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Seit Cicero heißt es, das Anlitz spiegele die Seele. Wenn die Fassade das Gesicht des Hauses ist, kann man davon ausgehen, dass in Analogie dazu die Oberflächen neuer und wiederhergestellter Bauten, insbesondere nach 1945, eine aufschlussreiche Wechselwirkung zwischen der architektonischen Erscheinung und dem 'Seelenzustand' Deutschlands abbilden. Ausgehend vom kulturellen Res(e)t in der sogenannten Stunde Null geht der Essay in beschreibender, erforschender und analytischer Perspektive der Entsprechung zwischen der Fassadengestaltung in der Nachkriegszeit und der Lage der Nation um 1950 nach.…mehr

Produktbeschreibung
Seit Cicero heißt es, das Anlitz spiegele die Seele. Wenn die Fassade das Gesicht des Hauses ist, kann man davon ausgehen, dass in Analogie dazu die Oberflächen neuer und wiederhergestellter Bauten, insbesondere nach 1945, eine aufschlussreiche Wechselwirkung zwischen der architektonischen Erscheinung und dem 'Seelenzustand' Deutschlands abbilden. Ausgehend vom kulturellen Res(e)t in der sogenannten Stunde Null geht der Essay in beschreibender, erforschender und analytischer Perspektive der Entsprechung zwischen der Fassadengestaltung in der Nachkriegszeit und der Lage der Nation um 1950 nach. Aus welchen Gründen, jenseits billiger Baustoffe, formen sich die Fassaden deutscher Städte in jenen Ausprägungen, die man heute als eigenartig bis verstörend einzustufen geneigt ist? Warum werden manche Innenstädte, vor allem in Westdeutschland, im Wiederaufbau weitestgehend verkachelt, so dass das wiedererrichtete Stadtbild einem nach außen gekehrten Badezimmer gleicht? Was lässt sich vonsolchen abwaschbaren Orten, beispielsweise in Köln, ablesen? Verbergen sich hinter diesen keramischen Oberflächen nicht nur ästhetische Verunsicherungen, sondern gar die tiefen (Ab-)Gründe (west-)deutscher Geschmacklosigkeit?
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2016

Die Verschweinung des Lebens durch Keramik
Architektur für die Intensivstation: Markus Krajewski deutet die Verkachelung der deutschen Innenstädte

Die abwaschbaren Keramikfassaden der Nachkriegsmoderne in Deutschland geben der Kunstgeschichte seit langem Rätsel auf. Warum sehen diese gefliesten und gekachelten Innenstädte häufig aus wie Schlachthäuser, Operationssäle, Metzgereien oder Badeanstalten? Woher rührt die Sterilität und der Waschzwang, der sich in den Klinker-Riemchen-Rasterfassaden ausdrückt? Der Baseler Medienwissenschaftler Markus Krajewski hat eine Expedition in das Herz einer ästhetischen Finsternis unternommen, die vor aller Augen steht und dennoch meist übersehen wird.

Nach dem Feldgrau der Wehrmachtsuniformen und den Erdfarben des Trümmerstaubs waren bunte keramische Oberflächen materialisierte Versprechen von Sauberkeit, Dauerhaftigkeit und Hygiene. Krajewski deutet sie psychologisch als "Trümmer zweiter Ordnung", als Produkte aus dem Brennofen, die vor einem neuen Feuersturm schützen und das Kriegstrauma versiegeln sollten. Geographisch dienten sie zudem der Neumarkierung der ausradierten Städte. Wie ein cartesianisches Koordinatensystem überzogen die Feinstein-Platten die Fußböden der Wohn- und Badezimmer, kletterten die Fensterbänke hoch und stiegen draußen bis unter die Dächer.

Hinter diesem Raster entdeckt der Autor einen Kontrollzwang, alle Wahrnehmungspunkte der Oberfläche mess- und koordinierbar zu machen. Wie in der Kartographie oder der Perspektiv-Malerei sei das Raster der Fliesenfugen eine Art visuelles Stützgewebe; es sorge im Niemandsland der Trümmerwüsten für homogene Maßstäblichkeit und lasse Dinge adressierbar werden, aber zugleich unter flimmernden Tarn-Netzen verschwinden. Obendrein nivelliere die serielle Flachheit der Keramikplatten alle Baugattungen und formatiere die Menschen für den Übergang in die demokratische Staatsform.

Bei solchen Deutungen ist der Autor ganz in seinem medialen Metier und kann der stummen Materie mit feuilletonistischem Witz zu erstaunlicher Ausdruckskraft verhelfen. Aber wenn er historisch oder gar philosophisch werden möchte, schlägt sein medienwissenschaftlicher Anspruch auf universelle Deutungskompetenz in kenntnisfreie Besserwisserei um.

Über Kriegs- und Trümmererfahrungen urteilt er ohne Bezug auf die erschütternden Studien von W.G. Sebald oder Jörg Friedrich; die Kontinuitäten der Planungselite vom Nationalsozialismus bis zum Wiederaufbau resümiert er mit einem oberflächlichen Zitate-Potpourri aus den Standardwerken von Durth, Düwel und Gutschow.

Das folgenschwerste Fehlurteil rührt von der kritiklos übernommenen Lebenslüge der Nachkriegsplaner her, dass einzig die alliierten Bombardements die deutschen Städte ausradiert haben. In Wahrheit aber wurde beim Neuaufbau nachweislich mehr demoliert als im Luftkrieg. Gerade diesen bis zur Selbstauslöschung gehenden Waschzwang der Deutschen hätte man gern erklärt bekommen und nicht allein die keramische Camouflage postum.

Vollends neben der Spur verläuft Krajewskis als "fundamentalontologisch" bezeichneter Exkurs, in dem er alles mit allem zusammenbringt: die Kacheln in den Gaskammern, die Seelenhygiene der gelöschten Erinnerung, die entdekorierten, gerasterten Oberflächen mit ihrer anti-narrativen Stummheit - und schließlich die Philosophie Martin Heideggers, die von "Sein und Zeit" 1927 bis "Bauen, Wohnen, Denken" 1951 rüde zusammengewürfelt wird. Heidegger habe infamerweise das "Schweigen als Sprache des Gewissens" angesehen und die obdachlosen Menschen statt in Bunkern oder Nissenhütten in der "Sprache als Haus des Seins" unterbringen wollen. Über Heideggers Verschrobenheiten und Irrtümer kann man ausgiebig streiten, aber sich über ihn lustig machen, nur damit Design-Kritik vornehmer klingt, das geht gar nicht.

Der Autor assoziiert weiter über die Kachelfugen als "Kreuze eines Gräberfeldes", die eine "Serie der Trauer", ja einen "in die Vertikale versetzten Friedhof" ergeben. Aber damit hebt Krajewski seinen Skandalbefund schon wieder auf. Er erklärt die Kachelwüsten gleichsam zu einer Art urbanistischer Aktion Sühnezeichen und plädiert für ihre konservatorische Pflege. Damit steht er ganz im Trend der Faszination des Hässlichen, wie sie der absurde Denkmalspflege-Kultus der Nachkriegsmoderne derzeit feiert. Die etwas wahllos zusammengestellten, aber eindrucksvoll niederschmetternden Farbfotos von Christian Werner zeigen schwer fassbare Stupiditäten meist aus dem geschundenen Köln, wo ganze Straßenzüge feinkeramisch versiegelt wurden. Doch während der Autor vorzugsweise über Bauten der fünfziger Jahre spricht, zeigt ein Großteil der Bildbeispiele gerade nicht die erstaunlich filigranen Schmuckkästchen dieser Zeit, die mit ihrem Leitmedium der Mosaik-Technik aus Bruchstücken ein neues Ganzes bilden wollten.

Anstelle des schüchternen architektonischen Aufbruchswillens der unmittelbaren Nachkriegsjahre machen sich im Buch die fettleibigen Quader aus der Wachstumsideologie und Wegwerfmentalität der sechziger Jahre mit ihren seelentötenden Lochfassaden breit, bei denen das muffige Schwitzwasser aus allen Gummidichtungen quillt. Weil somit die Diagnose der Bewältigung des Nachkriegs-Traumas mit den dargestellten Bildbeispielen um reichlich eine Dekade auseinanderklafft, wäre eine Rücküberweisung der Nachkriegs-Ikonographie aus der Medien- in die Kunstwissenschaft hilfreich.

MICHAEL MÖNNINGER

Markus Krajewski: "Bauformen des Gewissens". Über Fassaden deutscher Nachkriegsarchitektur. Mit Fotografien von Christian Werner.

Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2016. 192 S., zahlr. Farbabb., br., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Michael Mönninger schaut mit Abscheu auf die Fotos einer zugekachelten Nachkriegsmoderne im Buch des Medienwissenschaftlers Markus Krajewski. Dass die Bilder aus den 60er Jahren mit den Befunden gar nicht zusammenpassen, weil der Autor über die Bauten der 50er spricht, erwähnt Mönninger mit Zähneknirschen. Viel fragwürdiger findet er, dass der feuilletonistische Witz, mit dem Krajewski jede Fliesenfuge durchaus gekonnt bedenkt, immer wieder in unkritische Besserwisserei umschlägt, sobald der Autor sich seinem Thema historisch und philosophisch nähert. Nichtbeachtung beachtlicher Studien von W.G. Sebald oder Jörg Friedrich, oberflächliche Zitatplünderung bei Durth, Düwel und Gutschow und Fehlurteile über den Wiederaufbau machen die Lektüre für Mönninger zu einem ärgerlichen Erlebnis.

© Perlentaucher Medien GmbH