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Ein Dorf in Ostfriesland, Kühe grasen auf den Wiesen, ab und zu zerreißt der Lärm eines Tieffliegers die Stille. Hinter den getrimmten Tujenhecken des Neubauviertels blühen die Blumen, in den Auffahrten glänzen frisch gewachste Neuwagen. In diese Welt wird Mitte der Siebzigerjahre Daniel Kuper, Spross einer Drogistendynastie, hineingeboren. Ein schmächtiger, verschlossener Junge mit viel zu viel Fantasie und zu wenigen Möglichkeiten. Doch bald geschehen seltsame Dinge: Mitten im Sommer kommt es zu heftigem Schneefall, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler stellt sich auf die Bahngleise,…mehr

Produktbeschreibung
Ein Dorf in Ostfriesland, Kühe grasen auf den Wiesen, ab und zu zerreißt der Lärm eines Tieffliegers die Stille. Hinter den getrimmten Tujenhecken des Neubauviertels blühen die Blumen, in den Auffahrten glänzen frisch gewachste Neuwagen. In diese Welt wird Mitte der Siebzigerjahre Daniel Kuper, Spross einer Drogistendynastie, hineingeboren. Ein schmächtiger, verschlossener Junge mit viel zu viel Fantasie und zu wenigen Möglichkeiten. Doch bald geschehen seltsame Dinge: Mitten im Sommer kommt es zu heftigem Schneefall, ein Kornkreis entsteht, ein Schüler stellt sich auf die Bahngleise, Hakenkreuze tauchen an den Hauswänden auf. Für all das wird Daniel Kuper verantwortlich gemacht. Und je mehr er versucht, die Vorwürfe zu entkräften, desto stärker verstrickt er sich in ihnen. Daniel Kuper beginnt einen Kampf gegen das Dorf und seine Bewohner. Sie sind es, gegen die er aufbegehrt, und sie sind es, gegen die er am Ende verliert. >Gegen die Welt< ist ein großer deutscher Roman: über die Wende in Westdeutschland, über Popkultur in der Provinz und über Freundschaften, die nie zu Ende gehen. »Ein tollkühner Roman über Freundschaft und Verrat. Rebellisch und bewegend, wahnsinnig und witzig. Großes Kino.« Sönke Wortmann
Autorenporträt
Jan Brandt, geboren 1974 in Leer (Ostfriesland). Sein Roman ¿Gegen die Welt¿ (DuMont 2011) stand auf der Shortlist des Deutschen Buch-preises und wurde mit dem Nicolas-Born-Debütpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen außerdem ¿Tod in Turin¿ (2015), ¿Stadt ohne Engel¿ (2016), ¿Der magische Adventskalender¿ (2018) und ¿Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt¿ (2019).
Rezensionen
"Das ehrgeizigste Debüt der neuen Saison." -- FAZ

"Ein berührendes, aufwühlendes und brillantes Buch und das deutsche Debüt des Jahres!" -- BÜCHER

"Ein Debüt, das aufs Ganze geht." -- BOERSENBLATT.NET

"Eine zu Herzen gehende Geschichte (...) und auch optisch ausnehmend schönes Buch. Ein grandioser Rundumblick auf eine kleine Welt, in der sich mehr von der großen Welt da draußen widerspiegelt als ihre Bewohner manchmal erkennen können." -- SPIEGEL ONLINE

"Ich habe selten etwas von einem neuen Autor gelesen, das mich auf so vielen Ebenen begeistert, erinnert, unterhalten und fasziniert hat, und prognostiziere ihm einen durchschlagenden Erfolg!" -- EMOTION.DE

"Es fehlt ja sonst so oft an Genauigkeit, an Sprachgefühl, Liebe zum Gegenstand und Wut über den Zustand der Welt. All das gibt es in Brandts Buch. (...) Jan Brandt zeigt, was für ein guter Erzähler er ist, wie genau er beobachtet, wie er unterschiedliche Tempi beherrscht und wie er eine Geschichte verknappen und beschleunigen kann." -- FAS

"Brandts halluzinogener Roman "Gegen die Welt" ist ein Wunderwerk über Erwachsenwerden in der Provinz, Freundschaften, weites Ostfriedland, den noch weiteren Pop und sowieso, über den ganzen Rest." -- STERN

"Ein kolossaler Debütroman: Es ist ein Meisterstück, wie nahe er Personen kommt." -- HAMBURGER ABENDBLATT

"(...) eines der ehrgeizigsten Buchprojekte dieses Herbstes." -- BERLINER MORGENPOST

"Gegen die Welt liest sich wie ein Bastard aus dem Uwe Johnson der Jahrestage, der Abgründigkeit von J.D Salinger und dem Horror von Stephen King (...)" "Eine wilde Mixtur aus verstellt autobiografischer Rekonstruktion, Jugendroman, Coming-of-Age-Geschichte und fiebriger Untergangsfantasie. Ein wuchtiges, wunderbar anmaßendes und in seiner Detailversessenheit und seinem lexikalischen Reichtum triumphales Buch, das sich gegen eine Welt der Verhinderung und der Unterdrückung richtet." -- ROLLING STONE

"Ein beeindruckendes Buch." -- ZEIT ONLINE

"Brandt schreibt herrliche Dialoge. (...) Ein hoch ambitioniertes Projekt. Man langweilt sich nicht ein einziges Mal." -- JOURNAL FRANKFURT

"Dass seine pessimistische Weltsicht dennoch nicht zu einer deprimierenden Lektüre führt, verdankt sich der formalen Brillanz, mit der Jan Brandt seinen Stoff präsentiert." -- WDR3
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.09.2011

Der nächste Bundestrainer kann nicht Dieter Schatzschneider heißen

Hier hätten die Brüder Karamasow sich einiges abschauen können: Jan Brandt legt mit "Gegen die Welt" einen gewaltigen, beeindruckenden Roman vor, der das Zeug zum Sieger hat.

Von Edo Reents

Der Lokführer, der mit den Selbstmördern auf den Gleisen nicht fertig wird, bezieht es nur aufs Wetter; aber man versteht es bald in einem allgemeinen Sinne: "Vorhersagen mögen für den Rest der Republik gelten, für Ostfriesland sind sie nutzlos. Hier muss man jederzeit auf alles gefasst sein." Machen wir uns gefasst auf ein Romandebüt, dessen Umfang (mehr als neunhundert Seiten) nicht die einzige Überraschung ist. Hier wird keine Tee-und-Kluntje-Romantik verzapft, es gibt weder Moorleichen noch Ostfriesennerze, und es wird auch kaum Plattdeutsch gesprochen. Das lokale Aroma ist nicht besonders streng und der Ort des Geschehens, das fingierte Dorf Jericho, hinter dem sich die Stadt Lee verbirgt, vielleicht zufällig gewählt.

"Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen" - in diesem berühmten Einstieg in Uwe Johnsons Debüt "Mutmaßungen über Jakob" (1959) spiegelt der vorliegende Roman. Johnson ließ seinen im ostdeutschen Jerichow spielen; das Weglassen des letzten Buchstabens erlaubt hier die zusätzliche Assoziation ans biblische Jericho: die Stadt, die nur um den Preis des Todes eines Erstgeborenen wieder aufgebaut werden darf. Johnsons Roman bildete die Keimzelle zu den "Jahrestagen"; Jan Brandt geht mit "Gegen die Welt", an dem er, wie man hört, zehn Jahre schrieb, gleich aufs Ganze und fordert, wie schon lange kein Debütant mehr, ja wie überhaupt nur wenige Schriftsteller, die Literaturkritik dazu heraus, über ein klassisches Kriterium der Romankunst nachzudenken: Totalität.

Der Lokführer Walter hat Peter Peters schuldlos auf dem Gewissen, der von seinen Mitschülern augenscheinlich in den Selbstmord getrieben wurde, nicht ohne einem von ihnen, dem Drogistensohn Daniel Kuper, einen Wink mit auf den Weg zu geben, der nicht im erstaunt fragenden Sinne Cäsars zu verstehen ist, sondern, nach dem Goethe-Gedicht ("Warte nur, balde ruhest du auch"), als Prophezeiung, mit der die von Anfang an beunruhigende Gesamtstimmung noch geschürt wird. Walters triste Lebensgeschichte wird im ersten Romandrittel unter einem Doppelstrich monologisch referiert, während oben die eigentliche Handlung weiterläuft: die zwischen Langeweile, Alkohol, Tabak und Heavy-Metal-Musik changierende, ungemein genau und ohne ein einziges Klischee erfasste Provinzexistenz der vier Freunde Daniel, Onno, Rainer und Stefan, die Peter Peters dem Lokführer schließlich zutreiben wie ein von überhellem Licht in Panik versetztes Reh, mit denen es aber selbst auch kein gutes Ende nimmt. Erging es Peter Peters wie Johnsons Jakob Abs, war es Selbstmord, Mord oder ein Unfall? Die Lokführer-Einschaltung ist nur das sichtbarste Indiz für die außergewöhnlichen Ambitionen eines Romans, dessen Multiperspektivität Konzentration erfordert, aber nie unübersichtlich wird und in den verschiedene Textsorten wie Briefe, Plakate und Werbebroschüren eingeflochten sind. Es beginnt mit einem anonymen, handschriftlich ergänzten Schreibmaschinenbrief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder. Er datiert vom 9. August 1999 und warnt den Regierungschef vor einer außerirdischen Invasion, "die am 19.9. 1999 in Jericho beginnen soll". Tatsächlich ist dies der Tag, an dem Stefan, einer der vier Freunde, in einem genialischen mathematisch-physikalischen Experiment buchstäblich verglüht.

Dieser Science-Fiction-Rahmen ist so weit gespannt, dass er für den größten Teil der Handlung keine direkte Rolle spielt; aber es geht von ihm eine Spannung aus, die an Steven Spielbergs "Unheimliche Begegnung der dritten Art" erinnert, wo auch lange nichts Spektakuläres passiert und der Protagonist (Richard Dreyfuss) in der Erwartung auf etwas Unbestimmtes, nur ihm Zugängliches hin lebt. Der ostfriesische Protagonist ist Daniel, mit dessen Kindheit der Roman im Sommer 1983 einsetzt. Es wurde schon Irritation angesichts der nicht nur hier spürbaren Detailverliebtheit geäußert, die den Roman stellenweise in der Tat fast zum Stillstand bringt. Lässt man sich darauf ein, dann merkt man, wie angemessen dies dem sich zäh dahinwälzenden Geschehen ist, das mehr illustriert als die sprichwörtliche Langsamkeit der Provinz. Nicht nur die sorgfältigen Schilderungen von Familien-, Schul- und Dorfszenen, auch die langen Aufzählungen von Personen, Spielzeug, Verkaufsartikeln und Autos lösen die Totalität, um die es dem Autor zu tun ist, ein und erzeugen dabei tatsächlich jenen Sog, von dem im Zusammenhang mit Literatur so oft die Rede ist.

Den markengläubigen Hang zum Archivalischen kennt man von der Popliteratur, aber damit hat dieses Buch nichts zu tun. "Gegen die Welt" ist von anderer Familie: außer Johnson wäre Dostojewski zu nennen, an Zeitgenossen Frank Schulz und dessen "Hagener Trilogie", die nicht nur vom Sujet her ein naher Verwandter ist, sondern auch aufgrund der psychologischen Tiefe bei gleichzeitiger Breite des Erzählens. Wie genau der überwuchernde Roman konstruiert ist, wie sicher der Autor die Fäden über die Distanz in den Händen und die Leitmotivik im Auge behält, merkt man ganz am Anfang und ganz am Ende: In jenem Sommer 1983 schließt Daniels Vater Bernhard, genannt Hard, mit Arne Mengs, dem Vater des Daniel in Hassliebe verbundenen, dicklichen Schulfreunds Volker, in Bierlaune folgende Wette ab: "2013 ist Schatzschneider Bundestrainer. Einsatz: 100,- (+ Zinsen)". Gemeint ist der damalige Hannover-96-Spieler Dieter Schatzschneider. Der Zettel taucht ganz am Ende wieder auf, Vater Mengs zeigt ihn Volker, der inzwischen Pastor in Verden an der Aller ist und bei der Räumung des Jerichoer Elternhauses hilft.

Mit sanfter Entschlossenheit werden wir zuletzt ins Zeitalter von Facebook gebeamt, wo es der Mengs-Sohn auf immerhin einunderteinundvierzig Freunde gebracht hat. Sobald man sich darüber wundert, dass Volker diese als Epilog funktionierende Episode in der Ich-Form erzählt, wird einem die Ungeheuerlichkeit dieser Reminiszenz klar: Volker, das unterprivilegierte Kind aus eigentlich privilegiertem, linksliberal-ökoaktivem Lehrerhaushalt, war einst in Daniel verliebt, der das denkbar schroff zurückwies. Die Rekapitulation dieser einseitigen Liebe gehört zu den vielen Glanzstücken des Romans und ist der Homosexuellen-Schilderung von Hans Castorps Hippe-Erlebnis im "Zauberberg" an Einfühlsamkeit und Kühnheit überlegen. Die zuletzt eisige, gespenstisch abgeklärt wirkende Sprache verrät aber die Gemütsverfassung des "schwulen Doppelmörders", der Volker geworden ist.

Das Schicksal der Hauptfigur ist nicht denkbar ohne den hoffnungslos tiefen Abgrund, der diese vom Dorfgeschehen trennt und naturgemäß den meisten Platz beansprucht. In jenem Sommer 1983 wird Daniel nackt und traumatisiert aufgegriffen, nachdem er auf einem rätselhaft verunstalteten Maisfeld eine Begegnung mit Außerirdischen hatte - oder auch nicht. Jericho wird damit so schnell bekannt, wie wieder Gras über die Sache wächst. Nur Daniels Außenseiterstatus hat sich damit endgültig verfestigt; er gilt als Spinner, wahlweise auch als homosexuell. Das Gymnasium bricht er ab, die alten Freundschaften auch. In diesen Passagen werden die Dramen von eigentlich begabten Kindern gespielt, die auf so persönliche wie typische Weise scheitern. Die Provinz hat schon manchen intellektuell Veranlagten in die Flucht oder in den Wahnsinn getrieben, und die ostfriesische macht dabei sicherlich keine Ausnahme - entweder man macht hier mit, oder man hat es etwas schwerer als andere; das ist überall auf dem Land so. So gesehen, ist Ostfriesland, um die tieferen Konflikte sichtbar werden zu lassen, ein Schauplatz wie jeder andere, den der Autor bemerkenswert unaufdringlich, aber mit kaltem Blick abbildet. Man sehe nur das Kurzporträt von Volkers Mutter: "Ihre Existenz als Nichtostfriesin hat sie seit dem Umzug nach Jericho vor siebenundzwanzig Jahren durch eine übertrieben vollständige Aneignung des Plattdeutschen zu verschleiern versucht."

Daniel fasst vorübergehend Fuß in einer Lokalzeitung, wird aber mit Wandschmierereien in Verbindung gebracht, von denen die Leute gar nicht so genau wissen wollen, ob es Hakenkreuze oder deren Übertünchungen sind. Der Leser sieht ihn als Antifaschisten, der dem rechtsnationalen Bürgermeisterkandidaten und Bauunternehmer Rosing die Stirn bietet. Glänzend in ihrer Perfidie gerät dessen Bewerbungsrede, mit der das latent Politische des Romans genauso an die Oberfläche kommt wie in der Sorge des unverbesserlich fremdgehenden Drogisten Kuper, vom Schlecker-Konzern verdrängt zu werden. Man sollte das Buch deswegen aber nicht als vertrauten Nachwende- und Globalisierungsroman verharmlosen.

Alles steuert auf ein Verhängnis zu; man weiß nur nicht, welches. Daniel wird für alles Unglück verantwortlich gemacht: Diebstähle, Brände und Körperverletzungen; Rosings zurückgebliebene Tochter beschuldigt ihn der Vergewaltigung; dessen ebenfalls strohdummer Sohn könnte ihn damals auf dem Maisfeld bewusstlos geschlagen haben. Aus der Untersuchungshaft entlassen, treibt Daniel sich betrunken auf dem Schützenfest herum und trifft dort auf Volker. Der verrät ihn dem Mob, der ihn im leicht entflammbaren Geräteschuppen vermutet, man hört schon die Sirenen der Feuerwehrautos, dann bricht der Roman, mitten in der Rückblende, ab.

Tief ist ihm eine theologische Dimension eingeschrieben, die bisweilen mit Händen zu greifen ist, etwa in den Disputen, die Daniel im Konfirmandenunterricht mit dem Pastor über Gut und Böse, Freiheit und Notwendigkeit führt und die ohnehin großartige Dialogkunst auf ihren Höhepunkt bringt. Die verschiedenen Spielarten des Gottsuchertums hätten den Brüdern Karamasow alle Ehre gemacht. Diese Dimension wird kurzgeschlossen mit einer sexuellen Dynamik, die schließlich als (ein) geheimer Antrieb aller Handlungen kenntlich wird: "Just zu dem Zeitpunkt", berichtet Volker über ein altes Doktorspiel mit Daniel, "wo aus der kindlichen Spielerei mehr zu werden versprach, verfiel ich, bedingt durch diesen Hormonschub, einem religiösem Wahn."

Und die Einhundert-Mark-Frage: Kann Schatzschneider noch Bundestrainer werden? Hard Kuper sagt: "Die dreißig Jahre sind noch nicht um." Verlieren wird er die Wette trotzdem. Jan Brandt, 1974 in Leer, Ostfriesland, geboren, hat mit diesem gewaltigen Roman viel gewagt und (praktisch) alles gewonnen. Und eher gewinnt er, was sowieso zu hoffen ist, demnächst den Buchpreis, als dass Schatzschneider Bundestrainer wird.

Jan Brandt: "Gegen die Welt". Roman.

Dumont Literaturverlag, Köln 2011. 928 S., geb., 22,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.09.2011

Wenn Schnee fällt in Jericho
Ostfriesische Apokalypse mit Heavy Metal-Tonspur: Jan Brandts wagemutiger Debütroman „Gegen die Welt“
Die erste Frage, die sich stellt: Ist das Mut oder Hybris? Ein deutschsprachiger Debütroman, der auf knapp 1000 Seiten seinen räumlich beengten Kosmos nur ganz selten einmal verlässt. Ein Buch, das in einer ostfriesischen Kleinstadt angesiedelt ist und nur dort; das sich, so könnte man meinen, jeden einzelnen der Bewohner vor- und ihn auseinandernimmt. Das noch dazu keinen Hehl aus seiner Ambition macht; mit in der Mitte geteilten Seiten und parallel laufenden Erzählsträngen arbeitet, mit typographischen Variationen, mit Leerseiten.
Ein Akt der Maßlosigkeit. Der Versuch, alles in einen Text einfluten zu lassen, was da war und ist. Mehr als zehn Jahre, so hört man, habe Jan Brandt, der 1974 in Leer geboren wurde und in Berlin lebt, an seinem ersten Roman gearbeitet. Es ist, gerade angesichts seines gewaltigen Umfangs, ein erstaunlich stilsicheres, in seinem komplexen Aufbau klug durchdachtes Buch geworden, das sich nach allen Seiten hin öffnet und gleichzeitig absichert: nach oben, hin zu Gott und den Außerirdischen. In die Vertikale der historischen Abläufe. Und nach unten; dorthin, wo die Toten liegen.
Denn gestorben wird viel in Jericho, dem nur vordergründig fiktiven Schauplatz des Romans, der in Wahrheit so exakt in die geographische Realität eingepasst ist, dass er sich bis in die Straßennamen hinein mit der Stadt Leer identifizieren lässt, wobei die Camouflage wohl weniger als eine Hommage an Uwe Johnson und sein Jerichow denn als eine Referenz an die biblische Geschichte zu verstehen ist, nach der derjenige verflucht sei, der die Stadt wiederaufbaue und dafür mit dem Leben seines Erstgeborenen zu bezahlen habe. Denn um Väter und Söhne geht es, unter anderem, in „Gegen die Welt“, und um Kinder der Wirtschaftswundergeneration. Daniel Kuper ist ein solcher Erstgeborener, Sohn des Drogisten Bernhard, genannt Hard Kuper, und dessen Frau Brigitte.
Diese drei Figuren sind der Nukleus des Romans; um sie herum baut Jan Brandt eine Dorfsoziologie und ein in hohem Maße eigendynamisches Personengeflecht auf. Von Beginn an liegt eine diffuse Atmosphäre der Bedrohung über Jericho, und auch sie hat ihren Ursprung in der Kuper’schen Familienkonstruktion. Der Roman setzt ein im Jahr 1983, da ist Daniel in der Grundschule; die Familie als Keimzelle der Gesellschaft ist ein politisch aufgefrischtes Modell. Im Fall Kuper ist die Keimzelle faul – wie soll alles andere, das sich davon ableitet, dann funktionieren? Die Beziehung zwischen Hard und Brigitte mag paradigmatisch stehen für die Stärken des Erzählers Jan Brandt: psychologisch sorgfältig ausgelotet, ungemein stark in den Dialogen und mit einer permanenten Andeutung latenter Gewalt, wird hier auf subtile Weise ein Machtverhältnis dargestellt, aus dem es keinen Ausweg gibt.
Eine Apokalypse im Kleinformat bahnt sich in Jericho an, wobei Daniel zusehends und unfreiwillig ins Zentrum des Geschehens rückt: Als es eines Tages im September zu schneien beginnt, wird er nackt in einem Maisfeld inmitten eines Kornkreises gefunden. Als Jahre später Hakenkreuze auf den Mauern von Jericho auftauchen, die sich auch den aggressivsten Reinigungsmethoden widersetzen, gerät erneut Daniel ins Kreuzfeuer des Dorfgeredes. Ein Opferlamm, ein Sündenbock. Daniel, so heißt es, „war schmächtig, langsam, unbeholfen. Er begriff die Regeln nicht, war immer zur falschen Zeit am falschen Ort“. Hard, der Vater, spricht von geschäftsschädigendem Verhalten.
„Gegen die Welt“ ist reich an Einfällen; nicht wenige davon werden auch wieder fallengelassen; manche sind geradezu abstrus wie eben jene Außerirdischengeschichte, die sich in zahlreichen Variationen durch das Buch zieht. Jericho ist gefährdet, von außen wie von innen, von fernen Existenzen wie vom konkreten Wandel der Geschichte. Verschwörungstheorien, politische Umbrüche und popkultureller Zeitgeist verschmelzen zu einem Text, an dem, zugegeben, nicht jeden unbedingt alles interessieren muss.
Es gibt ausgedehnte Passagen, in denen Daniel und seine Schulfreunde sich über die Feinheiten des Heavy Metal austauschen. Allerdings ist das, wie man später bemerkt, nur eine Vorbereitung darauf, die Lebenswege dieser Freunde, allesamt Sprösslinge des Neubaugebiets, des von den Einheimischen argwöhnisch beäugten „Kommunistenviertels“, auszuerzählen, einzeln und nacheinander, bis an die Jahrtausendwende heran. Keiner von ihnen, so viel darf verraten werden, nimmt ein gutes Ende.
Bei aller Versponnenheit, bei aller Lust an der Abschweifung und chronologischen Unordnung gibt es in „Gegen die Welt“ klar erkennbare und konsequent durchgehaltene Leitmotive. Die Familie ist eines davon. Ein anderes ist das des einstmals florierenden Einzelhandels als Symbol einer in sich ruhenden Wohlfühl-BRD. Nicht nur in dieser Hinsicht bedeutet der Fall der Mauer auch einen Fall aus der Gemütlichkeit heraus in die Unsicherheit neuer Verhältnisse. Die Drogeriekette Schlecker wird zum Todfeind. Es ist eine so treffende wie ironische Volte Brandts, ausgerechnet einen zwielichtigen Bauunternehmer, der mit seinen Projekten das Gesicht Jerichos so stark verändert hat wie kaum ein anderer, zum hoffnungsvollen Bürgermeisterkandidaten werden zu lassen.
Jener Rosing verspricht in seiner Wahlkampfrede, „die Heimat wieder zu dem zu machen, was sie bis zur Wiedervereinigung gewesen ist: ein unschätzbarer Wert“. Wie Daniel herausfindet, zitiert Rosing ungeniert aus Hitlers „Mein Kampf“. Den Ärger bekommt deswegen allerdings nicht Rosing, sondern Daniel, der Sündenbock.
Auch das ist charakteristisch für diesen Roman – er ist immer gut für eine Überraschung. Hinter der detailgenauen Alltagsabbildung tut sich immer noch eine Falltür auf; der Biedermann kann zum Casanova, das stille Mathematikgenie zum Wahnsinnigen umschlagen. „Gegen die Welt“ steht zu Recht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis: ein Erstling, der variantenreich, kühn und zugleich sicher über seinen Stoff verfügt.
CHRISTOPH SCHRÖDER
JAN BRANDT: Gegen die Welt. Roman. DuMont Verlag, Köln 2011. 928 Seiten, 22,99 Euro.
„Er begriff die Regeln nicht,
war immer zur falschen
Zeit am falschen Ort“
Die gehörnte Hand, auch als „Teufelsgruß“ bekannt, wird bei Heavy Metal-Konzerten gern in den Himmel gereckt. Jan Brandts Helden wissen das. Foto: dapd
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit großen Namen wirft Edo Reents in seiner Besprechung dieses Riesenromans um sich. Von Dostojewski ist die Rede, von Uwe Johnson, Frank Schulz und auch von Reents' Leib- und Magen-Autor Thomas Mann. Des letzteren Homosexuellen-Episode im "Zauberberg" freilich sei ein vergleichbares Moment von Jan Brandts Roman gar überlegen. Hoch ist dies Lob, mindestens ebenso hoch hinaus ragt es an anderen Stellen dieser Besprechung. Wie hier ein junger Autor sich an eine Essenz des Romanhaften wage, nämlich die Fiktion als Abbildung und Herstellung einer "Totalität", das nötigt Reents nämlich von Anfang bis Ende höchsten Respekt ab. Auch und gerade die anderswo etwas bemängelte Lust am Detail verteidigt er als wichtige Ingredienz der hier beschriebenen Welt. All das, von Heavy Metal bis Fußball, sei wichtig und aufs Ganze bezogen - ein Ganzes, zu dem auch ein der Science Fiction entlehnter Rahmen gehöre. Verschränkt werden die Geschichte des in Jericho (das heißt im ostfriesischen Leer) aufwachsenden Drogistensohns David mit der des in den Selbstmord getriebenen Peter Peters. Wie Brandt die Motive verknüpfe und so eine Welt runde, das ist dem Rezensenten nicht nur über alle 900 Seiten die Lektüre, sondern auch - fordert er unverhohlen - den Deutschen Buchpreis wert.

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