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Koschorke ist in seiner bekannten Untersuchung der geheimen Verbindung zwischen Neurologie und Mediologie auf der Spur. Dabei geht das Buch von zwei scheinbar disparaten Themenkomplexen aus. Es zeichnet erstens einen Wechsel des medizinischen Paradigmas im 18. Jahrhundert nach: vom humoralen Leib der alteuropäischen Tradition zum neuronalen, d. h. in sich geschlossenen, nervengesteuerten Organismus. Es untersucht zweitens den Umbruch der Kommunikationsverhältnisse in jener Zeit, die durch eine rapide Zunahme des Schriftverkehrs gekennzeichnet ist und diverse Schreibrituale erfindet, um die…mehr

Produktbeschreibung
Koschorke ist in seiner bekannten Untersuchung der geheimen Verbindung zwischen Neurologie und Mediologie auf der Spur. Dabei geht das Buch von zwei scheinbar disparaten Themenkomplexen aus. Es zeichnet erstens einen Wechsel des medizinischen Paradigmas im 18. Jahrhundert nach: vom humoralen Leib der alteuropäischen Tradition zum neuronalen, d. h. in sich geschlossenen, nervengesteuerten Organismus. Es untersucht zweitens den Umbruch der Kommunikationsverhältnisse in jener Zeit, die durch eine rapide Zunahme des Schriftverkehrs gekennzeichnet ist und diverse Schreibrituale erfindet, um die wachsende räumlich-körperliche Distanz zwischen den kommunizierenden Individuen gesellschaftlich operabel zu halten. Diese beiden Entwicklungen verlaufen aber nicht nur parallel, sondern sind exakt aufeinander abgestimmt. Sie führen zu neuen Formen der physiologischen und sozialen Zirkulation, die man unter dem Generalnenner einer Anthropologie der modernen Schriftkultur zusammenfassen kann.
Autorenporträt
Albrecht Koschorke, geboren 1958, ist Professor für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2000

Der Körper des Lesers
Albrecht Koschorke zeigt, wie literarische Empfindsamkeit entsteht
Ein Strom von Tränen rauscht durch die Literatur der Empfindsamkeit. In den knapp hundert Seiten von Werthers Leiden wird mehr als sechzig Mal geweint. Die Helden der empfindsamen Romane: verhinderte Liebhaber, herzklopfende Leser und Liebespaare, die in der Gartenlaube ein liebes Buch lesen und weinen. Wo sich früher die Körper verströmten, fließen jetzt Tränen und Tinte. Dieses Weinen und Schreiben versteht Albrecht Koschorke als Sublimierung kulturell verdrängter Körperströme. Die Empfindsamkeit wird bei ihm zur Epoche der Ersatzhandlungen: der Herzensergießungen und des Schriftverkehrs. In seiner Habilitationsschrift Körperströme und Schriftverkehr entwirft Koschorke das Phänomen der Empfindsamkeit als Ausgangspunkt einer Anthropologie der modernen Schriftkultur. Denn Medien verändern nicht nur das Wissen, sie verändern auch den Menschen.
Wenn neue Medien plötzlich größere Verbreitung finden, dann liegt das daran, dass sie bestimmte kommunikative Bedürfnisse der Zeit bedienen. Koschorke zeichnet diesen Zusammenhang am Beispiel der rapiden Ausbreitung der Schriftkultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach. Er zeigt auf, wie sich im Zusammenspiel von aufklärerischer Sittenreform, Hygiene, kapitalistischer Wirtschaftslehre und neuem Körperbild beim bürgerlichen Menschen ein tiefgreifender Wandel seines Selbstverständnisses und seiner Verhaltensnormen vollzieht. Die Menschen empfinden sich nicht länger als Angehörige ständischer oder familialer Schicksalsgemeinschaften, sondern als distinkte, eigenweltlich in sich abgeschlossene Individuen. Sie gehen auf Distanz und wünschen sich erstmalig private Rückzugssphären. Und haben sie die Wahl, so ziehen sie die Einsamkeit der Geselligkeit, die häusliche Lektüre der Tanzveranstaltung vor. „Ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt!” schreibt Werther am 22. Mai 1771. Eine solche Gesellschaft von verinnerlichten Individuen braucht neue Vergesellschaftungsweisen, man organisiert sich in Geistesgemeinschaften von Gleichgesinnten, und neue Dispositive des Austauschs wie den Brief.
Eine zweite Voraussetzung stellt der Wechsel des medizinischen Körperverständnisses dar. An die Stelle des alteuropäischen Körperbilds vom sich verströmenden Säfteleib tritt damals die Idee des in sich geschlossenen, nervengesteuerten Organismus. Die Idee, dass Körpersäfte wertvolle Kapitalien seien, führt dabei zum Aussterben druckentlastender Praktiken wie dem Aderlass. Überhöhter Innendruck muss jetzt ins Tagebuch fließen. Und drittens ist es die soziologische Bewegung einer wachsenden gesellschaftlichen Mobilität, die veränderte Verkehrsformen notwendig macht. Die aus dem Großfamilienverbund entlassenen und übers ganze Land ausgeschwärmten Individuen brauchen neue Kommunikationsnetze, wie das Medium Schrift sie bietet.
Der um 1750 anschwellende Schriftverkehr durchdringt bald sämtliche sozialen Lebensbereiche. Diese Verschriftlichung des Lebens bedeutet einen radikalen Umbruch der Kommunikationsverhältnisse. Was die Soziologie den Wechsel von der Interaktion zur Kommunikation nennt, heißt, dass in allen gesellschaftlichen Räumen immer häufiger auf dem medialen Weg und immer seltener von Angesicht zu Angesicht kommuniziert wird: staatliche Autorität entfaltet sich in Formularen und Aktenzeichen, Geschäftsleute schicken Rechnungen und Liebhaber Gedichte. Für den einzelnen Menschen bedeutet die Verdrängung der körpernahen Interaktion zugunsten der medial zwischen räumlich Getrennten vermittelnden Kommunikation einen Verlust an Intimität und Lebendigkeit. Die Verschriftlichung, vermerkt Koschorke, „fügt sich nahtlos in den Kreis der disziplinarischen und diätetischen Maßnahmen der Aufklärung ein.” Die stumme individuelle Buchlektüre mit immobilisiertem Körper und die Einsamkeit des Schreibzimmers lassen einen Mangel an Leben, Körperzeichen und Sinnlichkeit spürbar werden. Aber nicht für lange. Denn der Umgang mit Büchern etabliert eine Art von neuer Selbsterfahrung: das Auseinanderstreben von Leib und Seele. Der Leser vergisst im Akt der Lektüre seinen Körper und nähert sich dem Ideal einer rein intellektuellen Existenzweise. Und die kann auch ihre sinnlichen Reize und Möglichkeiten haben, es gilt sie nur zu entdecken. Das leistet die Kultur der Empfindsamkeit.
Die empfindsame Kultur des 18. Jahrhunderts spiegelt diesen Prozess der Verdrängung des Körpers und der Autonomisierung der Seele. Und sie wirkt ihrerseits produktiv auf ihn ein, indem sie der Innerlichkeit exklusive Bedeutung verleiht. Koschorke versteht die Empfindsamkeit nicht mehr als enge literarhistorische Epoche, sondern als kulturelle Krisenbewältigung: als den Versuch, mit den veränderten Lebensbedingungen, mit Medialisierung, Körperverlust und Individualisierung umzugehen. Empfindsame Literatur probiert aus, wie Menschsein im verschriftlichten Leben funktioniert. Ihre Romane laden den Schriftverkehr mit intimer Bedeutung auf und suspendieren den körperlichen. Und was die Romanfiguren tun, wirkt modellbildend auf ihre Leser. Das zentrale Problem heißt: Wie kann Intimität, Nähe erzeugt werden ohne körperlichen Kontakt? In diesem Sinn liest Koschorke den empfindsamen Schriftverkehr als Schauplatz und Übungsfeld einer medialen Konstruktion von Nähe.
Briefe sind hier Ersatzobjekte, sie geraten dem Empfänger zum Fetischobjekt: sie sprechen, werden verschlungen und an den Leib gepresst. Dasselbe gilt für kleine Portraits, die sich zuzusenden zum festen Ritualbestand empfindsamer Freundschaften gehört. 1773 schreibt Wieland an F.H. Jacobi: „Ihr Bildniß ist angekommen, mein Allerliebster, und thut Wunder über Wunder . . . Er ist es selbst, das ist er, dies ist mein Jacobi, rief ich beim ersten Anblicke, und je mehr ich es ansehe, je mehr vergesse ich, daß es nur ein Bild ist.” Der Briefverkehr wird so lesbar als phantasmatischer Zeichenfluss, als unbewusste Reinszenierung der verlorenen Interaktion, empfindsame Briefe beschwören Erfahrungen von Nähe und Unmittelbarkeit, nur eben auf sublimiertem, vom Körper zur Psyche verschobenem Affektniveau.
Empfindsamkeit und Schriftkultur sind am Ende Komplizen: Indem die Schrift ihre Benutzer isoliert und deren Körper stilllegt, unterstützt sie die Ausbildung von Innerlichkeit und Seelenliebe. Und indem die Empfindsamkeit Medialität und Menschsein integriert, stärkt sie das kommunikative System des Schriftmediums. Gemeinsam erschaffen sie den Menschen als Mediensubjekt.
Man kann den phantasmatischen Praktiken des empfindsamen Schriftverkehrs natürlich entgegenhalten, das sei alles Selbstillusionierung. Denn das Porträt ist nicht der Mensch und alle brieflichen Verschmelzungswünsche sind schiere Illusion. Dennoch, und darauf zielt die ganze Emphase des letzten Teils der Studie, waren sie faktisch wirksam. Gegen eine dekonstruktive Sicht der Schriftpraxis, die dabei stehen bleibe „Figuren der Vergeblichkeit . . . ins Herz der Macht einzuschreiben”, die also die Schrift rein privativ bestimmt, definiert Koschorke Schrift und Medien „mediologisch” als kulturstiftende Zeichenprozesse, deren Macht gerade in ihrer Produktivität zu sehen ist. Ohne Zweifel ist die briefliche Vereinigung der Seelen ein Phantasma. Aber dennoch ist sie real, denn sie hat die zeitgenössische kommunikative Praxis bestimmt. Die Symbiose von Empfindsamkeit und Schriftverkehr hat einen neuen Menschen hervorgebracht. Medien sind produktiv; und sie produzieren Wirkliches.
EVA MARZ
ALBRECHT KOSCHORKE: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. Wilhelm Fink Verlag, München 1999. 506 Seiten, 128 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.1999

So was hab ich zu Papier gebracht?
Ich muss von Sinnen gewesen sein: Albrecht Koschorkes Pathologie der Briefkultur / Von Christoph Albrecht

Wie froh bin ich, dass ich weg bin!" Mit diesem Ausruf beginnt der berühmteste Roman der deutschen Literaturgeschichte. Rousseau drückte dieses epochentypische Bewusstsein der lustvollen Entfernung oder Entfremdung in seinem "Émile" so aus: "Wir existieren nicht mehr da, wo wir sind, sondern nur da, wo wir nicht sind." Die anderen sind von uns auf geheimnisvolle Weise getrennt. Wir erreichen sie über zwischengeschaltete Kommunikationsmittel. Der berühmteste Roman der deutschen Literaturgeschichte ist deshalb ein Roman in Briefen. Goethes "Werther" markiert den Beginn einer Epoche, in der die Verletzung des Briefgeheimnisses nicht mehr bestraft wird als Urkundenfälschung, sondern wegen des Eindringens in fremde Geheimnisse - so kodifiziert im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794. Der Mensch besitzt nun einen schutzwürdigen Innenraum, der ebenso privat ist, wie er sich über das Medium Post anderen Innenräumen gegenüber aufschließt.

Das Preußische Landrecht gehört zu den Erscheinungen einer "Verschriftlichung" des Lebens etwa um 1770, deren Folgen Albrecht Koschorke in seiner Habilitationsschrift studiert. Der "Schriftverkehr" macht die Verhältnisse zwischen den immer stärker alphabetisierten Menschen formeller, abstrakter. Der Weg zurück zu Unmittelbarkeit heißt Empfindsamkeit und Romantik. Romantik bedeutet: Das "kalte" Medium Schrift lädt sich mit "heißen" Phantasmen auf. Das "strukturell" Abwesende wird als Anwesendes halluziniert. Schrift ist nicht nur Abstraktion, sie öffnet auch das Tor zu neuen Geisterreichen.

Romantik ist nach Koschorke jedoch nicht ein krankhafter Auswuchs des Gebrauchs "kalter" Medien. Es reicht nicht aus, die romantischen Mystifikationen auf bestimmte Techniken zu reduzieren. Vielmehr muss man untersuchen, wie die Phantasmen "positiv funktionieren". Dieses Verfahren, das von Niklas Luhmanns Systemtheorie geprägt ist und sich von Jacques Derridas Dekonstruktion absetzt, nennt Koschorke "Mediologie". Er versteht darunter eine "funktionalistische Analyse kulturstiftender Zeichenprozesse". Er unterscheidet sich von Friedrich Kittler, der das phantasmatische Lesen und "Verstehen" als Teil einer technisch verstandenen Formation der Medien um 1800 analysiert hat.

Zu den kulturstiftenden Zeichenprozessen gehören die Bilder der Menschen von ihren Körpern und den "Körperströmen", die darin umherschwappen. Denn Zeichenprozesse sind etwas Geistiges. Das Gegenteil von Geist ist der Körper. Er ist in der frühen Neuzeit das Medium von Lebensgeistern; über die spiritus animales wirkt der Körper auf mechanische Weise auf die Seele ein und umgekehrt. In der vor-empfindsamen Zeit beherrschten Körpersäfte den Körper und die Seele. In der Zeit der Empfindsamkeit trocknet die Säftehydraulik aus. An ihre Stelle tritt der Nervenaktionsstrom, eine bioelektrisch getragene Signalverarbeitung: Für die präzise Unterscheidung zwischen der zuckenden Irritabilität der Muskeln und der schmerz- und lustempfindlichen Sensibilität der Nerven mussten viele Versuchstiere ihr Leben lassen, die Albrecht von Haller bei lebendigem Leib sezierte und reizte.

Der Körper ist jetzt nicht mehr das Medium, sondern die Grenze eines anderen Systems: des Nervenapparats. Zwischen Körper und Nervensystem gibt es keinen mechanischen Zusammenhang von Ursache und Wirkung mehr. Sie bilden einen Organismus, einen "kybernetischen" Regelkreis von Reizen und Reaktionen. Beide Systeme reagieren aufeinander (und auf sich selbst), ohne sich kausalmechanisch zu determinieren.

Empfindsamkeit und Romantik sind literarische Selbstbeschreibungen der Epoche, in der sich der Übergang vom mechanistischen Welt- und Menschenbild zu einem modernen, "systemischen" Weltbild vollzieht. Der Zugang, den Koschorke wählt, ist nicht ganz ohne Schwierigkeiten: Der erste Teil der Studie beschreibt die "Trockenlegung" der Körpersäfte in Medizin und Physiologie. Frische Luft und kalte Bäder stabilisieren den Körper und errichten eine Wand gegenüber der Umwelt. Der zweite Teil beschreibt nicht mehr die neue Lehre von den Nerven, sondern wechselt ins Metaphorische: Die Produktion von Unmittelbarkeit des Seelischen ist eine literarische Angelegenheit. Der Austrocknung der Körpersäfte aus der alten Temperamentenlehre entspricht eine Verflüssigung der Kommunikationsmetaphorik: Die Herzen verschmelzen in den empfindsamen Seelenströmen. Blut und Samen werden zurückgehalten, Tränen fließen dafür umso mehr. Tränen sind eine mehr geistige als körperliche Substanz. Der Schriftverkehr, so Koschorke, wird nun im achtzehnten Jahrhundert zum Vehikel einer psychischen Dynamik - zwischen den Menschen. Die Menschen begegnen sich nicht mehr in einem physiologischen Medium von Ausdünstungen und Miasmen. Die Körperhygiene - unterstützt durch Ventilatoren, die man zum Beispiel in Krankenhäusern und Gefängnissen installierte - bringt hier frischen Wind; sie vereinzelt die Menschen physiologisch. Ein neues, geistiges Medium, getragen von einem verallgemeinerten Gebrauch der Schrift, verschärft diese Vereinzelung und überwindet sie gleichzeitig.

Und dort, wo das neue Medium eines verinnerlichten Schriftverkehrs eine neue Unmittelbarkeit zwischen den Partnern der "Kommunikation" schafft, lässt sie das Ineinanderfließen der Körper metaphorisch wieder aufleben: als Strömen der Seele, Verschmelzen in der Liebe oder auch Entgrenzung des Ichs in der Natur: Koschorke spricht von einer Verflüssigung der poetischen Darstellung. Der historische Bruch, den Koschorke beschreibt, fällt zusammen mit einem Wechsel der Ebenen: von der Ebene des Biologischen zu der des Sozialen, vom eigentlichen zum metaphorischen Sprachgebrauch. Der "Chemismus der Säfte geht gleichsam in eine erneuerte Alchimie von Schreibflüssen" über.

Diese metaphorischen Parallelen belegt Koschorke mit einer Fülle kostbarer Zitate. Bei aller Nähe zu den Quellen bleibt sein Verfahren problematisch. Physiologische und ästhetische Anschauungen bilden zwei Stränge, die eng miteinander verflochten sind, die aber dennoch getrennte "Systeme" oder "Diskurse" bilden (je nachdem, welche Mode man bevorzugt). Diesen Eigencharakter des Geschiedenen berücksichtigt Koschorke nicht wesentlich. Leitend ist für ihn mehr die Entwicklung der Gesellschaft, weniger die Genese der Subsysteme. Die literarischen Praktiken schildert Koschorke ausführlich. Die Geschichte der physiologischen Theorien dagegen, insofern sie gebunden sind an den Kontext einer neuen Art von experimentellen Wissenschaften, seit Haller etwa der anatomia animata, gerät aus dem Blick. Frische Luft und kalte Bäder, die den Körper "abhärten" und als "Organismus" nach außen abgrenzen, interpretiert Koschorke als eine Art cordon sanitaire, der vor allem einen Klassengegensatz markiert: Das "aufsteigende Bürgertum" statuiert "verschärfte soziale Distinktionsgebote" und untermauert Berührungstabus rückwirkend durch epidemiologische Erkenntnisse. Hier bleiben die deutlichen Belege aus, und eine Vorliebe für soziologische Finalursachen macht sich bemerkbar: Die Erhaltung der Energien im Innern des Körpers machen das Individuum ans "industrielle Leistungssystem anschließbar". Bewegung gilt als Mittel gegen das körperliche Zerfließen: Die romantische Ruhelosigkeit ist deshalb eine "Anpassung an die Mobilitätsanforderungen der industriellen Gesellschaften", die wir eigentlich eher im hohen neunzehnten Jahrhundert vermuten.

Die Trennung der durch "Schriftverkehr" verbundenen Individuen nennt Koschorke das "kommunikative Apriori". Dem Selbstzwang, von dem Norbert Elias gesprochen hat, stellt er ein "institutionelles Apriori der Distanz" beziehungsweise "das Apriori der neuen Solitärstandards" zur Seite, das gegenläufige subjektive Fusionsenergien entfesselt. Im "Zeitalter des Buchdrucks" muss es deshalb zu einer "universal-anthropologischen ,Unmittelbarkeit' zwischen ,Mensch' und ,Mensch' kommen", zu einem "Wechselspiel zwischen imaginierter Nähe und bürgerlicher Distanz". Aprioris und Zeitalter sind die bevorzugten Ursachen, die Koschorke namhaft macht. Der "erstarkende Kapitalismus" und die "Totalisierung der Geld- und Warenströme" sind allerdings sehr allgemeine Prozesse, die heute noch nicht abgeschlossen scheinen. Auch das "Zeitalter einer sich anonymisierenden Buchproduktion" und das "Zeitalter eines anschwellenden Buchmarktes" sind ziemlich globale Kennzeichnungen, und das "anbrechende Zeitalter des Viktorianismus" wirft hier bereits 1807 seinen Schatten voraus.

Ein empfindlicher Mangel des Buchs: Es besitzt keinen Index. Die gezielte Prüfung, wie Koschorke Quellen und Studien zitiert und einsetzt, bleibt uns verwehrt. Dass er neben Rousseaus Briefroman "Die neue Héloïse" im Wesentlichen die "Ränder" der Literaturgeschichte betrachtet, vor allem physiologische und medizinische, pädagogische und ästhetische Schriften sowie vergessene literarische Werke, die nicht in den Kanon aufgestiegen sind, macht einerseits den Reiz seines Buches aus. Andererseits entgeht ihm die Anschaulichkeit und Vertrautheit, die Klassiker mitbringen.

Es gibt übrigens ein saftiges Gegenstück zu Koschorkes Studie zum Übergang von fauligen Körpersäften zum imaginären Duft der blauen Blume. Wer auf literarische Weise, ohne theoretische Verdickungen, etwas lernen will über die Geburt des desodorierten "Geistes" aus den Ausdünstungen eines stinkenden Jahrhunderts, der lese noch einmal Patrick Süskinds historisch gut grundiertes und so luftig geschriebenes "Parfum" - eine Geschichte der Innerlichkeit, transponiert in eine Metaphorik der Düfte, ihrer Destillation als "Seele der Dinge", ihres halluzinogenen Überfließens, geschrieben als die Geschichte eines monströsen Parfumeurs, der aus dem Dunstkreis des Paris von 1756 in die absolute Einsamkeit der geruchslosen Innerlichkeit flieht, der dann aus dieser Leere des abstrakten, geistigen Ichs hinabsteigt in ein inzwischen ventiliertes, hygienischeres Jahrhundert und den Menschen ihre duftenden Seelen raubt, um das Wesen des Menschen olfaktorisch neu zu komponieren. Koschorkes Studie macht uns noch einmal deutlich, wie genau Süskinds elegant fließender historischer Roman gerade auch in vielen phantastisch anmutenden Details recherchiert ist. Das hier in Romanform gebannte historische Odeur von Empfindsamkeit und Idealismus, den süßlichen Leichengeruch der Aufklärung, lässt Albrecht Koschorke uns aufs Neue schmecken.

Albrecht Koschorke: "Körperströme und Schriftverkehr". Mediologie des achtzehnten Jahrhunderts. Wilhelm Fink Verlag, München 1999. 507 S., br., 128,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Christoph Albrecht zeigt sich angetan von diesem Versuch, die "Verschriftlichung" der europäischen Kultur im 18. Jahrhundert darzustellen. Mit der immer weiter gehenden Alphabetisierung setze eine Kultur ein, die sich etwa in den Briefromanen Goethes oder Rousseaus repräsentiere: das Zeitalter der Empfindsamkeit und Romantik, die gerade das "kalte Medium" der Schrift aufheize. Vor diesem Zeitalter habe noch eine Physiologie der Körpersäfte, Miasmen und Ausdünstungen vorgeherrscht, nun werde der Körper durch neue hygienische Praktiken gewissermaßen ausgetrocknet, während es die Seele ist, die sich in Herzensergießungen verflüssige. Koschorke knüpfe in seiner Darstellung eher an Niklas Luhmann als an Jacques Derrida an. Albrecht lobt die Ausgrabungen literarischer Quellen und die vielen interessanten Zitate bei Koschorke, findet aber, dass "dieGeschichte der Physiologischen Theorien ... aus dem Blick"