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Folgt man der innenpolitischen Diskussion lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln, wo die Schweiz liegt. Der Umstand, dass ein Land in der geografischen Lage der Schweiz nicht Mitglied der EU ist, beschäftigt Jakob Kellenberger. Es befremdet ihn, dass die Schweiz der Friedensgemeinschaft von Anfang an mit eng herzigem Misstrauen begegnete. Er ist beeindruckt von der Macht eingeschliffener Begriffe und den Begriffsgeräten, an denen schweizerische Politiker seit Jahrzehnten mit ungebremstem Schwung turnen. Und er wundert sich, wie wenig die Fortschritte der EU die Ausstattung der Turnhalle…mehr

Produktbeschreibung
Folgt man der innenpolitischen Diskussion lässt sich nicht zweifelsfrei ermitteln, wo die Schweiz liegt. Der Umstand, dass ein Land in der geografischen Lage der Schweiz nicht Mitglied der EU ist, beschäftigt Jakob Kellenberger. Es befremdet ihn, dass die Schweiz der Friedensgemeinschaft von Anfang an mit eng herzigem Misstrauen begegnete. Er ist beeindruckt von der Macht eingeschliffener Begriffe und den Begriffsgeräten, an denen schweizerische Politiker seit Jahrzehnten mit ungebremstem Schwung turnen. Und er wundert sich, wie wenig die Fortschritte der EU die Ausstattung der Turnhalle beeinflusst haben. Offen und kritisch zugleich zeichnet der erfahrene Unterhändler nach, wie sich die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU gestaltet haben. Er anerkennt die friedenspolitischen Leistungen der EU und glaubt, dass eine neue Einstellung zur EU notwendig ist, um künftige Entwicklungen mit Zuversicht ins Auge zu fassen.
Autorenporträt
Jakob Kellenberger (_ 1944) Dr. phil., wählte 1974 die diplomatische Laufbahn, die von der Gestaltung der Beziehungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union geprägt war. 1992-1999 war er Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten, 2000-2012 Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Heute lehrt er an der ETH Zürich, der Universität Salamanca und am Hochschulinstitut für Internationale Studien und Entwicklung in Genf.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.03.2015

Geschnetzeltes für die Alpenfestung
Jakob Kellenberger analysiert das schwierige Verhältnis der Schweiz zur EU

Die knappe Zustimmung der schweizerischen Stimmbevölkerung zur "Masseneinwanderungsinitiative" vom 9. Februar 2014 wurde im In- und Ausland mit allgemeinem Erstaunen registriert. Denn bisher hatten die praktischen wirtschaftlichen Vorteile einer engen bilateralen Zusammenarbeit mit der EU argumentativ stets die emotional geschürten Ängste vor angeblicher "Überfremdung" und mutmaßlicher "Fremdbestimmung" durch Brüsseler Institutionen überwogen. In der Eidgenossenschaft ist ein regelrechter Kulturkampf um das Verhältnis zur Europäischen Union entbrannt, der führende Exponent des nationalkonservativen Lagers, Christoph Blocher, legte vor einigen Monaten demonstrativ sein Abgeordnetenmandat nieder, um sich fortan ganz dem Kampf gegen "EU-Europa" zu widmen.

Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums befinden sich Personen wie der ehemalige Spitzendiplomat und vormalige Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Jakob Kellenberger, der mit der programmatischen Streitschrift "Wo liegt die Schweiz?" in die öffentliche Debatte eingreift. Diplomatische Zurückhaltung hat Kellenberger weitgehend abgelegt, zu tief sitzt der Ärger über den seiner Meinung nach falschen Kurs in der Europapolitik: "Begründungspflichtig für ein Land in der Lage der Schweiz ist nicht der EU-Beitritt, sondern seine Ablehnung."

In Anlehnung an Reinhart Koselleck setzt sich der Autor näher mit wichtigen Begrifflichkeiten der schweizerischen Geschichte und Gegenwart auseinander, darunter "Fremde Richter", "Souveränität" und "Neutralität". Zu Letzterer führt Kellenberger aus, die Sicherheit der Schweiz werde heute maßgeblich dadurch bestimmt, dass sie von EU- und Nato-Staaten umgeben sei, die Neutralität habe sich insofern zu einem reinen "Identitäts- und Wohlfühl-Begriff" entwickelt. An dieser Stelle macht es sich der Autor allerdings zu leicht. Die Neutralität verweist - jenseits von Begriffskonstruktionen - realpolitisch immer auf eine Alternative zum Ist-Zustand; im Krieg verheißt sie Frieden, und im Frieden erinnert sie an die Möglichkeit eines Krieges. Vor dem Hintergrund des Konflikts in der Ostukraine und sich verschlechternder Ost-West-Beziehungen wird sie die schweizerischen Diskussionen als praktizierte außen- und sicherheitspolitische Handlungsmaxime auch zukünftig bestimmen.

Bei der Betrachtung der europäischen Wirklichkeit wirft Kellenberger seinen Landsleuten Realitätsverweigerung vor. Die Überwindung des Ost-West-Konflikts, der Prozess der Globalisierung und die Erweiterung der Europäischen Union von 12 auf mittlerweile 28 Staaten hätten eigentlich ein Umdenken in der Schweiz auslösen müssen, zumal andere wichtige neutrale Länder aus Zeiten des Kalten Krieges und EFTA-Partner - Finnland, Österreich und Schweden - aus wohlverstandenem Eigeninteresse längst den Schritt zur Mitgliedschaft vollzogen haben.

Mehr Realismus fordert Kellenberger auch bei der Analyse der eigenen Interessen und Prioritäten. Das Außenhandelsvolumen der Schweiz mit Baden-Württemberg bewegt sich auf vergleichbarem Niveau mit dem gegenüber den Vereinigten Staaten von Amerika, und der Handel mit der Lombardei entspricht der Größenordnung des Austauschs mit der Volksrepublik China. In Verkennung dieser Tatsachen konzentriere sich die innerschweizerische Debatte jedoch auf die Abkehr Islands vom EU-Beitrittskurs oder den Abschluss des Freihandelsabkommens mit China als vorgebliche Bestätigung eigenen Tuns. An dieser und an anderen Stellen gelingt Kellenberger ein überzeugendes Plädoyer für Nähe und Kooperation, das verdeutlicht, wie sehr eine möglichst enge Anbindung an die EU eigentlich auch im nationalen Interesse der Schweiz selbst begründet läge.

Umgekehrt setzt sich Kellenberger ebenfalls kritisch mit dem gegenwärtigen Zustand der Europäischen Union auseinander. Besondere Beachtung dürfte sein Vorschlag finden, vor dem Hintergrund der durch den Lissabon-Vertrag geschaffenen Möglichkeit zum EU-Austritt und dem anstehenden britischen Referendum in allen EU-Mitgliedsstaaten Volksabstimmungen über deren Verbleib im Staatenbund durchzuführen. Auf diese Weise könne der gegenwärtige Zustand der Unsicherheit überwunden und die Handlungsfähigkeit der Institutionen wieder gestärkt werden. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass bei einer größeren Zahl von Austritten wohl eher eine Legitimationskrise der EU die Folge wäre. Außerdem ist zu fragen, was eigentlich passierte, wenn sich unter den dann Austretenden auch Länder der Eurozone befänden.

Skeptisch beurteilt Kellenberger die Erfolgschancen des neuen Fiskalpakts, was durch die Ernennung des ehemaligen französischen Finanzministers Pierre Moscovici zum Währungskommissar und der verschobenen Entscheidung der EU-Kommission über die Sanktionierung von "Defizitsündern" besondere Aufmerksamkeit verdient: "Der Umsetzungswille erst wird zeigen, ob es sich um mehr als eine momentane Beruhigungs-Maßnahme handelte, die den Weg für weitere Hilfskredite an Krisenländer frei machen sollte. Dass die einen Versprechen machen, deren Einhaltung erst morgen überprüfbar ist, und die anderen heute zahlen, gehört offenbar zur Euro-Rettungsdynamik."

Der Schreibstil ist bisweilen etwas technokratisch und verrät den ehemaligen schweizerischen Chefunterhändler in Verhandlungen mit der EU. Stellungnahmen und Wertungen sind hingegen erfrischend offen und pointiert, an einigen Stellen nimmt der Sarkasmus freilich überhand. Wo also liegt die Schweiz? Zwar nicht als Insel im Pazifik, wie die außenpolitischen Prioritäten einiger EU-Kritiker nach Ansicht des Autors vermuten lassen könnten, aber doch als eine Insel, umgeben von der Europäischen Union mit ihren 500 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandprodukt (2013) von 17372 Milliarden US-Dollar. Es ist Kellenbergers Verdienst, auf diese wichtigen Realitäten hingewiesen zu haben.

PHILIP ROSIN

Jakob Kellenberger: Wo liegt die Schweiz? Gedanken zum Verhältnis CH - EU. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 2014. 253 S., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit dem ehemaligen Dipolmaten Jakob Kellenberger lernt Philip Rosin die Realitäten der Schweiz kennen. Im Kulturkampf der Eidgenossen um die EU-Frage nimmt der Autor laut Rezensent wenig zurückhaltend Stellung und setzt sich mit Begriffen der schweizerischen Geschichte auseinander, Neutralität, Souveränität etwa, um die Wohlfühlmentalität dahinter zu entdecken und die Realitätsverweigerung der Schweizer anzuprangern. Auch wenn Kellenberger hier für Rosin mitunter zu weit geht und seiner Meinung nach die Chancen der Neutralität gleich mit über Bord wirft, anerkennt er doch die Verärgerung des Autors. Glaubwürdig wird das Plädoyer für Kooperation für den Rezensenten nicht zuletzt dadurch, dass Kellenberger sich auch kritisch mit dem Zustand der Eu auseinandersetzt. Den technokratischen Stil des Buches verzeiht der Rezensent angesichts pointierter und erfrischender Wertungen.

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