wie "Jäger des verlorenen Schatzes" und "Bodyguard" sowie mit eigenen Regiearbeiten hat Kasdan gezeigt, daß er die amerikanischen Kollektivträume in ihrer bombastischen ebenso wie in ihrer alltäglichen Ausprägung kennt. Nun, in der Komödie "French Kiss" präsentiert der Regisseur einen Ausflug nach Frankreich als Trip in eine ursprünglichere Daseinsform. Der französische Kuß erweckt Cinderellas Sinnlichkeit aus dem Tiefschlaf.
"French Kiss" beginnt dort, wo "Bettgeflüster" im Jahr 1959 aufhörte. Die Schauspielerin Meg Ryan verkörpert ein amerikanisches Schneewittchen namens Kate als patentes all american girl; mit kurzen blonden Haaren und stets etwas skeptischem Gesichtsausdruck wandelt sie als gut erkennbare Wiedergängerin Doris Days durch den Film. Den Gewährsmann einer mittelständischen Existenz glaubt Kate in dem Kanadier Charlie (Timothy Hutton) gefunden zu haben, den das Drehbuch eher flüchtig mit der Identität eines Arztes ausstattete. Längst ist der pillow talk zwischen beiden verstummt. Falls es ihn je gab: Nicht Donner und Blitz, sondern ein leichtes Nieseln habe diese Beziehung eingeleitet, wird Kate ihrem französischen Retter Luc sehr viel später im Film gestehen. Vorerst jedoch nennt sie ihren Charlie "Schnuppel" und spart insgeheim auf den schlüsselfertigen Schrecken. Ihre Abneigung gegen alles Fremde hat die Gestalt einer auch mit teuren Kursen nicht zu überwindenden Flugangst angenommen. Charlie, der mit wachsender Besorgnis sein Leben an der Seite dieser Frau antizipiert, nutzt die Gelegenheit zur Flucht, sobald der Film ihn auf einen Kongreß nach Paris schickt. Er verliebt sich kurzerhand in eine junge Französin.
Nun betritt Luc (Kevin Kline) die Szene. Als Kate, die den Partner zurückgewinnen will, angstvoll im Flugzeug nach Paris Platz nimmt, setzt sich dieser französischste aller Franzosen neben sie, und das Spiel mit den Nationalklischees kann beginnen. Natürlich verkörpert Luc, der Kleinkriminelle, im Gegensatz zu dem halbgaren Kanadier das Prinzip einer unverfälschten, draufgängerischen Männlichkeit; natürlich wehrt sich Kate gegen die sinnliche Anmutung, die als verbaler Affront beginnt. Daß die Amerikanerin sich vor dem Leben, demzufolge vor dem Sex fürchtet, will der Franzose nicht nur auf den ersten Blick erkannt haben, er spricht es auch ohne Umschweife aus (französische Höflichkeit darf zu einem späteren Zeitpunkt die Gestalt eines blasierten Concierge annehmen). Im Gegenzug und wie zur Bestätigung nennt sie ihn einen "in Sachen Hygiene minderbemittelten Franzosen". So landet man lange vor der Ankunft des Flugzeuges und ganz ohne Flugangst bei entscheidenden Themen. Von seinem ersten Liebeserlebnis mit einer Hure kann Luc noch immer voller Zärtlichkeit erzählen. Sie hingegen erinnert sich nur noch daran, daß "Jeopardy" im Hintergrund lief.
Der Film, auch darin ebenso professionell wie vorhersehbar, weiß selbstredend dafür zu sorgen, daß seine zwei Helden gegen ihren Willen aneinandergeleimt werden. Ein Collier, das sich im unverzollten Gepäck des Franzosen befindet, dient unter allerlei komödiantischen Umständen als erforderlicher Klebstoff, der über die Stationen Paris, Provence und Côte d'Azur, über Ablehnung und Annäherung bis zum glücklichen Ausgang seine Dienste tut. Als das zumindest in symbolischer Hinsicht bedeutsamere Schmuggelgut erweist sich jedoch ein kalifornischer Weinstock, der im französischen Süden die Wurzel einer neuen, französisch-amerikanischen Kollaboration bildet. Wer hätte gedacht, daß sich Amerika und Frankreich in ihrer Sehnsucht nach Bodenständigkeit so sehr ähneln? STEFFEN JACOBS
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main