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Nicht immer wird ein Sprung aus dem Fenster zum Sprung in eine andere Welt. Aber als der junge, auf der Karriereleiter seiner Bank schon ziemlich hoch hinaufgelangte Patrick Elff nach einem Gespräch im Polizeipräsidium aus dem Fenster springt, ist das der Beginn einer gefährlichen Reise. Er hat betrogen, die Entdeckung steht bevor. Nun sucht er Hilfe bei einem mächtigen marokkanischen Finanzmann, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und flieht nach Mogador.
Doch auch in der Stadt an der marokkanischen Atlantikküste erweist sich das Untertauchen als schwierig. Um der Aufmerksamkeit der
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Produktbeschreibung
Nicht immer wird ein Sprung aus dem Fenster zum Sprung in eine andere Welt. Aber als der junge, auf der Karriereleiter seiner Bank schon ziemlich hoch hinaufgelangte Patrick Elff nach einem Gespräch im Polizeipräsidium aus dem Fenster springt, ist das der Beginn einer gefährlichen Reise. Er hat betrogen, die Entdeckung steht bevor. Nun sucht er Hilfe bei einem mächtigen marokkanischen Finanzmann, der ihm noch einen Gefallen schuldet, und flieht nach Mogador.

Doch auch in der Stadt an der marokkanischen Atlantikküste erweist sich das Untertauchen als schwierig. Um der Aufmerksamkeit der Polizei zu entgehen, mietet er sich nicht in einem Hotel, sondern im Haus der Patronin Khadija ein, einem Universum im kleinen, einer verborgenen Welt mit eigenen, weit jenseits des Normalen liegenden Gesetzen: Khadija ist Hure und Kupplerin, Geldverleiherin, Zauberin und Prophetin. Patrick, der sich selbst als einen erlebt, der mehr oder weniger unfreiwillig in seine Tat hineingeschliddert ist, stößt hier auf eine Frau, die mit ihrem Willen einen Kult bis zur Selbstvergötzung treibt. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit übertritt er die eben noch unverrückbar scheinenden Grenzen seines Lebens, sieht die Geisterwelt, lernt Schrecken kennen, die irdische Strafen übersteigen.
Mogador ist beides zugleich, Kriminalfall und Seelenreise, genaueste Wirklichkeitsbeobachtung und ins Dämonische ausschweifende Phantastik. Wie immer stehen Menschenschilderungen in der Mitte von Martin Mosebachs Erzählen: die unheimliche Khadija und ihr illoyales Faktotum Karim, der mächtige Monsieur Pereira und Patricks kühl ironische Ehefrau Pilar. Die Reise nach Mogador wird zum Traum, der Patrick Elff auf den Boden der Realität zurückführt.

Autorenporträt
Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Als opulent, aber auch überraschend und "selbstgenügsam" würdigt Judith von Sternburg Martin Mosebachs neuen Roman "Mogador". Gut, ein paar Stereotypen, auch Stammtischparolen in gediegenem Gewand muss die Kritikerin zwar überlesen, dann aber entfaltet sich ihr die ganze erzählerische Wucht Mosebachs, die sich hier insbesondere in feinsinnigen Spiegelepisoden zeigt. Dass der Autor etwa seinen trotz klassischer Bildung etwas tumben Finanzberater Patrick auf die aus prekären Verhältnissen stammende dämonische Analphabetin und Bordellbetreiberin Khadija treffen lässt, findet die Rezensentin ebenso "raffiniert" wie die zahlreichen Kamerabilder, die ihr wie ein "orientalisches Mäandern" erscheinen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.08.2016

Der Bettler als Amtsperson
In seinem neuen Roman „Mogador“ lässt Martin Mosebach einen Finanzjongleur nach Marokko
fliehen. Und in dem Prosaband „Das Leben ist kurz“ sammelt er Taubeneier und andere Bagatellen
VON BURKHARD MÜLLER
Der jähe Sturz von einer angesehenen Stellung hinab in die Tiefen von Unglück und Schande, teils durch eigene Schuld, teils durch die Verkettung der Umstände: Es ist ein altehrwürdiges Tragödienmotiv und kann auch noch dem zeitgenössischen Roman Schwung und emotionale Kraft verleihen. Dr. Patrick Elff, ein noch „junger Mann“ (etwa Ende dreißig) bekleidet eine leitende Stelle in einem Düsseldorfer Bankhaus und gerät, ohne es recht zu wollen, in einen Wust von Unterschlagung und Geldwäsche. Martin Mosebach malt genüsslich und sehr fein die Situationen solch unwiderstehlicher Verführung aus. Als Dr. Filter, Patricks farbloser und scheinbar völlig korrekter Mitarbeiter, sich erhängt hat und die Polizei mit gewissen Fragen an ihn herantritt, zieht Patrick es vor, sich durchs Fenster des Präsidiums davonzumachen und ungesäumt, mit nichts als dem Anzug und einigem Bargeld am Leib, das nächste Flugzeug nach Marokko zu besteigen.
  Er will nach Mogador, das dem Roman den Titel gibt. Mogador – was für ein Name! Er klingt wie eine dunkle Variation auf das nicht allzu weit entfernte Agadir. Mosebach ignoriert den modernen Namen der Stadt, der Essaouira lautet, und konzentriert sich auf die vor sich hinbröckelnde historische Altstadt. Mogador empfiehlt sich dem Flüchtling aus zwei Gründen: Erstens kann man an diesem zu großen Teilen analphabetischen Ort problemlos untertauchen. Und zweitens ist Mogador die Heimat des sinister eleganten Grandseigneurs Pereira, der einmal geruht hat, Patrick als Mittelsmann einer dubiosen Transaktion zu benutzen, und Patrick meint daher, bei ihm was gut zu haben.
  In Mogador kann Patrick nicht viel tun außer zu warten. „Wenn man in Marokko nicht die Geduld lernte, wo sonst?“ Dafür verwickelt er sich, obwohl er immer der Fremdling bleibt, allmählich in das schwer durchschaubare soziale Geflecht im riesigen verwinkelten Haus der Kupplerin, Geldverleiherin und Wahrsagerin Khadija, wo er ein Kämmerlein bewohnt. So entsteht ein fruchtbarer Zwiespalt aus Spannung und Stillstand, der es dem Autor erlaubt, in die Form des Romans Elemente des Reiseberichts einzukreuzen.
  Mosebach ist, wie man aus früheren Büchern weiß, ein ausgezeichneter Reisender. Ihm kommt dabei seine konservative Grundhaltung zugute. Der Konservative will, anders als der Reaktionär (mit dem er oft verwechselt wird), keineswegs das Rad der Geschichte zurückdrehen, ebenso wenig aber, nach Art der Revolutionäre und Reformer, es voranbringen. Stattdessen hält er die Welt, wie sie ist und sich ihm darbietet, als solche für des Hinsehens wert. Er als Einziger dreht nicht am Rad; und da erblickt er Dinge, die den anderen entgangen sind, also: etwas Neues.
  Marokko ist offenbar ein Land, das stark in seinen Traditionen wurzelt. Ein Reaktionär sähe hier vor allem mit kindlichem Entzücken die malerische Rückständigkeit, und ein Mensch des Fortschritts würde sich ereifern über Elend und Korruption. Mosebach hingegen macht anschaulich, dass hier ein System waltet, welches auf seine Weise nicht schlechter funktioniert als unseres auch. Natürlich ist Marokko ein Polizeistaat. Aber vom Staat erhält die Polizei nur einen Teil ihrer Besoldung, der Rest besteht aus mehr oder weniger freiwilligen Zahlungen der Bevölkerung an die einzelnen Beamten. Auf diese Weise werden sie „gebändigt durch die eigene Bestechlichkeit“.
  Das ist kostengünstig für den Fiskus, knüpft ein starkes persönliches Band zwischen Bürgern und Ordnungskräften und erzeugt in seinem heiklen Gleichgewicht aus Berechenbarkeit und Unberechenbarkeit genau jenes Feld, das die Macht braucht, um ihre Präsenz zu sichern.
  Das lebendigste Stück des Buchs bildet die Parade der Bettler von Mogador. Um sie auf sich wirken zu lassen, muss man sich freilich zuvor von der Ansicht verabschieden, das Bettelwesen sei ein die Gesellschaft beschämender Missstand: Ein Stand ist es vielmehr, das Wort im mittelalterlichen Sinn genommen, einer, der sich in der Vielfalt seiner Typen verwirklicht.
  Da gibt es den „Heiligen“, dessen Augen vor Freude aufleuchten, wenn ein Passant ihm eine kleine Münze überreicht. Da gibt es den „Seeräuber“, mit mehreren Mänteln übereinander quadratisch wie Heinrich der Achte, stürmisch und heftig in all seinen Aktionen, aber achtlos für das, was ihm gespendet wird. Da gibt es den „trunksüchtigen Philharmoniker“ mit gesträubter Mähne, der seine Münze einhebt wie einen Tribut, die gewesene Dame im schäbigen Pelz, lässig hingelehnt, auch wenn sie keine Beine mehr hat, und viele andere.
  Die Bettler sind als Gilde organisiert und haben in ihrem Auftreten etwas sehr Herrisches und Forderndes. Sie müssen ihren Schaden zeigen, sonst kriegen sie nichts. Um die Armen ist hier kein großer Glanz von innen wie bei Rilke, eher ein greller äußerer Schein. Viele Bettler sind auch Polizeispitzel. „Dass es Bettler geben muss, wo das Almosengeben zu den Hauptpflichten der Religion gehört, hatte einst auch für das Christentum gegolten. Almosen waren keine Sozialfürsorge, kein Beitrag zur öffentlichen Wohlfahrt, die verhindern musste, dass eine Schicht von Verelendeten entstand, die im demokratischen Staat gefährlich werden konnte. Ein Almosen war ein persönliches Geschenk an jemanden, der seine Bedürftigkeit behauptete, aber nicht zu beweisen hatte, denn das Almosen sollte das Herz des Spenders bessern und erst in zweiter Linie die Not des Bedürftigen lindern. In dieser Hinsicht waren die Bettler Amtspersonen des öffentlichen Kultes, Religionsbeamte.“ Und ist nicht tatsächlich der Zwang, seine Bedürftigkeit einer Bürokratie nachzuweisen, eine größere Demütigung, als wenn man sie einfach auf der Straße ausstellt?
  Der Roman enthält außer dem Schicksal des flüchtigen Patrick (mit dem es ein unerwartet gutes Ende nimmt) noch zwei Nebenhandlungen. Auf der einen Seite steht die Geschichte seiner Ehe mit der reichen argentinischen Erbin Pilar, bei der er sich als Parvenü immer ein wenig befangen fühlt. Dieser Strang löst sich zum Schluss etwas zu sehr in Wohlgefallen auf.
  Zum Glück aber spürt das Buch auf der anderen Seite der Biografie der Kupplerin Khadija nach, die aus ärmsten Verhältnissen stammt, zweimal verwitwet ist (in der Fischereistadt Mogador pflegen die Männer auf See zu sterben) und eine Spezialbeziehung zu einem pechschwarzen Dämon unterhält, welcher ihr Leben zum Guten wie zum Bösen lenkt. Das ist mit großer Einfühlung und, gerade in den bizarren Aspekten, ohne Vorurteil geschrieben. Aber solche Teilnahme verlässt doch die Warte des Beobachters, von der dieser Erzähler sonst so scharf auf das ihm Fremde sieht. Unter seinen Voraussetzungen bedeutet sie eine ästhetische Inkonsequenz. Er weiß hier mehr, als er je sehen könnte.
  Gleichzeitig mit diesem Roman erscheint ein zweites Buch von Mosebach, eine Sammlung von „Bagatellen“, wie der Untertitel allzu bescheiden verheißt, die zumeist schon einzeln veröffentlicht wurden und sich recht locker miteinander verbinden. Es geht um eine Gesangsprobe für den „Don Giovanni“, um den künstlerischen Wert eines Taubeneis, um den Pariser Starfriseur Alexandre. Einige dieser Texte treiben den Standpunkt des konservativen Erzählers auf die ironische Spitze. Man erlebt Harry Graf Kessler, den Chronisten der Belle Époque vor dem Ersten Weltkrieg, wie er an einem italienischen Golf eine leichte Mahlzeit zu sich nimmt. „,Bild ist Lüge‘, sagte der Ästhet, und seine Beherrschung gewann angesichts seiner unerfüllten Sehnsucht heroische Züge. Auf seiner Zunge breitete sich der ruhige Geschmack erwärmten Olivenöls aus, der abgerundet wurde durch das zarte Salz des darin erhitzten Schinkens und durch die geistvolle Salbei.“
  Die geistvolle Salbei – da spielt Mosebach ein gefährliches Spiel, denn der Leser wird geneigt sein, dies, statt für ein Zeichen der Distanz, für unmittelbaren Ausdruck des Autors zu halten, und dann kann die Sache leicht in unkontrollierbare Komik umschlagen. „Eine Übertreibung“ nennt Mosebach dieses Stück: aber wovon und wozu? Wenn Harry Graf Kessler heute nur noch für solche Wirkungen gut ist, warum sich mit ihm überhaupt befassen?
  Der Leser findet sich aber reich entschädigt dort, wo Mosebachs Leichtigkeit und Heiterkeit an ihrem Ort sind, nämlich wo er sich Gegenständen zuwendet, die geringes Gewicht zu haben scheinen und doch den vollen Ernst verdienen, dem Fahrrad zum Beispiel. Fahrräder werden bekanntlich gern gestohlen – dass dies tief in ihrem Wesen begründet liegt, darf man wohl als genuine Entdeckung des Autors werten, der behauptet, sie würden nur von dem wahrhaft besessen, der grade darauf sitzt. „Sie sind den Katzen vergleichbar; wer würde wagen zu behaupten, dass ihm eine Katze gehört, bloß weil er sie gekauft hat, sie ernährt, sie impfen lässt und die Wohnung mit ihr teilt?“
  In solchen scheinbar beiläufigen Sätzen gelingt es Mosebach, eine Haltung auf den Punkt zu bringen: Wer den Menschen, vor allem aber den Dingen höflicherweise seine volle Aufmerksamkeit zukehrt, dem gewähren sie überraschenden Einblick ins Herz der Welt.
Martin Mosebach: Mogador. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 367 Seiten, 22,95 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Martin Mosebach: Das Leben ist kurz. Zwölf Bagatellen. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016. 137 Seiten, 16,95 Euro. E-Book 14,99 Euro.
Die korrupten Polizisten von
Mogador werden „gebändigt
durch die eigene Bestechlichkeit“
Die Kupplerin Khadija unterhält
eine Spezialbeziehung zu einem
Dämon, der ihr Leben lenkt
„Ein kleiner Mann trat an ihn heran. Ob Monsieur schon ein Zimmer habe? Etwa eines suche? Nicht zu teuer?“ Straßenszene in Marokko.
Foto: Regina Schmeken
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.09.2016

Geld, Macht und Mystik

Augen auf: In seinem Roman "Mogador" schickt Martin Mosebach einen Finanzjongleur in die phantastische Szenerie Marokkos. Und eröffnet zugleich in seiner Bagatellensammlung "Das Leben ist kurz" eine Schule der Aufmerksamkeit.

Statistisch betrachtet währt das Leben viel länger als früher, trotzdem glauben viele Menschen, sie hätten keine Zeit. Der Philosoph Odo Marquard hat das auf das Missverhältnis zwischen Lebenskürze und Informationsbeschleunigung zurückgeführt und dagegen empfohlen, das Alte und Bewährte aufmerksam zu betrachten. Wie das geht, hat der begnadete Beschreibungskünstler Martin Mosebach immer wieder vorgeführt. Seine im Feuilleton einzeln publizierten Übertragungen der musikalischen Form der Bagatelle, also des kurzen Musikstücks, auf die Literatur, hat er mit einem augenzwinkernden Hinweis auf die Lebenskürze verbunden.

Denn das Leben besteht aus Augenblicken. Gerade die schönen und glückhaften aber wollen bekanntlich nicht verweilen, oft werden sie gar nicht bemerkt. Das allein rechtfertigt die Kunst. Bei Mosebach können scheinbare Nebensächlichkeiten ähnlich wie bei Proust zum Erlebnis werden. So wenn der Erzähler mit den Augen des Ästheten Harry Graf Kessler einem "Fräulein" zusieht, wie es Spaghetti auf den Teller gibt. "Der Augenblick stand bevor, in dem sie die silberne Zange ergreifen würde, um mit ihr in die dampfende Schüssel zu fahren, ineinander verschlungene Spaghetti daraus emporzuziehen, innezuhalten, damit die nicht ergriffenen sich lautlos lösten und in die Schüssel zurückglitten, die Zange mit dem Schlangenknäuel federnd zu heben und zu senken, um den Zustand, dass jede nicht gepackte Nudel nun abgefallen sei, zu konsolidieren, sie in kühner Linie dann von der Schüssel über seinen Teller zu schwingen und die nahrhafte, geballte Last dort abzusetzen, wo sie sich, vom Zugriff befreit, sofort wieder molluskenhaft ausbreiteten."

Zusammengestellt ergeben solche Kunststückchen eine kleine Schule der Aufmerksamkeit, deren Programm allerdings mit leichter Ironie verkündet wird: "Wir arbeiten ja nicht zum Vergnügen, sondern weil wir helfen, Augen öffnen, die Sinne weit machen wollen." Das geschieht aber durchaus. Nach der Lektüre wird der geneigte Leser sein eigenes Fahrrad mit anderen Augen betrachten, sofern es sich tatsächlich noch an dem Laternenpfahl befindet, an den man es angeschlossen hat.

Die Maxime der Augenöffnung taugt auch zur Vorbereitung auf Mosebachs neuen Roman. Darin geht es allerdings zunächst um Aktuelles, nämlich um die Frage, was diese jungen, alerten Finanzjongleure in ihren eng geschnittenen Anzügen antreibt. Der erfahrene Leser Mosebachs wird nicht erwarten, dass das einsinnig auf triviale Geldgier oder fehlende Moral zurückgeführt wird. Patrick Elff ist vielmehr ein durchaus sympathischer Held, der eine untypische Karriere durchlaufen hat. Er ist promovierter Philologe, eine akademische Karriere hätte ihm offengestanden. Er hat sich aber für eine Unternehmensberatung entschieden, von wo aus er zu einer renommierten Düsseldorfer Bank wechselte und zügig in die mittlere Führungsetage aufgestiegen ist.

Für Geld hat er sich nie besonders interessiert, obwohl er die damit verbundenen Annehmlichkeiten schätzen gelernt hat. Seine Karriereentscheidung scheint eher mit seiner ebenfalls sehr sympathisch gezeichneten Frau Pilar zu tun zu haben, obwohl sie seinen Ehrgeiz in keiner Weise anstachelt. Während jedoch er aus kleinen, aber gesicherten Verhältnissen stammt, entstammt sie einer mit altem Geld gesegneten großbürgerlichen Familie. Als Immobilienmaklerin arbeitet sie aus freien Stücken, vielleicht gerade deshalb mit Erfolg. Für ihren Vater ist Patrick aber ein Parvenü. Insgeheim vermutet Patrick, dass auch Pilar so denkt, obwohl es in der Ehe befriedigend, gleichberechtigt und freundschaftlich zugeht. Sein geisteswissenschaftliches Interesse reduziert sich derweil darauf, dass er Bücher aus dem Antiquariatskatalog nur noch bestellt, aber nicht mehr liest.

Zwei Ereignisse verwickeln Patrick in dubiose Finanzgeschäfte seiner Bank, deren Konstruktion er bereits zu durchschauen begonnen hatte, womöglich aufgrund seiner geisteswissenschaftlich geschulten Deutungsfähigkeit. Er wird zur Betreuung des marokkanischen Geschäftsmanns Pereira abgestellt, der ihm bei einem Abendessen in Paris durch sein kultiviertes Charisma derart imponiert, dass er die Abwicklung eines Geschäfts mit der Ukraine, bei der Korruption im Spiel ist, wie selbstverständlich übernimmt und erledigt. Brisant wird es, als einer seiner Untergebenen, der unscheinbar wirkende, stets nach Leberwurst riechende Buchhaltertyp Dr. Filter erhängt aufgefunden wird. Auf seinem Konto werden Summen gefunden, die in keinem Verhältnis zu seinem Einkommen stehen.

Patrick wird als Vorgesetzter, nicht als Beschuldigter ins Polizeipräsidium bestellt, doch die Medien sind schon hinter ihm her. Kurz entschlossen entwischt er mit einem Sprung aus dem Fenster und nimmt das nächste Flugzeug nach Marokko. In der Zeitung, in der er sonst nur die Finanzdaten überfliegt, liest er, kopfschüttelnd über die Dummheit der Macht, den Bericht über die unwürdige Verhaftung eines prospektiven Präsidentschaftskandidaten wegen Vergewaltigung eines Dienstmädchens im Hotel. Das verweist nur leicht verschlüsselt auf die Affäre um Dominique Strauss-Kahn, auf die der Roman mehrfach anspielt. Patrick landet in Essaouira, das bei Mosebach den alten portugiesischen Namen Mogador trägt, womit die vielfältige Kulturgeschichte aufgerufen wird. Auch Monsieur Pereira hat portugiesische Wurzeln und stammt aus Mogador, wo er gelegentlich im gleichnamigen Luxushotel residiert.

Der Leser trifft Patrick am Anfang des Romans in einem Dampfbad an, in dem er sich von "Wasser und Feuer und rabiater Abreibung" eine "Neuschaffung seiner Person" erhofft. Der merkwürdige Karim, ein Mann mit kindlichem Körper und großem Kopf, verschafft ihm ein Zimmer im Haus der geheimnisvollen Khadija, deren Faktotum er zu sein scheint. Sie hat offenbar magische Fähigkeiten und betreibt verschiedene Geschäfte. Sie verdient an der wundertätigen Weisheit eines uralten Imams, legt Karten, verleiht Geld und ist auch Hure und Kupplerin.

Ihr Einfluss in Mogador reicht bis in die höheren Polizei- und Amtskreise. Den Namen eines ratsuchenden Libyers, Mustafa, errät sie sofort, bei Patrick hat sie Schwierigkeiten. Dass es auf Paris hinausläuft, reicht aber, um ihn zu beeindrucken, der fortan Monsieur Paris heißen wird. Der versucht zunehmend verzweifelt Monsieur Pereira zu erreichen, von dem er sich Rettung aus seiner Lage verspricht. Dessen Eintreffen wird, wie Patrick sorgenvoll aus den Zeitungen erfährt, von der Affäre des von ihm verachteten, der Vergewaltigung beschuldigten Politikers verzögert. Schließlich schreibt er Pereira einen Brief, der sich als ungeschickt herausstellen wird.

Bis dahin wird die marokkanische Szenerie aus dem Blickwinkel des Fremden erzählt, der sich in dem Haus auch befremdet fühlt. Das Sitzen auf dem Boden fällt ihm so schwer wie das Essen ohne Messer und Gabel. Auch bei Khadijas Anblick, dem Finsteren an ihr, das um ihre Nasenwurzel herum erscheint, ist ihm nicht wohl. Dann aber gibt Mosebachs Erzähler der Geschichte eine überraschende und beinahe vermessene Wendung. Er erzählt die Lebensgeschichte Khadijas von ihrer Kindheit an bis in die Aktualität des Erzählten aus einer Innenperspektive. Diese Geschichte könnte sie theoretisch selbst erzählen, denn "alle wichtigen Schritte in der Entwicklung ihrer Persönlichkeit stehen und standen ihr deutlich vor Augen - nie hat sie sich etwas vorgemacht, nie etwas weggedrängt oder frisiert, was schmerzhaft oder peinlich war -, und dennoch wurde nichts davon erzählt, weil es nicht erzählt werden durfte." Die Erzählung ihrer Geschichte wäre folglich eine Art Verrat, wenn es die Paradoxie des erinnernden Erzählens nicht gäbe. So fordert der Erzähler von Khadijas Geschichte den Leser von vornherein zur Skepsis auf. "Im Erzählen verwandeln sich die Erinnerungen; je unterhaltsamer sie sich anhören, desto weniger ist ihnen zu trauen."

Der Leser aber findet es gleichwohl glaubhaft, dass der Schlüssel zu Khadijas Macht schon in einem Augenblick ihrer familienlosen Kindheit zustande kam als sie über das Meer blickend, vermeinte, die Sonne mit der Kraft ihrer Gedanken für einen Augenblick am Sinken zu hindern. In einer entsetzlichen Szene am Ofen des Badehauses, in dem ihr Stiefvater arbeitete, wie sie Poe nicht besser hätte beschreiben können, kommt es dann zu einem Pakt mit dem Feuer und zugleich dem Dämon, der sie fortan mit vermeintlichen Zufällen fördern wird, ohne dass sie ihn herbeirufen müsste.

Khadijas Geschichte gestaltet Mosebach zum farbigen Bild der marokkanischen Kultur, realistisch im beschriebenen Detail und doch märchenhaft wie die 1001 Nächte, phantastisch und unheimlich und ungeheuer spannend. Das ist kein orientalistisches Schwelgen oder Anbiedern an die maghrebinische Kultur, der Eindruck der überwältigenden Fülle entspringt vor allem den meisterlichen Beschreibungen des Sichtbaren auch da, wo das Übersinnliche ins Spiel kommt. Mosebach erzählt Khadijas Geschichte an ihrer Stelle, aber er verleugnet in Kommentaren, Deutungen und Vergleichen nicht seine westliche Herkunft und in Sprache und Stil auch nicht seine Bildung. Daran ist dennoch nichts arrogant, vielmehr bestechen die Deutungen des Erzählers durch Vorbehaltlosigkeit und den Willen, in der Ordnung Mogadors den Sinn zu erkennen. Die Korruption der Amtsträger, die Doppelmoral der Gläubigen, die Prostitution, das Bettelwesen und der Aberglaube: Alles hat in dieser Geschichte seinen Platz in der Verfassung der beschriebenen Kultur.

Das Raffinierte dabei ist, dass dem Leser diese Kultur zunehmend so fremd und anders gar nicht vorkommen will. Wie unwillkürlich stellen sich Spiegelungen ein. Das widerfährt auch Patrick, der nicht nur über seine Gemeinplätze ins Sinnieren gerät, sondern in der Gesellschaft von Khadijas Hausgemeinschaft und im Gespräch mit Karim auch seine vermeintlichen Gewissheiten über sein Leben, seinen Beruf und seine Ehe in einem anderen Licht zu sehen beginnt. So fällt ihm auch ein, dass gerade den jungen Finanzjongleuren der Aberglaube nicht fern ist, manch einer trägt einen Talisman mit sich herum, und viele glauben an glückliche Fügung, bevor sie dann scheitern. Patricks Nachname steht in der Zahlenmystik für die Überschreitung des Gesetzes.

Schließlich ereignet sich eine weitere Spiegelung. In Khadijas Abwesenheit gerät Patrick, nachdem er mit Karim zu viel getrunken hat, mit einem der Mädchen des Hauses in eine Situation, die ihn in die Lage jenes der Vergewaltigung bezichtigten Präsidentschaftskandidaten zu bringen droht, nachdem er zuvor geglaubt hatte, gegen dergleichen gefeit zu sein. In Panik verlässt er das Haus und Mogador und begibt sich zum Flughafen. Nach Khadijas Rückkehr taucht prompt die Polizei auf, um Patrick Elff festzunehmen. Wie sich herausstellt auf Geheiß eines großen Mannes, also inoffiziell, deshalb umso brisanter. Dagegen ist auch Khadija machtlos, sie kann nur darauf beharren, der Mann, der bei ihr gewohnt habe, habe Monsieur Paris geheißen.

In Düsseldorf wird Patrick schon erwartet. Ob als Schuldiger oder nicht, verrät der Erzähler nicht. Bei Khadija scheint derweil einiges außer Proportion geraten zu sein, was sie sonst so souverän zu kontrollieren imstande gewesen war. "Welchen Bösewicht hatte sie beherbergt? Jetzt wollte sie von Anfang an gewusst haben, daß er Unheil ins Haus bringe." Dem Kommandanten will Monsieur Paris angesichts der Vorwürfe, die ihn erwarten, gar als "Satan" erscheinen. Was die Hausherrin weiß, verschweigt sie: "auch eine Khadija lebte am sichersten, solange sie sich unter dem Staat hindurchbewegte. Nicht nur Monsieur Paris, auch sie war noch einmal davongekommen." Als sie dann aber feststellt, dass auch Karim sich davon gemacht hat, stellt sich ein ungekannter Schmerz ein. Dabei war Einsamkeit immer ihre Stärke gewesen. Ihr hilft, was von je geholfen hat, die Beziehung zum Feuer. Sie wird von einer Wärme durchglüht, die in der Formulierung des Erzählers eine Erfahrung darstellt, die Patrick Elff ohne es zu wissen, in seinem ersten Dampfbad gemacht hatte. So kommen zuletzt die beiden Protagonisten des Romans in rätselhafter Affinität zusammen.

Mit "Mogador" hat sich Martin Mosebach stilistisch glanzvoll, intelligent und überaus unterhaltsam über Gebote der modernen Erzähltheorie und in der eigenartigen Symbiose des Eigenen mit dem Fremden auch über postkoloniale Dogmen hinweggesetzt und den phantastischen Realismus meisterlich neu erfunden.

FRIEDMAR APEL

Martin Mosebach:

"Mogador". Roman.

Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016, 368 S., geb., 22,95 [Euro].

Martin Mosebach:

"Das Leben ist kurz".

Zwölf Bagatellen.

Rowohlt Verlag,

Reinbek bei Hamburg 2016, 160 S., geb. 16,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Virtuos inszeniert Martin Mosebach den Zusammenprall der Welten. ... So klug, so kenntnisreich und anschaulich wurde in der deutschen Gegenwartsliteratur lange nicht mehr über die arabische Welt geschrieben. Also, lesen Sie Mogador! Dennis Scheck ARD "Druckfrisch"