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Wegschauen funktioniert nicht mehr, zumindest nicht in Syrien. Das Land hat sich zum Schlachtfeld regionaler und internationaler Interessen entwickelt. Die Menschen vor Ort werden im Stich gelassen - politisch, militärisch und humanitär. Und es ist kein Ende in Sicht. Das rächt sich: Hunderttausende suchen Schutz in Europa - Sunniten, Alawiten, Christen, Kurden. Vor allem kommen sie nach Deutschland.
Die Zeit der Kuscheltiere am Bahnhof ist vorbei. Niemand klatscht mehr, wenn Geflüchtete aus dem Zug steigen. Was muss jetzt getan werden, damit die syrische Katastrophe nicht zu einer
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Produktbeschreibung
Wegschauen funktioniert nicht mehr, zumindest nicht in Syrien. Das Land hat sich zum Schlachtfeld regionaler und internationaler Interessen entwickelt. Die Menschen vor Ort werden im Stich gelassen - politisch, militärisch und humanitär. Und es ist kein Ende in Sicht. Das rächt sich: Hunderttausende suchen Schutz in Europa - Sunniten, Alawiten, Christen, Kurden. Vor allem kommen sie nach Deutschland.

Die Zeit der Kuscheltiere am Bahnhof ist vorbei. Niemand klatscht mehr, wenn Geflüchtete aus dem Zug steigen. Was muss jetzt getan werden, damit die syrische Katastrophe nicht zu einer deutschen wird?

Kristin Helberg hat sieben Jahre in Syrien gelebt und ist über ihre syrische Familie und viele Freunde eng mit dem Land verbunden. Sie weiß, wie es jenen geht, die bis heute in Syrien ausharren, und jenen, die versuchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Sie kennt die syrische Geschichte, Politik und Mentalität wie kaum jemand sonst. Warum haben so viele Angst vor den Syrern? Was erwarten wir von ihnen - und was erhoffen sie sich von uns?
Autorenporträt
Helberg, Kristin
Kristin Helberg, geb. 1973, gilt als eine der besten Syrien-Kennerinnen im deutschsprachigen Raum. Sie studierte Politikwissenschaften und Journalistik in Hamburg und Barcelona. Nach einigen Jahren beim NDR ging sie 2001 nach Damaskus, wo sie lange Zeit die einzige offiziell akkreditierte westliche Korrespondentin war. Bis 2008 berichtete sie von Syrien aus über die arabische und islamische Welt für die Hörfunkprogramme der ARD, den ORF und das Schweizer Radio und Fernsehen SRF sowie verschiedene Print- und Onlinemedien. Heute arbeitet sie als freie Journalistin und Nahostexpertin in Berlin.
Rezensionen
Kämpfe, Folterungen, Flüchtlingsströme

Kristin Helberg und Janine di Giovanni schildern Ursprünge und Folgen der Machtkämpfe in Syrien sowie das Leiden der Zivilbevölkerung; die Lektüre eignet sich nicht für Zartbesaitete.

Von Wolfgang Günter Lerch

Wer weiß, wie viele Journalisten in den fünf Jahren, die der syrische Krieg nun schon dauert, getötet worden sind, kann Janine di Giovanni nur bewundern. Viele Male hat diese Kriegsberichterstatterin für "Newsweek" und andere Magazine und Zeitungen den Schauplatz besucht - oft unter größter Lebensgefahr. Nun sind etliche ihrer Reportagen in Buchform auf Deutsch erschienen. Sie stammen vornehmlich aus dem Jahre 2012, als der Bürgerkrieg - aus Demonstrationen für Demokratie und Freiheit in der südsyrischen Stadt Deraa im Jahre 2011 entstanden - zu mörderischer Gewalt zu eskalieren begann. Das Buch entstand 2015, als das Leiden der Zivilbevölkerung bereits unbeschreiblich war, die ersten Flüchtlingswellen Syrien in Richtung Libanon, Jordanien und Türkei längst verlassen hatten und Hundertausende auf abenteuerlichen, oft lebensgefährlichen Wegen in Europa, insbesondere Deutschland Schutz suchten.

Die Reportagen lesen sich auf dem Hintergrund der Tatsache, dass gegenwärtig zehn oder gar mehr Millionen Syrer (von 25 Millionen) als Flüchtlinge bezeichnet werden müssen und wenigstens 300 000 Menschen getötet wurden, als ein einziger Aufschrei und Protest gegen die Unfähigkeit der Weltgemeinschaft, diesen Konflikt zu beenden; aber auch als Klage darüber, was Menschen anderen Menschen antun können. Die Lektüre ist nichts für Zartbesaitete, wer zu Albträumen neigt, sollte das Buch besser nicht lesen oder die betreffenden Passagen überschlagen. Die Autorin schreibt, fußend auf zahlreichen Augenzeugenberichten, über Folterpraktiken, mit denen verglichen die klassische, im Orient seit Jahrhunderten angewandte Bastonade als harmlos bezeichnet werden muss.

Dabei sind ihre Angaben einem Höchstmaß an journalistischer Seriosität geschuldet, immer prüft sie, soweit dies möglich ist, ob die Angaben von Folteropfern der Syrischen Armee, also dem Regime von Baschar al Assad, aber auch den Rebellen und der Freien Syrischen Armee (FSA) der Wahrheit entsprechen oder nicht. Wo Zweifel angebracht sein mögen, benennt sie dies. Informationen über sexuelle Gewalt gegen Frauen liegen ihr besonders am Herzen. Schon vor zwanzig Jahren hatte sie über Folter, Entführungen und brutale Massaker aus Bosnien zu berichten, die manche Ähnlichkeit mit den blutigen Ereignissen in Syrien aufweisen, wie auch die Tschetschenien-Kriege, über die sie ebenfalls schrieb.

Die Autorin berichtet aus der Hauptstadt Damaskus, aus Latakia (dem Zentrum der schiitischen Alawiten, die das Assad-Regime tragen), Maalula, jenem Ort, in dem die christliche Bevölkerung noch eine Spätform des Aramäischen, der Muttersprache Jesu, spricht, aus Homs, einem besonders umkämpften Zentrum der Rebellen, aus Daraja nur wenige Kilometer außerhalb der Hauptstadt, wo ein blutiges Massaker zur Eskalation des Bürgerkriegs beitrug, abermals aus Homs und schließlich aus Aleppo, dessen Altstadt im Dezember 2012 schon weitgehend zerstört war und in unseren Tagen ein Zentrum schwerster Kämpfe ist. Sie begleitet Soldaten und spricht mit Kämpfern der Opposition, Offizieren des Regimes, Zivilisten aller Konfessionen, Sunniten wie Alawiten, die in diesen Religionskrieg verstrickt sind, ehemaligen syrischen Kulturgrößen, doch auch mit der traumatisierten Bevölkerung, Müttern und Vätern, mit Ärzten und Mitgliedern von Hilfsorganisationen.

Aus dem Bürgerkrieg ist eine Auseinandersetzung geworden, die - neben den lokalen Mächten Saudi-Arabien, Türkei und Iran - auch Russland, Amerika und die Europäer betrifft. Die Vereinten Nationen (UN) erscheinen trotz mannigfacher Aktivität mit ihren Vermittlungsbemühungen überfordert. Die Etablierung des IS ("Islamischen Staates") hat die Verhältnisse komplizierter gemacht. Immer wieder bekommt die Autorin auch zu hören - und dies hauptsächlich von jenen, die mit dem "säkularen" Regime Assads sympathisieren -, die Massaker und Folterungen, von denen sie gehört habe, würden gar nicht von Syrern verübt, sondern von "Ausländern". Scham über die grausamen Verbrechen lässt die Menschen zu jenen im Orient weitverbreiteten Verschwörungstheorie greifen. Während der Niederschrift des Buches musste die Autorin dann erfahren, dass zwei ihrer Freunde und Kollegen, Steve Sotloff und Jim Foley, vom IS entführt und öffentlich enthauptet worden waren.

Die Journalistin Kristin Helberg, die jahrelang für Rundfunk und Fernsehen aus Syrien über die arabische Welt berichtet hat, widmet sich in ihrem Buch "Verzerrte Sichtweisen. Syrer bei uns" zunächst der jüngeren Geschichte Syriens, von der Unabhängigkeit 1946, über die bleierne Zeit unter Hafiz al Assad, die von einer "Stabilität durch Grabesruhe" (bis 2000) geprägt war, bis zur Genese des Krieges unter dem Sohn Baschar al Assad, der sich zu einer Weltkrise entwickelt hat.

Das eigentliche Thema sind jedoch Fehlwahrnehmungen und Verzerrungen dieser Krise in unseren Breiten, die auch mit der Berichterstattung zu tun haben. Über Fälle gelungener Integration wird kaum berichtet, über das Scheitern und potentielle Gefahren hingegen am meisten. Zudem haben die Anschläge der Taliban, Al Qaidas und des IS sowie die Strömung des Islamismus viel dazu beigetragen, den Islam insgesamt als eine Religion des Schreckens und der extremen Unterdrückung erscheinen zu lassen. Angesichts der deutschen Flüchtlingsdiskussion und des kometenhaften Aufstiegs der AfD kommt das Buch zur rechten Zeit.

Syrien ist, wie die meisten Länder der Region, eine patriarchalische Gesellschaft, und kollektive Werte zählen mehr als das Individuum. Freilich: Nicht alle Trägerinnen eines Kopftuches sind unterdrückt, nicht alle säkularisierten Syrer besonders aufgeschlossen oder tolerant. Nicht alle Alawiten lieben Assad, nicht alle Sunniten hassen ihn. Damaskus ist eine moderne Stadt mit hoher Lebensqualität, die pauschale Vorstellung, Syrien sei ein Land hinterm Mond, trifft nicht zu. Kristin Helberg plädiert dafür, angesichts der Integrationsproblematik Fakten (auch weniger angenehme) ehrlich zu benennen, doch dies auch in umgekehrter Richtung. Nicht nur in einer muslimischen Gesellschaft, wie der syrischen, wird oft eine "Moral" geheuchelt, wo keine ist. Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist auch in christlichen Ländern ein Problem.

Die Frage, was "deutsch" sei, wird gegenwärtig wieder gestellt, auch die Frage, was die deutsche Gesellschaft trage. Da haben auch Syrer respektive Araber ihre pauschalen Vorstellungen, die ebenso einseitig sind, sich aber im Bewusstsein festgesetzt haben, etwa was das Trinken von Alkohol oder die sexuelle Freizügigkeit betrifft. Deutschland müsse, so die Autorin, von einem "verkorksten Einwanderungsland" zu einem Land werden, das Integrationspolitik auf der Basis des Grundgesetzes betreibt. Sie ist Verfassungspatriotin. Die Chancen für eine solche Entwicklung, die gewiss eine Gratwanderung sein wird, sieht sie als gar nicht so schlecht an, wenn Panikmache eingestellt wird und man Abschied nimmt vom "Germanen-Gen", wie sie ein wenig zu polemisch formuliert. Die Bundeskanzlerin, wenn sie denn die Zeit findet, wird dieses Buch wohl gerne lesen; bei jenen Deutschen, die sich als "identitär" bezeichnen, wird es allerdings mit Sicherheit auf Widerspruch stoßen.

Kristin Helberg: Verzerrte Sichtweisen - Syrer bei uns. Von Ängsten, Missverständnissen und einem veränderten Land.

Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2016. 272 S., 24,99 [Euro].

Janine di Giovanni: Der Morgen, als sie uns holten. Berichte aus Syrien.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 251 S., 22,- [Euro].

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