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In seinem Buch Nahes und fernes Unglück hatte Henning Ritter die Karriere des Mitleids in Augenschein genommen. Seine Spurensuche führte damals von Jean-Jacques Rousseau bis zu Dostojewski, Sigmund Freud und Ernst Jünger. Doch das Mitleid hat einen hässlichen Zwilling: die Grausamkeit. Ritter geht nun den Versuchen nach, auch die dunkle Seite der Zivilisation gedanklich zu durchdringen - und zeigt uns dabei einmal mehr die hohe Kunst des Lesens. Es ist ein irritierendes Phänomen: Obwohl die Menschheit immer aufgeklärter wird, nimmt die Grausamkeit nicht ab. Im Gegenteil. Die Französische…mehr

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Produktbeschreibung
In seinem Buch Nahes und fernes Unglück hatte Henning Ritter die Karriere des Mitleids in Augenschein genommen. Seine Spurensuche führte damals von Jean-Jacques Rousseau bis zu Dostojewski, Sigmund Freud und Ernst Jünger. Doch das Mitleid hat einen hässlichen Zwilling: die Grausamkeit. Ritter geht nun den Versuchen nach, auch die dunkle Seite der Zivilisation gedanklich zu durchdringen - und zeigt uns dabei einmal mehr die hohe Kunst des Lesens.
Es ist ein irritierendes Phänomen: Obwohl die Menschheit immer aufgeklärter wird, nimmt die Grausamkeit nicht ab. Im Gegenteil. Die Französische Revolution proklamiert die Menschenrechte und lässt die Köpfe rollen. Der Terror wird zum Begleiter der Moderne, und die Kriege produzieren eine neue Gleichgültigkeit des Tötens. Von Stendhal und Alexis de Tocqueville bis zu Arthur Schopenhauer und William James beginnt ein neues Nachdenken über die Schreie der Verwundeten und die moralischen Verwirrungen, die uns die Moderne zumutet. Henning Ritter, einer der brillantesten Essayisten unserer Zeit, schildert in diesem Band die Zwiesprache von Grausamkeit und Mitleid, die zur Signatur eines ganzen Zeitalters geworden ist.
Autorenporträt
Henning Ritter, 1943 geboren, war von 1985 bis 2008 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung verantwortlich für das Ressort "Geisteswissenschaften". Zahlreiche Publikationen, u. a. als Herausgeber. Im Jahr 2000 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg verliehen. Er ist Träger des Friedlieb-Ferdinand-Runge-Preises und des Ludwig- Börne-Preises. 2011 erhielt er den Preis der Leipziger Buchmesse. Henning Ritter lebt bei Frankfurt am Main.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Als "großen Leser" würdigt Michael Stallknecht den gerade verstorbenen Autor Henning Ritter. Die sechs lose miteinander verbundenen Essays seines letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Buchs "Die Schreie der Verwundeten" kreisen für ihn um die "moralische Ambivalenz der Moderne". Das Besondere von Ritters Texten sieht er darin, dass sie die Denker, die sie behandeln, schlicht "ausreden" lassen, statt sie historisch oder philologisch auseinanderzunehmen und sie moralisch oder politisch zu bewerten. Er schätzt Ritters offenes Denken, sein symbolisches Lesen von Geschichte, seine Vorliebe für Selbstdenker, seine Ferne zum Pädagogischen bei gleichzeitig ethischem Anspruch.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 29.06.2013

Grausamkeit ohne Grausamkeit
„Das mit letzter Konsequenz gewollte Gute wird böse“: Der große Leser Henning Ritter
denkt noch einmal über die moralische Ambivalenz der Moderne nach
VON MICHAEL STALLKNECHT
Je vous remercie, Monsieur“, bedankt sich der schwerverwundete Robespierre bei einem, der ihm den Schweiß von der Stirne wischt. Wissend, dass die Guillotine auf ihn wartet, hat sich der Revolutionsführer eine Kugel ins Gesicht geschossen. „Er verwendet die von der Revolution verworfene Anrede“, schreibt Henning Ritter, „als wisse er, daß mit ihm der ‚citoyen‘ stirbt.“
  Ritter, der vor wenigen Tagen gestorben ist ( SZ vom 25.6.2013), musste solche Höflichkeit nicht erst lernen. „Die Schreie der Verwundeten – Versuch über die Grausamkeit“ lautet der Titel seines letzten zu Lebzeiten erschienenen Buches. (Wie man hört, hat er noch ein weiteres zur Idee des Museums fertigstellen können.) In ihm versammelt er noch einmal eine Reihe von Denkern, die er als Messieurs, als seine Herren begreift und deshalb als seine Freunde behandelt: Jules Michelet, den Chronisten der Großen Revolution, Benjamin Constant und Alexis de Tocqueville, die beiden liberalen Staatsmänner und -denker, Henri Dunant, den Gründer des Roten Kreuzes, oder Charles Darwin, der die Natur selbst für grausam erklärt. Ritter wirft sie nicht auf den Seziertisch der historischen und philologischen Wissenschaften. Er versieht sie nicht einmal mit Fußnoten, die sie der fortschreitenden Verlinkung nutzbar machen könnten. Er bewertet nicht, was sie tun, und noch weniger, was sie sagen, nicht in moralischen und schon gar nicht in politischen Kategorien. Er lässt sie schlicht ausreden. Und doch spürt man früh in den sechs lose zusammenhängenden Essays, wie Henning Ritter – nicht subtil manipulierend, sondern durch bloße Aufmerksamkeit – das Gespräch darauf lenkt, was man wohl als den großen Umriss seiner in den letzten zwanzig Jahren veröffentlichten Monografien begreifen darf: die innere Widersprüchlichkeit der Moderne oder – um es mit einem Denker zu sagen, den Ritter nicht zu seinen besten Freunden rechnete – die „Dialektik der Aufklärung.“
  „Nahes und fernes Unglück – Versuch über das Mitleid“ hieß 2004 der Vorgängerband, in dem Ritter schon einmal die spezifisch moderne Ambivalenz von Humanität und Grausamkeit befragt hatte, deren Modellfall die Französische Revolution bleibt. „Grausamkeit ohne Grausamkeit“ bescheinigt im neuen Band Stendhal einem Zeitalter, das die Leidenschaften dem Kalkül geopfert hat. „Gerade weil die modernen Völker keinen kriegerischen Geist hatten“, findet Ritter den Gedanken bei Constant wieder, „waren ihre Kriege so grausam“. Die Zivilisation trägt nicht nur den Geist des Handels in den Krieg und macht ihn fruchtbar für dessen Ziele. Sie schleift neben den grausamen Instinkten auch solche ab wie das Mitleid mit den Besiegten und den Respekt vor den Schwachen. Eben weil die modernen Völker den Frieden lieben, bieten ihre Politiker ihnen diesen gern als moralisch hochwertigen Kriegsgrund an. Amerika, beobachtet Tocqueville, vernichtete seine Ureinwohner in höchst gesetzlichen Formen.
  Doch blühen die vorrationalen Ansprüche des Mitleids zugleich neu auf. Sören Kierkegaard sucht sie aufrechtzuerhalten, gerade indem er gegen die institutionalisierte Mildtätigkeit polemisiert. Schopenhauer protestiert gegen die rationale Ethik Kants, die das Mitleid zu den niederen Motiven zählt. William James begründet die pragmatische Ethik, indem er die „Schreie der Verwundeten“ als Maßstab für die Tauglichkeit eines Ideals einführt. Von nun an geht Moral auf ihre Ausdehnung aus, indem sie sich an den jeweils Ausgegrenzten orientiert.
  Es ist unmöglich, ein Buch von Henning Ritter zusammenzufassen. Man muss es lesen, wie man eine Begegnung nur erleben kann. Denn allein der Versuch unterwürfe es jenem systematischen Anspruch, der das Ende des Gesprächs, vielleicht sogar den Tod des Denkens bedeutete. Unterhält sich Ritter in „Die Schreie der Verwundeten“ doch selbst wieder lieber mit den „Selbstdenkern“ als mit den „Systemdenkern“, wie Karl Heinz Bohrer zu unterscheiden pflegt. Gespräche leben davon, dass noch gegen das Richtige ein Einwand erfolgt. Da erscheint zum Beispiel der Liberalismus mit Benjamin Constant als historischer Ausweg aus dem Dilemma zwischen Aufklärung und Revolution: Freiheit von der Politik statt Freiheit zur Politik. Zugleich aber weiß auch Constant, dass damit alles Öffentliche der zunehmenden Normierung verfallen und nur noch „Abwechslung und Unterhaltung“ dienen wird. Liberale Gesellschaften, fügt Tocqueville hinzu, stellen am Ende gern den Wohlstand über die Freiheit.
  Dass Ritter unmittelbare Parallelen zur Gegenwart fast immer meidet, dürfte in einer Scheu vor aller Pädagogik begründet sein. Indem er die Gegenwart nur als Grenzfunktion der Vergangenheit aufblitzen lässt, bewahrt er ihr zugleich die Offenheit. Denn Ritter liest Geschichte gern symbolisch, nie aber als geschlossene Bahn. Deshalb misstraut er zugleich dem moralischen Fortschritt, wie ihn eine pragmatische Ethik à la William James oder Richard Rorty entwirft, wittert in ihr einen „ethnozentrischen Moralimperialismus“. Es sei nicht verschwiegen, dass Ritter die Aporien einer universalen Moral im Vorgängerband über das Mitleid schon konziser und dichter zu fassen bekommen hatte. Und noch etwas fällt auf im Vergleich: dass Ritter auch beim Versuch in Sachen Grausamkeit die finstersten Verließe des Denkens meidet, dass selbst unter den geliebten Franzosen de Sade (über den er andernorts schrieb), Flaubert oder Bataille fehlen. Das Mitleid bleibt der Horizont, der Übergang ins 20. Jahrhundert die selten übertretene Schwelle des Gesprächs.
  Denn weit über den stilistischen Anspruch hinaus reklamieren Ein- und Widerspruch bei Ritter einen ethischen. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, hat Carl Schmitt geschrieben, den Ritter zu den Freunden rechnete. Ritter spricht immer nur vom einzelnen Menschen, den er aufspürt „in seinem Widerspruch“. Da sammelt ausgerechnet der Mitleidsdenker Schopenhauer manisch die in Tageszeitungen berichteten Grausamkeiten oder sucht Darwin die Konsequenzen des eigenen Denkens zu verheimlichen. Selbst Robespierre erscheint human in eben den Widersprüchen, die er bei sich selbst zu leugnen suchte. Er bleibt das Beispiel, dass Reinheit, auch im Denken, tötet. „Das mit letzter Konsequenz gewollte Gute wird böse, das Böse treibt das Gute aus sich hervor.“
  Wenn Ritter die Moderne als die Epoche der unendlichen Widersprüche las, dann war es, so gesehen, nicht einmal das schlechteste Zeugnis, das er ihr ausstellte.
Benjamin Constant, Henri Dunant,
Charles Darwin – Ritter bewertet
nicht, er lässt sie ausreden
  
  
  
  
Henning Ritter: Die Schreie der Verwundeten. Versuch über die Grausamkeit. Verlag C. H. Beck, München 2013.
188 Seiten, 19,95 Euro.
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