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In jeder Familie gibt es sie: Nahe Verwandte, die früh abhanden kamen, Fremde blieben, kaum etwas hinterließen, nicht einmal Fotos. Aus vier Lebensläufen knüpft Vicente Valero einen tief berührenden Familienroman, der auch in seiner poetischen Kraft an W.G. Sebalds "Die Ausgewanderten" denken lässt und doch ganz für sich steht. Wer also ist der unbekannte Großvater, der nach seiner Hochzeitsnacht in eine afrikanische Wüstengarnison abkommandiert wurde und erst als Sterbender nach Ibiza zurückkehrte? Wer jener Onkel, der Schachspieler um die ganze Welt begleitete? Wer der jugendliche Schwager,…mehr

Produktbeschreibung
In jeder Familie gibt es sie: Nahe Verwandte, die früh abhanden kamen, Fremde blieben, kaum etwas hinterließen, nicht einmal Fotos. Aus vier Lebensläufen knüpft Vicente Valero einen tief berührenden Familienroman, der auch in seiner poetischen Kraft an W.G. Sebalds "Die Ausgewanderten" denken lässt und doch ganz für sich steht. Wer also ist der unbekannte Großvater, der nach seiner Hochzeitsnacht in eine afrikanische Wüstengarnison abkommandiert wurde und erst als Sterbender nach Ibiza zurückkehrte? Wer jener Onkel, der Schachspieler um die ganze Welt begleitete? Wer der jugendliche Schwager, der Star, der die Insel für eine Tanzkarriere verlässt? Und wer schließlich ist der andere Großvater, der als Offizier der Republik die Treue hielt und nie wieder aus dem französischen Exil nach Hause kam? Vier verlorene Söhne, die - als Fremde - immer ein Stück unbegreifliche Vergangenheit hinterließen.
Autorenporträt
Valero, Vicente
Vicente Valero, geboren 1963 auf Ibiza, wo er auch heute lebt. Er hat zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht, dazu Essays und erzählende Prosa. Auf Deutsch erschien 2006 "Der Erzähler. Walter Benjamin auf Ibiza 1932 und 1933" (Parthas).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.11.2017

Entferntes Verstehen
Vicente Valero erkundete von Ibiza aus die Geschichten seiner fernen und fremden Verwandten
Eines der ersten Flüchtlingslager war am Nordstrand eingerichtet worden. Eingezäunt durch Stacheldraht und bewacht von senegalesischen Schutzkompanien, fasste es bereits mehr als hunderttausend Flüchtlinge. Keine einzige Baracke war fertiggestellt. Sie mussten auf dem Sand schlafen. Es fehlte an Essen und Trinken, noch dazu an medizinischer Versorgung. Und weil es keine Toiletten gab, weil die im Lager Verstorbenen an Ort und Stelle begraben werden mussten, breiteten sich Ruhr und Typhus aus. Hoffnungslos überfordert schienen die französischen Behörden zu sein, als mit jedem Tag weitere spanische Flüchtlinge ins Land drängten, um nichts als ihr nacktes Leben zu retten.
Es war das Jahr 1939, der Monat Februar. Die Anhänger der Republik hatten den Bürgerkrieg verloren. So auch Major Chico. Um den Nordstrand zu entlasten, wurden er und andere, teils mit Gewehrkolben vorangestoßen, in das Barackenlager Septfonds getrieben. Im Lauf des Sommers trafen auch polnische und jüdische Flüchtlinge ein, weshalb das Lager die Bezeichnung „Camp de Judes“ erhielt. Erst im Januar 1945 durften alle wieder auf freien Fuß und bekamen eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung ausgestellt. Dadurch beruhigte der französische Staat sein schlechtes Gewissen, denn er hatte die Flüchtlinge nicht nur schlecht behandelt, sondern auch für Arbeitseinsätze in der Landwirtschaft herangezogen.
Major Chico kehrte nie mehr nach Spanien zurück. 1970 starb er in einem kleinen Dorf in Südwestfrankreich. Unzählige Spanier, die das Exil für vorübergehend hielten, weil sie Franco verachteten und ihm nichts zutrauten, schon gar keinen Staat, wurden am Ende in Frankreich beerdigt. Wie oft mag der Major in seinem eintönigen Alltag an die Jahre vor dem Bürgerkrieg gedacht haben? Denn er war kein gewöhnlicher Soldat gewesen. Ein Soldat, der kurzzeitig Philosophie studierte; der Bergson und Schopenhauer las; der der Theosophie anhing und in intellektuellen Kreisen verkehrte; der sich in Yoga und Vogelkunde übte. Wurde sein Name unter Verwandten erwähnt, leuchteten die Augen vor Bewunderung, aber schnell verstummte das Gespräch wieder. Vicente Valero nennt Major Chico, seinen Großonkel, den „fremdesten aller fremden Verwandten“.
„Die Fremden“ heißt Valeros Buch, das man einen Familienroman nennen könnte, wenn sich die Lebenslinien der vier porträtierten Figuren auch einmal kreuzen würden. Aber dazu liegen sie zu weit auseinander. Jeder ist auf seine Art und Weise fremd. Eher müsste man zum Genre des literarischen Essays greifen, das hier mit sprachlicher Kunstfertigkeit aufblitzt. Das Buch besteht aus vier Teilen mit jeweils zwei Kapiteln. Es enthält keine Absätze, stattdessen Abschnitte in Blöcken, denen jeweils eine Leerzeile folgt. Bevorzugt lässt Vicente Valero seine Sätze anschwellen. Sein Lieblingssatzzeichen ist das Komma.
Über fremde Verwandte, die es in jeder Familie gibt, weiß man oft gerade so viel, dass es die Fantasie anregt. Valero überlässt das alles seinen Lesern, während er selbst nach Spuren sucht, nach Fotos, Ansichtskarten, Briefen, nach den Erinnerungen der Älteren und den Landschaften seiner Protagonisten, in die er sich viele Jahre später begibt. Der großen Welt der Fremden stellt er die kleine Welt der Insel Ibiza gegenüber, wo er 1963 geboren wurde und auch heute noch lebt. Die Fremden in seinem Essay sind auch deshalb fremd, weil für sie die kleine Welt der Insel schlicht zu eng war.
Ein Halbbruder des Vaters, jahrzehntelang aus den Augen, aus dem Sinn, kommt, weil er sonst niemanden mehr hat, plötzlich zu Besuch. Er ist ein seltsamer Kauz, aber freundlich wie einer, der geliebt werden will. Im Casino spielt er Schach, allein gegen ein Dutzend Gegner, und er gewinnt jede Partie, weil er sein ganzes Leben dem Schachspiel gewidmet hat. Aufrecht sitzend im Tretboot stirbt er einen grotesken Tod, doch da er kurz zuvor seine Einsamkeit überwunden hat, könnte man sagen: Er ist in Frieden gestorben.
Dieses Schicksal wäre für Carlos Cervera undenkbar gewesen. Auf Ibiza hätte er nicht sterben wollen. Gerade sechzehn Jahre alt, flieht er von der Insel, „wo man ihm schon sehr früh zu verstehen gegeben hatte, dass für so fremde Verwandte wie ihn dort kein Platz war“. Carlos ist ein schöner junger Mann, er ist schwul und will Tänzer werden. In Madrid schließt er sich dem Ensemble der berühmten Sängerin und Tänzerin La Argentinita an. Federico García Lorca schreibt Lieder für sie, und so erhält Carlos vom Autor ein Foto mit persönlicher Widmung. Gerne trägt er Lorcas Klagelied auf Ignacio Sánchez Mejías vor, „voller Inbrunst – und, nach Ansicht meines Vaters, mit ein wenig lächerlich und gespreizt wirkenden Gebärden“. Der große Stierkämpfer Ignacio, Liebhaber von La Argentinita, ist in der Arena tödlich verwundet worden.
In Spanien ist Vicente Valero vor allem als Lyriker bekannt. Doch bislang wurde keiner seiner Gedichtbände ins Deutsche übersetzt. Auf Deutsch liegt allerdings „Der Erzähler“ vor. Damit gemeint ist Walter Benjamin und seine Zeit auf Ibiza, 1932 und 1933. Damals schrieb Benjamin an „Berliner Chronik“ und „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“. Auf der kleinen Welt der Insel lässt sich die große Welt scharf in den Blick nehmen. Klein und groß sind keine Kategorien für die Abenteuer des Denkens.
Von Valeros Großvater, Pedro Marí Juan, gibt es nicht mal ein Foto. Er starb jung, im Alter von achtundzwanzig. Ausgebildet zum Militäringenieur, sollte er für Frankreich und Spanien am Kap Juby an der Küste Marokkos den Flughafen ausbauen, Ende der 1920er-Jahre. Dort herrschte ein raues Klima; das Verhältnis zu den Berbern, die sie als Arbeiter brauchten, erwies sich als gespannt. Zum Glück bekam der Stützpunkt einen neuen Chef aus Frankreich, dem die Einheimischen vertrauten, „ein geschickter Vermittler oder auch Schwindler“, wie Valero nahelegt. Noch dazu galt er als waghalsiger Pilot. Er hörte auf den Namen Antoine de Saint-Exupéry. Und niemand hätte damals geahnt, dass er mit „Der kleine Prinz“ einst einen literarischen Welterfolg erringen würde.
Vier Männer, vier Porträts. Gibt es unter den Frauen keine fremden Verwandten? Nicht auf Ibiza. Ohne ihre Arbeit und Fürsorge, lässt Valero durchblicken, wäre das Leben auf der Insel schwer auszuhalten. Aber das könnte sich bald ändern.
RALPH HAMMERTHALER
Absätze gibt es keine,
das liebste Satzzeichen des
Autors ist das Komma
Vicente Valero:
Die Fremden. Aus dem
Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg
Verlag, Berlin 2017. 128 Seiten, 22 Euro.
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