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Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, griff ein rechtsextremer Attentäter in mörderischer Absicht die Synagoge in Halle an. Da es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, attackierte er einen Döner-Imbiss. Er ermordete zwei Menschen, Jana L. und Kevin S., und verletzte mehrere Personen auf seiner Flucht. Mit über 40 Nebenkläger_innen und mehr als 80 Zeug_innen und Sachverständigen fand im Jahr 2020 einer der größten Prozesse gegen einen Rechtsterroristen in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Nach 26 Verhandlungstagen fand dieser seinen Abschluss mit der…mehr

Produktbeschreibung
Am 9. Oktober 2019, dem höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, griff ein rechtsextremer Attentäter in mörderischer Absicht die Synagoge in Halle an. Da es ihm nicht gelang, in die Synagoge einzudringen, attackierte er einen Döner-Imbiss. Er ermordete zwei Menschen, Jana L. und Kevin S., und verletzte mehrere Personen auf seiner Flucht. Mit über 40 Nebenkläger_innen und mehr als 80 Zeug_innen und Sachverständigen fand im Jahr 2020 einer der größten Prozesse gegen einen Rechtsterroristen in der Geschichte der Bundesrepublik statt. Nach 26 Verhandlungstagen fand dieser seinen Abschluss mit der Verurteilung des Täters zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Die einzigartigen Mitschriften der Autor_innen geben die gesamte Verhandlung detailliert wieder und zeigen, wie antisemitische, rassistische und misogyne Gewalt vor Gericht verhandelt wurde. Linus Pook realisiert Videos und schreibt Texte über Antisemitismus und die extreme Rechte. Tuija Wigard ist Politikwissenschaftlerin mit Fokus auf Antisemitismus und Islamismus. Grischa Stanjek arbeitet als Bildungsreferent, Programmierer und Fotograf. Die Herausgeber_Innen gründeten Ende 2019 den Verein democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e. V. und sind dort als Vorstandsmitglieder aktiv. -- On 9 October 2019, during Yom Kippur, the most important holiday in the Jewish calendar, a right-wing extremist carried out a deadly attack on the synagogue in Halle. When he was unable to break into the synagogue, he attacked a kebab stand, murdering two people, Jana L. and Kevin S., and injuring several people as he fled. Involving over forty joint plaintiffs and more than eighty witnesses and experts, one of the biggest trials against a right-wing terrorist in Germany's history was held in 2020. After twenty-six days, the trial ended with a life sentence being handed down to the perpetrator. The authors' unique transcripts of the proceedings provide a detailed account of the entire trial and reveal how anti-Semitic, racist, and misogynist violence was heard in court. Linus Pook makes videos and writes texts on anti-Semitism and the extreme right. Tuija Wigard is a political scientist with a focus on anti-Semitism and Islamism. Grischa Stanjek works as an educational consultant, programmer, and photographer. In late 2019, the editors founded democ. Zentrum Demokratischer Widerspruch e. V. and are now active members of the association's board.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Ronen Steinke kann gar  nicht genug betonen, welches Verdienst den Machern dieses Bandes zukommt. Dass die Aktivisten Linus Pock, Grischa Stanjek und Tuija Wigard beim Prozess gegen Stephan B., den feigen Attentäter von Halle, mitgeschrieben haben und so ein Dokument über Rechtsterror in Deutschland als Debattengrundlage zur Verfügung stellen, findet er großartig. Gut gefällt ihm zudem, dass die Herausgeber sich nur mit wenigen erläuternden Fußnoten im Protokoll zu Wort melden. Entstanden ist laut Steinke ein wertvolles Zeitdokument, in dem die Überlebenden des Anschlags ebenso das Wort haben wie eine engagierte Richterin.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.11.2021

Wort für Wort
Ein Buch schafft die Transparenz, für die sich der
Rechtsstaat nicht zuständig fühlt: Die Mitschriften
des Prozesses gegen den Attentäter von Halle
VON RONEN STEINKE
Die Justiz hat ein schwieriges, ein bisweilen verklemmtes Verhältnis zu ihrem Publikum. In der Theorie, im Verfassungsrecht, steht da strahlend klar der Satz, dass die Gerichte öffentlich tagen. Justitia hat ja nichts zu verbergen, die Öffentlichkeit soll sich ruhig frei ihre Meinung bilden können. Aber in der Realität?
Gerade erst hat zum Beispiel das Oberlandesgericht Koblenz, vor dem ein wirklich historischer, weltweit bedeutsamer Prozess gegen Foltermeister des syrischen Assad-Regimes stattfindet, die Anträge von Menschenrechtlern abgelehnt und kühl-kleinlich beschieden: Nein, Tonaufnahmen soll es nicht geben. Dass sehr viele Menschen weltweit gerne nachhören oder zumindest nachlesen würden, was die Zeugen in Koblenz aussagen? Tja, Pech. Für die Nachwelt bleibt davon: nichts. Auch ein Protokoll wird nicht geführt.
Auch einer der wichtigsten Prozesse des vergangenen Jahres, gegen den Attentäter von Halle, wäre fast ohne Dokumentation geblieben, und das ist schwer zu fassen angesichts der Bedeutung dieses Verfahrens für das Verständnis des erstarkenden Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus hierzulande. Von 21. Juli bis 21. Dezember 2020 wurde der Terroranschlag auf die Synagoge von Halle verhandelt, eine Tat, bei der zwei Menschen getötet wurden und um ein Haar noch viele weitere getötet worden wären.
Der Prozess zeigte eine kleine deutsche Momentaufnahme, mit Blitzlicht erhellt: Sachsen-Anhalt im Jahr 71 des Grundgesetzes. Es ging um einen Täter, den zur Tatzeit 27 Jahre alten Stephan B. aus Eisleben, der sich vollkommen ungestört Waffenbau-Anleitungen aus dem Netz laden konnte. Es ging um eine Familie, die nichts dabei fand; einschließlich der Mutter, immerhin Ethiklehrerin an einer Grundschule, die keine Schuld bei ihrem Sohnes sah. „Er hatte eine gute Seele“, meinte sie. Die Medien „haben ihn mir zerstört.“
Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens hat hier ausnahmsweise erlaubt, dass während des Prozess am Oberlandesgericht Naumburg eine Tonaufnahme läuft. Aber diese Aufnahme darf erst 30 Jahre nach dem Tod der Betroffenen veröffentlicht werden, was natürlich eine grotesk lange Zeit ist: Wiedervorlage irgendwann rund um das Jahr 2100. Hätten sich nicht selbstlose Menschen im Zuschauerraum gefunden, die an jedem Prozesstag mitschrieben, für die Nachwelt wäre auch hier fast nichts geblieben.
Es ist das große Verdienst von drei Aktivisten der antirassistischen Initiative democ, Linus Pook, Grischa Stanjek und Tuija Wigard, dass sie Wort für Wort protokolliert haben, im Zuschauerraum hinter einer Glaswand über einen Laptop gebeugt. Dieses Protokoll bringen sie nun als Buch heraus. Das schafft ein Maß an Transparenz, für das sich der Rechtsstaat hierzulande unbegreiflicherweise nicht selbst zuständig fühlt. Zu verbergen hat die Justiz in diesem Fall nämlich eigentlich gar nichts. Wer die knapp 900 Seiten des Bandes „Der Halle-Prozess: Mitschriften“ durchblättert, sehr angenehm übersichtlich strukturiert durch einen Verlag mit eher künstlerischem Profil, der erlebt eine Vorsitzende Richterin, die vieles richtigmacht.
Sie erteilt den Überlebenden das Wort, und zwar ausführlich. Die Richterin hätte auch kurzen Prozess machen können, der Täter ist geständig, er hat seine Tat selbst gefilmt und das Video ins Netz gestreamt. Aber sie stellt an sich selbst und das Gericht den Anspruch, mehr zu leisten als bloß die angemessene Strafe zu finden. Das macht den Prozess zum zeitgeschichtlich erkenntnisreichen Ereignis.
Man liest noch einmal die Zeugenaussage der jungen Rabbinerin Rebecca Blady aus den USA, die in der Synagoge ausharrte und Todesängste ausstand, während draußen der Attentäter versuchte einzudringen. Im Gerichtssaal erzählt sie von ihrer Großmutter, die in Auschwitz war. Das tut juristisch nichts zur Sache, aber natürlich ist das mindestens der Elefant im Raum, wenn eine Enkelin von Holocaust-Überlebenden plötzlich in Deutschland wegen ihres Jüdischseins um ihr Leben fürchtet.
Wenn man sich dadurch vergegenwärtigt, was für die Rabbinerin Blady ohnehin an jedem Tag in Deutschland gegenwärtig sein dürfte, dann wird noch viel klarer, wieso manche Überlebende des Anschlags so entsetzt waren, als Polizeibeamte in Halle ihnen in den Stunden nach dem Anschlag Zettel mit Nummern anstecken wollten.
„Ich erwähne das hier, auch wenn ich weiß, wie schwierig das ist, denn all das ist wichtig, um das Wesen meines Traumas zu verstehen“, sagt die Rabbinerin also im Zeugenstand und schildert, wie ihre Großmutter an der Rampe in Auschwitz von deren Mutter getrennt worden sei. Wie es dabei noch Schläge auf den Kopf gab. Ihr „Glück“ war, dass sie nach sieben Wochen in Auschwitz für eine Verlegung ausgewählt wurde, zur Zwangsarbeit nach Gelsenkirchen.
Die Richterin lässt alle reden, die reden wollen. Auch Ismet Tekin, den Betreiber des Döner-Imbisses, wo der Attentäter einen Gast erschoss. „Um diesen Tag zu beschreiben, habe ich keine Worte“, sagt er. Für den Mörder aber habe er Worte: „Er ist ein Feigling.“ Die Richterin ist zugewandt. Zu einem Mann aus Eritrea, den der Attentäter auf seiner Flucht durch Halle mit einem Wagen anfuhr, Aftax I., sagt sie anerkennend: „Zurzeit schuften Sie bei Amazon.“ Das ist ihr wichtig zu betonen, eine Art pädagogischer Impetus der Juristin, die lange Jugendrichterin am Landgericht war. Hier die Opfer, die Migranten, die Juden, sie alle seien wertvolle Mitglieder der Gesellschaft, als Wissenschaftler oder Fließbandarbeiter. Und dort Stephan B., der immer nur bei seiner Mutter im Kinderzimmer gehockt habe.
Als einmal eine Überlebende aussagt, Dagmar M., auf die der Attentäter bei seiner Flucht schoss, da wendet sich die Richterin direkt an den Attentäter und sagt: „Frau M. hat sie als Muttersöhnchen bezeichnet. Das wird sie mit ihrer Lebenserfahrung sicherlich gut einschätzen können.“ Als gesellschaftliche Analyse von Rassismus und Antisemitismus ist das eher schwach, zumal man an diesem Fall eigentlich sehr gut sehen könnte, dass der vermeintlich einsame Stubenhocker von seinem Umfeld bestärkt worden ist. Angefangen bei der Mutter, Claudia B., die nach der Tat von Stephan B. einen Suizidversuch unternommen und ihrer Tochter einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, der im Gerichtssaal verlesen wird.
Es sei klar, „dass Juden freie Hand“ hätten, beklagt sie darin. Über Stephan B., ihren Sohn, schreibt sie: „Er hat sein Leben gegeben für die Wahrheit, für euch.“
Im Vorwort zu diesem Band räumen die drei Herausgeber Pook, Stanjek und Wigard ein, dass ihre eigenen fachlichen Interessen ihren Blick womöglich ein wenig einengen würden. Davon ist wenig zu spüren, sie gehen recht strikt dokumentarisch vor, ergänzen das Geschehen im Gerichtssaal nur hin und wieder durch eine erläuternde Fußnote. Entstanden ist ein Zeitdokument, auch eine Ressource für weitere Debatten. Was für ein Glück, dass sich jemand diese Mühe gemacht hat.
Der Einzige aus der Familie des Attentäters, der vor Gericht nicht das Zeugnis verweigern darf, ist der Ex-Freund der Schwester von Stephan B. Alles ganz normal in der Familie, sagt der Ex-Freund an die Vorsitzende Richterin gewandt, alles kein Drama bei ihnen in Eisleben. Bis er von einem der Opferanwälte, Onur Özata, darauf angesprochen wird, dass er selbst bei Youtube Videos hochgeladen hat, auf denen bei einem Trinkwettbewerb Sätze fallen wie: „Das ist nicht dein Neger“.
Alles ganz normal halt.
Die Richterin ist
zugewandt. Sie lässt alle
reden, die reden wollen
Entstanden ist ein
Zeitdokument, eine Ressource
für weitere Debatten
Linus Pook, Grischa Stanjek, Tuija Wigard (Hg.): Der Halle-Prozess: Mitschriften. Spector Books, Leipzig 2021.
900 Seiten, 20 Euro.
Bei Gericht am 21. Dezember 2020 in Magdeburg: Die Vorsitzende Richterin Ursula Mertens (zweite von links), im Vordergrund der Attentäter mit seinen Verteidigern.
Foto: Hendrick Schmidt/dpa
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