Charme der Bourgeoisie“ angeht – Buñuel hat natürlich gewonnen.
FRITZ GÖTTLER
Jean-Claude Carrière: Buñuels Erwachen. Aus dem Französischen von Uta Orluc unter Mitwirkung von Heribert Becker. Alexander-Verlag, Berlin 2017. 288 Seiten, 22,90 Euro.
Im Mai 1968 entdeckte Buñuel die
Parolen seiner eigenen Jugend an
den Pariser Hauswänden wieder
„Alles, nur keine Kunst.“ Für Ästheten hatte der Regisseur Luis Buñuel wenig übrig. Wenn er seine Kamera in Anschlag brachte, war mit ihm nicht zu spaßen. Manchmal, wie hier, griff er bei Dreharbeiten auch zum Gewehr.
Foto: SZ-Archiv
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