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In diesem Dialog mit einer literarischen Figur, dem Ehemann der »Madame Bovary« von Flaubert, geht es Améry um die soziale und ästhetische Ehrenrettung des verkannten Individuums, des bürgerlichen Subjekts. Es ist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Sartres Flaubert-Interpretation, wie sie in dem Monumentalwerk »Der Idiot der Familie « entwickelt wird - ja mehr noch: Es ist der Versuch der endgültigen Loslösung vom bewunderten intellektuellen Vorbild. Diese Zusammenhänge, die ins Zentrum des philosophischen und ästhetischen Denkens von Améry führen, werden in diesem Band erstmals eingehend…mehr

Produktbeschreibung
In diesem Dialog mit einer literarischen Figur, dem Ehemann der »Madame Bovary« von Flaubert, geht es Améry um die soziale und ästhetische Ehrenrettung des verkannten Individuums, des bürgerlichen Subjekts. Es ist eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Sartres Flaubert-Interpretation, wie sie in dem Monumentalwerk »Der Idiot der Familie « entwickelt wird - ja mehr noch: Es ist der Versuch der endgültigen Loslösung vom bewunderten intellektuellen Vorbild.
Diese Zusammenhänge, die ins Zentrum des philosophischen und ästhetischen Denkens von Améry führen, werden in diesem Band erstmals eingehend dargestellt. Texte zu Sartre und Flaubert begleiten den Anmerkungsteil. Deutlich wird, welch hohen Anspruch Améry mit diesem Buch (und seinem öffentlichen Erfolg) verband und welchen Stellenwert es für Améry als literarischen Autor hat.

Der »Bovary« ist auch Teil der Améry-Gesamtausgabe.

Autorenporträt
Améry, JeanJean Améry, im Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Intellektuellen der sechziger und siebziger Jahre. Seine bahnbrechenden Essays sind in ihrer Bedeutung vielleicht nur mit den Schriften Hannah Arendts und Theodor W. Adornos zu vergleichen. Als Reflexion über die Existenz im Vernichtungslager stehen sie vermutlich Primo Levis Büchern am nächsten. Zugleich jedoch hat Améry wie kaum ein anderer Intellektueller die deutsche Öffentlichkeit mit französischen Denkern und Schriftstellern bekannt gemacht und konfrontiert. Jean Améry starb im Oktober 1978 durch eigene Hand.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.11.2006

Ich, Charles Bovary, bin ein Mann der Leidenschaft und der Tugend
Ein großartiges Windmühlenbuch: Jean Amérys furioser, maßloser, verstörender Versuch, Flauberts Landarzt gegen dessen Schöpfer ins Recht zu setzen
Was wäre die Literatur ohne die aussichtslos verbissenen, wunderbar traurigen Kämpfe gegen Windmühlen und unbezwingbare Gegner? Was die Literaturkritik ohne die Empörung des Kritikers über einen Autor, der eine Figur, die ihm, dem Kritiker, ans Herz gewachsen ist, mit Geringschätzung behandelt oder ihr gar achtlos den Garaus macht?
Im August 1978 erschien Jean Amérys letztes Buch, „Charles Bovary, Landarzt”, im Oktober 1978 nahm sich der Autor in einem Hotel in Salzburg das Leben. Das schmale Werk enthält einen der furiosesten Windmühlenkämpfe der jüngeren Literaturgeschichte: Améry rannte darin – als Erzähler – gegen den Roman „Madame Bovary” an, und er forderte zugleich – als Kritiker und Essayist – den großen Gustave Flaubert in die Schranken eines Prozesses. Améry war in diesem Prozess Ankläger, Revisionsanwalt und Kronzeuge in Personalunion.
Es war ihm bitterer Ernst mit diesem imaginären Revisionsprozess: dem Ehemann Emmas, dem Landarzt Charles Bovary, zu seinem Recht gegenüber seinem Schöpfer zu verhelfen. Dafür musste er das Urteil, das Gustave Flaubert über ihn gefällt hatte, revidieren. Er musste dem Landarzt seine Mittelmäßigkeit und Blindheit gegenüber der Untreue seiner Frau nehmen, und er musste ihm eine hohe Dosis jenes hochkonzentrierten Wirkstoffes injizieren, der in ihm, Améry selbst, zirkulierte: aus Empörung und Bitterkeit gemischte Leidenschaft. Das tat er in einer Maßlosigkeit, die die ersten Leser dieser Anklageschrift ratlos und kopfschüttelnd zurückließ.
Ein von Schönheitsverlangen und sexueller Energie erfüllter Herausforderer der Liebhaber Emmas trat hier aus dem armen Charles heraus, einer, der das Zeug hatte, zum Mörder seiner Rivalen zu werden, und dem es nicht einfiel, sich seinerseits mit dem von Flaubert vorgeschriebenen Tod aus gebrochenem Herzen zufriedenzugeben. Denn in der Leidenschaft, die diesen Charles Bovary umtrieb, war die philosophisch-moralische Leidenschaft seines Autors Jean Améry enthalten, des Überlebenden der Lager, der im Existenzialismus Jean-Paul Sartres die Umrisse der Figur des Aufstands gegen das von außen zugeschrieben Leben gefunden hatte: des Menschen in der Revolte.
Ein solcher Mensch in der Revolte war in Amérys schmalem Buch der Landarzt Charles Bovary. Man höre, wie er zum Citoyen wird, der sich auf die Menschenrechte der Französischen Revolution beruft, wenn er Klage gegen seinen Schöpfer erhebt: „ Je vous accuse, Monsieur Flaubert! Ich klage Sie an, weil Sie mich zu einem Tropf machten, nicht fähig passion et vertu, Leidenschaft und Tugend zu vereinen. Ich klage Sie an, weil Sie meine Dummheit, oder was Sie dafür nahmen, mir aufrechneten als Schuld, nicht milder als Lheureux, der Wucherer. Ich klage Sie an, weil Sie mein Bürger- und Menschenrecht mir verwehrten und mich zum willenlosen Sklaven machten, als lebten wir noch in jenen segenslosen Tagen, da der Herr Herr war und der Knecht Knecht und dieser nicht wagte, die Hand aufzuheben gegen jenen. Ich klage Sie an der Verletzung des Paktes, den Sie mit der Realität geschlossen hatten, ehe Sie sich an die Niederschrift meiner Geschichte machten: denn ich war mehr, als ich war, gleich jedem Existierenden, der täglich und stündlich im Widerstand gegen die Anderen und die Welt aus sich heraustritt, zu verneinen, was er war, und zu werden, was er sein wird.”
Damals, 1978, als es erschien, war „Charles Bovary, Landarzt” kein sonderlicher Erfolg beschieden. Jetzt ist dieses Buch, mit dem sich Jean Améry, wie schon mit dem Roman-Essay „Lefeu oder Der Abbruch” (1974) vergeblich als Erzähler zu profilieren suchte, wieder da, als vierter Band der Améry-Werkausgabe bei Klett-Cotta, in einer Edition, die nur einen Glücksfall nennen kann, wer sich für das Schicksal von Windmühlenbüchern interessiert.
Denn „Charles Bovary, Landarzt” ist hier mit den Essays Jean Amérys über Gustave Flaubert und Jean Paul Sartre zusammengespannt. Erhellend ist das nicht lediglich, weil es im Rückblick auf den frühen Sartre-Essay „In die Welt geworfen” (1955) erkennen lässt, woher die Idee rührt, Charles Bovary zur Figur der Revolte gegen sein Schicksal wie den Autor dieses Schicksals zu machen. Sondern vor allem, weil die Lektüre des Jubiläumsartikels „Zum 150. Geburtstag des ,Meisters der Bovary‘” (1971) und der Rezension „Die Wörter Gustave Flauberts” (1971) erkennen lässt, wie sehr Amérys Bovary-Projekt von der Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartres monumentaler Flaubert-Studie „Der Idiot der Familie” (1971ff.) geprägt war. Amérys hochfahrend subjektive Anklageschrift war seine literarische Antwort auf Sartres negativen, „totalisierenden” Bildungsroman der prästabilisierten Harmonie zwischen der „objektiven Neurose” des Zweiten Kaiserreichs und der „subjektiven Neurose” seines Helden Flaubert.
Herausgeber dieses vierten Bandes der Améry-Werkausgabe ist Hanjo Kesting, der in der Kulturredaktion des NDR der verantwortliche Redakteur war, als Améry dort im Februar 1978 sein Bovary-Projekt zunächst als Radio-Feature publizierte. Kesting hat nicht nur ein umfangreiches, informatives Nachwort verfasst, er hat zugleich die Entstehungsgeschichte des Buches umfassend dokumentiert. Vom Exposé „Charles Bovary, Landarzt” (1976) über die Korrespondenz des Autors mit seinen Redakteuren beim NDR und im Merkur bis zum imaginären Selbstverriss. Hier wird greifbar, wie früh Améry mit Lesern konfrontiert war, die seinen Windmühlenkampf als solchen erkannten – und wie störrisch er seinem Projekt treu blieb: der Verteidigung des Citoyen noch im unscheinbarsten aller Bürger des 19. Jahrhunderts. LOTHAR MÜLLER
JEAN AMÉRY: Charles Bovary, Landarzt. Aufsätze zu Flaubert und Sartre (= Werke, Band 4). Herausgegeben von Hanjo Kesting. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006. 402 Seiten, 32 Euro.
Jean Améry
Foto: Ullstein / Friedrich
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