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Erste umfassende Publikation zu einem aufstrebenden jungen Berliner Künstler. Fotografien, Videoarbeiten, Installationen, Skulpturen wider die Logik - namhafte Autoren erläutern in diesem Band die unverwechselbaren Werke Fiete Stoltes, der 2007 sein Kunststudium abschloss und seitdem für Aufsehen sorgt. Seine Werke werden bereits in bekannten Museen und auf renommierten Kunstmessen gezeigt. Das Buch entstand in enger Zusammenarbeit mit Fiete Stolte selbst.
Große Einzelausstellung im Kunstverein Göttingen vom 21. Juni bis 2. August 2015

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Produktbeschreibung
Erste umfassende Publikation zu einem aufstrebenden jungen Berliner Künstler. Fotografien, Videoarbeiten, Installationen, Skulpturen wider die Logik - namhafte Autoren erläutern in diesem Band die unverwechselbaren Werke Fiete Stoltes, der 2007 sein Kunststudium abschloss und seitdem für Aufsehen sorgt. Seine Werke werden bereits in bekannten Museen und auf renommierten Kunstmessen gezeigt. Das Buch entstand in enger Zusammenarbeit mit Fiete Stolte selbst.

Große Einzelausstellung im Kunstverein Göttingen vom 21. Juni bis 2. August 2015
Autorenporträt
Hans Ulrich Obrist ist Kurator und Co-Direktor der Serpentine Gallery in London. Das Fachmagazin Art Review hat ihn 2010 und 2011 auf Platz 2 der 100 einflussreichsten Menschen in der Kunstbranche gewählt, 2009 auf Platz 1. Obrist ist Gründungsmitglied der Akademie der Künste der Welt in Köln.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.2015

Die Sonne attackieren
Er beschloss, dass sein Tag nur 21 Stunden hat und lebt danach. Über Fiete Stoltes Kunst

Wenn es so ist, dass jedes gute Kunstwerk ein ordentliches Loch in den Bestand der als unveränderlich geltenden Dinge, Phänomene, Regeln, Verabredungen, Gewohnheiten und Gesetzmäßigkeiten reißt - dann ist ein Apparat oder ein System, in dem der Rhythmus von Tag und Nacht ausgehebelt wird und der Tag nicht mehr vierundzwanzig Stunden hat und alles, was nach Naturgesetz aussieht, auch das gleichmäßige Vergehen der Zeit, abgelehnt und auseinandergenommen und durch etwas schöneres Neues ersetzt wird, ein ziemlich gutes erstes Werk für jemanden, der gerade anfängt mit seiner Kunst.

Vor acht Jahren brach Fiete Stolte, geboren 1979, damals noch Kunststudent in Berlin, zu einer Weltreise auf. Er flog einmal um die Welt - in sieben Tagen. Die Weltreise war Teil seiner Abschlussarbeit als Kunststudent, er flog von Berlin aus nach Osten und buchte seine Flüge so, dass er vom Flugzeug aus oder dort, wo er gerade war, den Sonnenaufgang und den Sonnenuntergang fotografieren konnte.

Nach sieben Tagen kam er wieder in Berlin an - mit acht Polaroids von Sonnenaufgängen und acht Polaroids von Sonnenuntergängen, also Bildern von acht Tagen. Aufgenommen in sieben Tagen. Man kann dieses Paradox leicht erklären, denn wenn man immer nach Osten fliegt, muss man immer dann, wenn man die Zeitzone wechselt, die Uhr um eine Stunde vorstellen. Und wenn man an der Datumsgrenze das Datum nicht zurückstellt, dann scheint es, als hätte man während der Umrundung der Welt einen ganzen Tag, also vierundzwanzig zusätzliche Stunden erzeugt - weil die Tage dadurch, dass man die Uhr vorstellen musste, immer kürzer wurden. Manche Bands traten wegen dieser Eigenart der offiziellen, allgemein als alternativlos akzeptierten Ordnung von Raum und Zeit schon nominell zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten der Welt auf.

Die erzwungene Verkürzung der Zeit war aber auch der Anfang eines der erstaunlichsten und interessantesten Werke der aktuellen Kunst: Fiete Stolte beschloss in diesem Jahr seiner Weltumquerung, dem Jahr 2007, dass sein Tag fortan nur noch 21 Stunden statt 24 haben werde und seine Woche acht Tage. Er baute eine Uhr, mit der er dem Vergehen der Zeit, dem Ticken der Uhr entrinnen konnte, weil sie schneller tickte (eigentlich müsste er der Lieblingskünstler und Held aller Akzelerationisten sein). Und er begann, nach der Zeitrechnung zu leben, die er sich selbst verordnet hatte.

Wenn es in der normalen Welt noch 21 Uhr war, dann war es bei Fiete Stolte schon Mitternacht - was zur ständigen Kollision mit Licht und Dunkelheit und mit dem Lebensrhythmus seiner Mitmenschen führte. Wenn es bei ihnen Nachmittag war, konnte es frühmorgens bei ihm sein. Wenn er aufstand, um zu frühstücken, lag die Stadt im Dunkel, und alle schliefen. Wenn die Sonne aufging, war in seiner Welt Mitternacht, und so waren seine ersten Arbeiten Helligkeitsmaschinen, Verdunklungsgeräte, die ihn vor dem unerbittlichen Heller- und Dunkelwerden der naturabhängigen Außenwelt abschirmten, Trompe-l'oeil-Objekte, die den Körper überlisten sollten. Eines der schönsten dieser neurotischen Objekte ist das Werk "Curtain", das Fiete Stolte 2008 in seiner damaligen Galerie bei Sassa Trülzsch zeigte. Es ist eine einfache, gewellte Neonröhre, die am Boden liegt - und nichts, was bei Tageslicht besonderen Eindruck machen würde. Aber in einem dunklen Raum, bei Nacht, hat sie einen verblüffenden Effekt: Es wirkt, als falle dort, wo sie leuchtet, grelles Tageslicht unter dem Saum eines dicken Vorhangs durch, ein Lichtstreif, wie man ihn manchmal in mit schweren Gardinen verdunkelten Räumen sieht, wenn man dort spät an einem Sommervormittag aufwacht: So wirkt dieses Trompe-l'oeil-Objekt mitten in der Nacht, als sei draußen heller Tag.

In anderen Arbeiten dokumentiert Fiete Stolte das Auseinanderfallen seiner und der offiziellen Zeit, er zeigt, "wie jeder Tag mit der Entkopplung vom Tageslicht anders ist und man nach eigenen Parametern funktioniert". Das klingt erst einmal so, als ob es gar nicht so weit entfernt sei von den flüssigen Zeitvorstellungen der vielverklärten Berliner Nachtwelt, die bevölkert wird von energisch ausgehenden, tags somnambul dösenden, zum Nachtfrühstück neigenden, um vier Uhr früh dann aber elektrisch hellwachen, warm durchrauschten Festmenschen, die ihre eigene Zeitrechnung gegen die Behauptung durchsetzen, mit aufgehender Sonne müsse gefrühstückt, dann gearbeitet und nachts geschlafen werden. Und natürlich lag in der Ablehnung der herrschenden Zeitrechnung immer eine revolutionäre Renitenz. Gar nicht einmal, weil Revolutionen manchmal mit der Einführung einer neuen Zeitrechnung einhergehen - etwa dem calendrier républicain, dem französischen Revolutionskalender, der von 1792 bis 1805 galt -, sondern weil der Beschluss, die vierundzwanzig Stunden, Tag und Nacht nicht zu akzeptieren, das Konstruierte an jeder Vorstellung von Zeit und an den Ritualen ihrer Nutzung offenlegt.

Denn es ist keineswegs natürlich, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang wach zu sein und zu arbeiten und danach zu schlafen. Es ist, wenn man Medizinern und Schlafforschern glauben kann, auch nicht besonders gesund. Es ist, genau genommen, eine Erfindung der modernen Industriegesellschaft, die es sich nicht leisten wollte, ihre teuren Fertigungsmaschinen ruhen zu lassen, um den Arbeitern eine Siesta, ein paar Stunden Mittagsschlaf, zu gönnen. Der Historiker und Schlafforscher Roger Ekirch hat in seinem berühmten Essay "Sleep We Have Lost" darauf hingewiesen, dass vor der industriellen Revolution die meisten Menschen nicht, wie heute üblich, in einem durchgehenden Block von etwa sechs bis acht Stunden in der Nacht schliefen, sondern das nächtliche Schlafpensum in zwei Phasen mit einer dazwischenliegenden Wachphase unterteilten - Unterbrechungen, die für "gesellige Unternehmungen", Gebete oder Sex genutzt wurden. Auch die mediterrane Siesta zeugt von der einstigen gesellschaftlichen Verankerung des segmented sleep.

Die heutige Form des Schlafs, so Ekirch, habe sich erst im 19. bis 20. Jahrhundert durchgesetzt und sei auf die Nachwirkungen der industriellen Revolution mit ihrer Tendenz zur Effizienzsteigerung und Ökonomisierung zurückzuführen. Der Lebensrhythmus, wie er durch Tag und Nacht vorgegeben scheint, ist also politisch gemacht und ökonomisch gewollt, aber nicht naturgegeben. Er ist das Ergebnis einer Anpassung des Menschen an die Erfordernisse der Industrie - und erscheint erst heute als natürliche, durch die Biologie vorgegebene Lebensform. So gesehen ist die Verkürzung des Tages bei Fiete Stolte nicht bl0ß manieriert und etwas, das gemacht wird, weil es halt geht, sondern, wie es die aktuelle, sich an Jacques Rancière abarbeitende Kulturtheorie immer formuliert, ästhetische Distanz zum Alltag als Voraussetzung einer Kritik am Bestehenden. Anders gesagt: eine Befreiung von nur scheinbar normalen und natürlichen Lebensweisen, von einem Gesellschaftsbild, in dem, anders als in klassischen mediterranen Gesellschaften, dösende und schlummernde und den Arbeitstag früher beendende Gestalten den effizientestmöglichen Ablauf der Dinge nur stören würden. Fiete Stolte wirkte in den zwei Jahren, in denen er ausschließlich in seiner eigenen Zeit lebte und frühstückend durch die Nacht geisterte und ganze Tage verschlief, wie ein Vorbote einer denkbaren ganz anderen Lebensform, einem Gegenentwurf zum effizienzorientierten Zeitmanagement - und seiner Karikatur.

Auch seine neuere Kunst befasst sich immer noch mit den Freiräumen, die in der "Entkopplung von der Sonne" entstehen, wie Stolte es nennt, und mit plötzlichen Inversionen, zu denen es kommt, wenn die Rahmen, die das Leben und das Wahrnehmen ordnen, porös werden. Eine seiner neueren Arbeiten, die am 5. Dezember in Berlin in den Räumen des Galeristen Alfons Klosterfelde zusammen mit Stoltes neuem Buch "Hotel Absence" vorgestellt werden, ist die Nachbildung eines Lederetuis mit Reißverschluss, in dem sich zwei durchs Leder drückende, dünne Bleistifte befinden. Hält man das Objekt in der Hand, ist es erst metallisch kalt, nach einer Weile wird es aber warm und fühlt sich an, als sei es wirklich aus Leder. Es speichert auf seltsame Weise die Wärme einer anderen Person.

Dieses Ding ist kein Trompe-l'oeil, sondern eher ein Trompe-peau, eine Täuschung des Tastsinns. In der Neonarbeit "This is not the embassy of absence" werden nur die Zwischenräume eines Schriftzugs mit Neonröhren zum Leuchten gebracht: Was hier leuchtet, ist das, was die Zeichen verbindet, ein Aufflackern der Zwischenräume, das aussieht wie eine fremde, rätselhafte Hieroglyphenschrift, die aber nichts bedeutet und nichts bringt - außer dem Beweis, dass in der Stille des Raums zwischen den Zeichen, die die Abwesenheit von Inhalten hervorhebt, ein Ort sinnloser Schönheit liegen könnte.

Heinrich Böll hat einmal eine Kurzgeschichte mit dem Titel "Dr. Murkes gesammeltes Schweigen" geschrieben, es geht um den Mitarbeiter eines Radiosenders, der aus den Interviews und Ansagen die Momente des Luftholens, des Innehaltens und Nach-Worten-Suchens herausschneidet und all diese Schnipsel zu einem langen Band des Schweigens zusammenstellt. In gewisser Weise ist Fiete Stoltes Neonarbeit das leuchtende Pendant zu dieser Sammlung von Leerstellen und paradoxen Schönheiten.

Das Altfranzösische kennt noch das schöne Wort dorveille. Es bezeichnet den heute nur noch kurzen, damals stundenlangen Zustand, der genau zwischen dormir, schlafen, und veiller, wachen liegt. Das Wort allein könnte eine Arbeit von Fiete Stolte sein.

NIKLAS MAAK

Fiete Stolte: "Hotel Absence". Sieveking-Verlag, 34,90 Euro

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