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Mehrfach und ganz genau hinzusehen - dazu laden uns die großen Fotos und die großen Gedichte ein. Für beide waren Beobachtungskünstler und Begünstigte nötig, die den glücklichen Augenblick zu nutzen wussten und ahnten, welches Motiv die Wahl rechtfertigen würde. Der vielfach ausgezeichnete Lyriker und Übersetzer Jan Wagner beschreibt anhand von zahlreichen Beispielen Unterschiede und Gemeinsamkeiten.

Produktbeschreibung
Mehrfach und ganz genau hinzusehen - dazu laden uns die großen Fotos und die großen Gedichte ein. Für beide waren Beobachtungskünstler und Begünstigte nötig, die den glücklichen Augenblick zu nutzen wussten und ahnten, welches Motiv die Wahl rechtfertigen würde. Der vielfach ausgezeichnete Lyriker und Übersetzer Jan Wagner beschreibt anhand von zahlreichen Beispielen Unterschiede und Gemeinsamkeiten.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2021

Am Beispiel des Fisches
Jedes Ding trägt eine ganze Welt in sich: Die Prosa von Jan Wagner dreht sich um die Wiederverzauberung
Georg Büchner verbrachte 1835 in Straßburg viel Zeit mit dem Sezieren von Fischen für seine Doktorarbeit: „Hechte, Barsche, Maifische, Lachse und Frösche, vor allem aber die Flussbarbe, jener Karpfenfisch mit den markanten Barteln“ landeten unter sein Skalpell. In seiner Dankesrede für den Georg-Büchner-Preis vermutete Jan Wagner 2017 deshalb: Büchner muss wahnsinnig nach Fisch gestunken haben.
In dem Bild des sezierenden Schriftstellers geht es genauso um Jan Wagner selbst, in dessen Gedichten das Sinnliche und Organische mit dem Literarischen oft so überblendet wird, wie das Skalpell und die Feder in der Hand Büchners. Man könnte eine Poetik Jan Wagners am Beispiel des Fisches schreiben, der eines der Leitmotive in seinem Werk ist, und schon im ersten Band „Probebohrung im Himmel“ von 2001 auftaucht, schlecht getarnt als „fish & chips“.
Es folgten Gedichte über Karpfen, Austern und andere Meeres- und Wasserbewohner, die als Stillleben zwischen den Werken über Tomaten und Champignons zum Lesen wie zum Verzehr bereitliegen. Andere Gedichte über Tomaten und Haikus über Teebeutel haben Wagner mitunter neidischen Spott eingebracht. Der Verdacht des braven Schwiegersohns stand im Raum, gar von Langeweile sprach mancher, und dass dieser Dichter nicht politisch sei.
Natürlich ist kein Künstler zur politischen Äußerung verpflichtet. Aber manchmal versteckt sich das Politische auch gut, wie Wagner ebenfalls in seiner Rede zum Büchner-Preis andeutet, wenn es mit einem Mal nicht mehr weit ist vom Skalpell und der Schreibfeder zu den Rückenmarksnerven, die während der Französischen Revolution von der Guillotine durchtrennt wurden und nicht zuletzt zu „Dantons Tod“ führten. „Die Köpfe in den Körben auf der Place de la Concorde mögen ein letztes Mal so erstaunt geguckt haben wie die Barben in den Netzen der Fischer von Straßburg und in den Sezierwannen Georg Büchners.“ Auch das Morbide und fast Zynische ist dem Schwiegersohn Jan Wagner, anders als man von den Gedichten ausgehend vermutet, in seinen Prosatexten nicht fremd.
Die Rede zum Büchner-Preis ist Teil des zweiten Essaybands von Jan Wagner mit dem Titel „Der glückliche Augenblick. Beiläufige Prosa“, wobei die enthaltenen Texte alles andere als beiläufig und schon gar nicht prosaisch sind. Es geht um Poetiken und andere Dichter, um das Reisen und eine Verortung der Dichtung, die sich am besten entfaltet, wenn man nebenher auch die entsprechenden Gedichte liest.
Wenn es eine Poetik Wagners gibt, die sich offenbart zwischen Prosa und Poesie, zwischen offener und gebundener Sprache, dann ist es, neben den allgegenwärtigen Fischen, eine Poetik des heiteren Tons. Wagners Prosa zeichnet sich noch mehr als seine Gedichte durch eine ansteckende Euphorie aus, die selbst im Kleinsten ein Wunder entdecken kann. Alles kann überhöht werden, von der Tomate bis zu den Quitten in Friedrich Hölderlins Turmgarten, und natürlich trägt jeder noch so banale Gegenstand eine Teilerklärung der Welt in sich.
„Es war ein Glück, dass die Turmhüterin, die bei einem Besuch vor einigen Jahren Dienst tat, nicht nur einen Teller mit Früchten bereitgestellt hatte, die Hölderlins Zimmer im ersten Stock mit ihrem Duft erfüllten, sondern auch so freundlich war, mich eine dieser prachtvollen Tübinger Scardanelliquitten pflücken zu lassen, die mich dann auf der langen Fahrt zurück nach Berlin begleitete und berauschte.“ Diese duftende Quitte wurde im Anschluss natürlich nicht nur „mit einem Klacks Mascarpone verspeist“, sondern führte bis dahin auch mittenhinein in das Werk Hölderlins, ins antike Griechenland und von dort wieder zurück nach Tübingen.
Man versteht, dass dieser Ton, diese Verschränkung von Genuss und Geist, misstrauisch machen kann. Literatur ist bei Wagner aber vor allem dazu da zu gefallen, vielleicht sogar zu schmecken, nicht um irgendwelchen Trends nachzueifern. Selbstverständlich handeln die Bamberger Poetikvorlesungen, die einen großen Teil des Bandes einnehmen, deshalb von Dylan Thomas, Inger Christensen und Eugenio Montale, nicht etwa von Amanda Gorman oder Louise Glück. (Obwohl man auch gerne wüsste, was Wagner über diese Dichterinnen zu sagen hätte.) Im Reisebericht aus Vietnam, verfasst für das Goetheinstitut, ist auch Platz für ein Kapitel, das nur aus einer Liste mit witzigen Dingen besteht, die Vietnamesen auf ihren Motorrollern transportieren, darunter „Erdnüsse von drei Plantagen; ein Aquarium (samt Fischen); Zementsäcke“.
Wagners Texte zeichnen sich durch eine menschliche und hermeneutische Großzügigkeit seinen Gegenständen und anderen Autoren gegenüber aus. Der Witz legt keine immunisierende Ironie um den Autor und sein Werk, sondern darf auch mal einfach nur witzig sein. Dieser unheimlich nette Ton nervt fast nie, wird selten seicht und funktioniert selbst noch in den Nachrufen auf die Dichterkollegen Matthew Sweeney und John Ashbery, ohne je respektlos zu werden.
Sogar der Schauer bekommt bei Wagner, wie es ja auch im guten Horrorfilm der Fall ist, etwas Genussvolles, das nur manchmal ganz leicht, vielleicht auch kalkuliert, über sein Ziel hinausschießt. Letztlich ist es ja eine verborgene Wahrheit, die kurz aufscheint, in dem titelgebenden glücklichen Augenblick, den ein Gedicht wie eine Fotografie im besten Fall festzuhalten gelingt. Es ist laut Wagner dann zugleich Rausch und unerwartet klare Einsicht.
Jan Wagner lobt in seinen Texten die altmodischen, gebundenen Formen wie das Sonett, denn gerade diese Strenge verleihe auch eine gewisse Freiheit. Nun sind diese hier versammelten Texte aber eben nicht, wie die Zusammenstellung des Bandes suggeriert, einfach so entstanden, gänzlich frei, sondern stets zu besonderen Anlässen: Geburtstage, Reisen, Vorträge und Tode. Sucht Wagner auch in der freien Form der Prosa die Bande, den Anlass, der doch noch rechtfertigt, was da steht und wie es da steht, wenn schon keine Debatte den Rahmen liefert?
Man versteht die selbst auferlegten Einschränkungen, und doch ist es das Einzige, was man sich von Jan Wagner nach dieser so kundigen wie sympathischen Reise durch die Welt und die Lyrik wünschen möchte: Die Prosa öfter so anlasslos entstehen zu lassen wie seine Gedichte und die Poetikvorlesungen. Denn auch sie braucht keine Rechtfertigung, keinen Anlass. Sie genügt sich selbst.
NICOLAS FREUND
Wagners Texte zeichnet
ihre Großzügigkeit gegenüber
Dingen und Autoren aus
Jan Wagner: Der glückliche Augenblick.
Beiläufige Prosa.
Hanser Berlin 2021.
304 Seiten, 25 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2021

Mond über Isfahan
FRANKFURT Jan Wagner mit Essays "Der glückliche Augenblick" im Literaturhaus

Ein kurzes Vergnügen, aber ein Vergnügen. Schon nach einer Stunde gingen der Moderatorin Beate Tröger die Ideen und Fragen aus. Aber davor war Essayistik vom Feinsten zu hören im Frankfurter Literaturhaus. Büchner-Preisträger Jan Wagner trug Passagen aus seinem jüngsten Essayband unter dem Titel "Der glückliche Augenblick" vor.

Es sind darunter Postkartentexte, die nie abgeschickt wurden, weil sie zu lang für eine Postkarte sind, Gedanken zu John Keats' romantischem Langgedicht "Endymion", eine Ghasele über die christlich-islamische Legende der Siebenschläfer von Ephesus, die auch Goethe ins "Buch des Paradieses" seines "West-östlichen Divans" aufgenommen hatte. Von seiner "Dreifelderwirtschaft" aus Dichten, Übersetzen und Essays Schreiben hatte Wagner mit seinem angelsächsisch-keltischen Faible zwei Felder fruchtbringend bestellt.

Mit Keats und seinem Hauchlaut am Anfang und Ende des ersten "Endymion"-Verses frönt Wagner dem Visuellen, wie Tröger feststellte, die es auf die Sinne abgesehen hatte. "A thing of beauty is a joy for ever ..." - das klingt zwar nicht mehr so abstrakt wie die erste Fassung mit "a constant joy", aber so richtig sichtbar wurde der Vers erst, als Wagner auf das gehauchte "e-Schwa" aus der Phonetik und Phonologie zu sprechen kam, das aussehe wie ein Käfer auf dem Rücken. Ein eher unschöner Anblick. Schöner, nein hübscher ist da schon das raffinierte Zuckerwerk auf den Hochzeitstorten in Iran, wo der Dichter gemeinsam mit Martin Mosebach und Nora Bossong auf Einladung von Navid Kermani dem "Kult der überirdischen Süße" erlag. So steht das auf einer "Postkarte" aus dem mondbeschienenen Isfahan.

Nun zum Olfaktorischen: zum Earl Grey, der dem Passagier in Heathrow alle Türen öffnete, als er nicht mehr zu seinem Gate zurückfand, weil der Flughafenzug nur in eine Richtung fuhr. "O Albion!" Oder zum französischen "Käseballett" - an welchem Flughafen war das doch gleich? Berlin-Tegel? In einem Text über Hölderlin preist Wagner die Quitte, die in dem Garten des berüchtigten Tübinger Turms wuchs, als der Weitgereiste auch dem Standort des deutschen Hymnikers seine Aufwartung machte. "Man muss sich bemühen um die Quitte", so Wagner, der auch schon in die Annalen des Nature writing eingegangen ist. Nicht zuletzt mit seinem Gedicht über die "Quittenpastete". Kein Wunder, dass er auch seiner großen dänischen Vorgängerin Inger Christensen Reverenz erweist, schließlich hat sie ihr "Alphabet"-Langgedicht mit Aprikosenbäumen begonnen. Vom "Schmetterlingstal" gar nicht zu reden.

CLAUDIA SCHÜLKE.

IM LITERATURHAUS steht als Nächste am Montag, 13. September, um 19.30 Uhr Antje Rávik Strubel auf dem Programm. Sie liest aus ihrem Roman "Die Liebe in Europa".

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