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Jemand mußte Musa verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Abends verhaftet. Der junge syrische Absolvent der Pariser Filmhochschule kommt nach sechs Jahren in Frankreich am Flughafen von Damaskus an und wird bei der Einreise festgenommen und in eine Abteilung des Geheimdiensts gebracht, wo er sofort gefoltert wird. Das geschieht Anfang der 1980er Jahre und sollte die erste Station einer dreizehnjährigen Reise durch die Hölle werden. Man wirft Musa vor, der verbotenen Muslimbrüderschaft anzugehören, obwohl er getaufter Christ ist und Atheist dazu . Es gibt…mehr

Produktbeschreibung
Jemand mußte Musa verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Abends verhaftet.
Der junge syrische Absolvent der Pariser Filmhochschule kommt nach sechs Jahren in Frankreich am Flughafen von Damaskus an und wird bei der Einreise festgenommen und in eine Abteilung des Geheimdiensts gebracht, wo er sofort gefoltert wird. Das geschieht Anfang der 1980er Jahre und sollte die erste Station einer dreizehnjährigen Reise durch die Hölle werden. Man wirft Musa vor, der verbotenen Muslimbrüderschaft anzugehören, obwohl er getaufter Christ ist und Atheist dazu . Es gibt weder eine Anklage noch eine Gerichtsverhandlung. In dem schlimmsten aller Gefängnisse, dem Wüstengefängnis bei der Oasenstadt Palmyra (arabisch Tadmur), gerät er zwischen die Fronten der dort inhaftierten Muslimbrüder, die ihn als Ungläubigen töten wollen, und den Wärtern, die ihn schlagen und foltern. Er überlebt, indem er sich in sich selbst wie in ein Schneckenhaus zurückzieht und durch ein Loch in der Wand die Vorgänge im Gefängnishof beobachtet. Er führt ein Gedankentagebuch, das er nach seiner Freilassung zu Papier bringt, um den Terror zu dokumentieren und die Erinnerung an die Gefangenen und Ermordeten wachzuhalten.

"Ein schmerzhafter Roman, der nach Leben schreit, ein gewaltsamer Roman, der um Gnade bittet ... Khalifas Werk zeigt, daß Kunst ein Zeugnis für Menschlichkeit sein kann. Für mich ist Das Schneckenhaus ein einzigartiger Roman, eine grandiose schöpferische Leistung, wie ein perfekt inszenierter Film auf Papier. Voller Schmerz zwar, doch wird der Leser jedem Schritt des Erzählers bis zum Schluß gebannt folgen." Rafik Schami
Autorenporträt
Mustafa Khalifa hat aus eigenen Erfahrungen heraus geschrieben, er war von 1982 bis 1994 ohne Anklage oder Prozeß in diversen syrischen Gefängnissen inhaftiert, die meiste Zeit in Tadmur. Sein Roman ist als Tagebuch erzählt, allerdings ohne Jahreszahlen und ohne Ortsnamen. Ein Bericht aus der Hölle, kühl und distanziert, so schmerzhaft wie notwendig. Der Text erschien auf arabisch zuerst im Internet. Er spielte eine wesentliche Rolle beim Beginn der syrischen Revolution. 2007 wurde er auf französisch publiziert, ein Jahr später auf arabisch. Khalifa wurde 1948 in Dscharabulus, Syrien, geboren und wuchs in Aleppo auf. Schon früh engagierte er sich politisch und wurde deshalb zweimal verhaftet. 2006 konnte er in die Vereinigten Arabischen Emirate ausreisen; von dort gelangte er nach Frankreich. Sein Roman erschien bereits auf französisch, englisch, spanisch, italienisch und norwegisch. Larissa Bender übersetzt aus dem Arabischen und ist Herausgeberin des Bandes »Innenansichten aus Syrien«. 2018 erhielt sie für ihre Übersetzertätigkeit und ihr Engagement im deutsch-arabischen Kulturaustausch das Bundesverdienstkreuz. Sie lebt und arbeitet in Köln. Im Weidle Verlag erschien ihre Übersetzung von Niroz Malek, »Der Spaziergänger von Aleppo«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2019

Im syrischen Kerker

Wo Beten streng verboten ist: Mustafa Khalifas schockierender autobiographischer Tatsachenroman "Das Schneckenhaus" erzählt von einer zwölf Jahre langen Haft.

Gefängnisliteratur ist in der arabischen Welt ein weitverbreitetes Genre. Eine Art von Literatur, die immer Zeugnis ablegt, denn auch wenn die Autoren nie mit ihren Werken verwechselt werden sollten, darf man doch annehmen, dass viele Details ihrer Bücher mit einer Wirklichkeit übereinstimmen, die sie selbst erlebt oder von der sie zumindest gehört haben. So ist es auch bei Mustafa Khalifas Buch "Das Schneckenhaus".

Der 1948 in Syrien geborene Schriftsteller studierte Jura, schloss sich einer linken Oppositionspartei an und saß deswegen mehr als zwölf Jahre lang im Gefängnis von Tadmor. Sein Held, ein namenloser Syrer, der Filmregie in Paris studiert hat und bei seiner Rückkehr vom Flughafen weg verschleppt worden ist, verbringt ebenfalls zwölf Jahre in diesem Wüstengefängnis. Dass die Dinge sich dort so zugetragen haben, wie im Roman aus der Ich-Perspektive erzählt wird, wissen wir aus anderen Zeugenberichten, vor allem dem Dokumentarfilm "Tadmor", den Monika Borgmann und Lokman Slim vor ein paar Jahren mit ehemaligen libanesischen Insassen dieses Gefängnisses drehten. Auch sie berichteten von der "Willkommensparty": Neuankömmlinge wurden mit Händen und Füßen in einen Autoreifen gesteckt, dann mussten sie die Schläge auf ihre Fußsohlen zählen. Dreihundert oder mehr.

Auch sie berichteten von Zellen mit einem vergitterten Loch in der Decke, durch das die Wächter immer beobachteten, wer gegen die Regeln verstieß - wer sich nachts bewegte oder aufs Klo ging, wurde "gekennzeichnet". Und am nächsten Tag mit Hunderten Schlägen bestraft. Auch sie erzählten von ständigen Peitschenhieben, beim Duschen, beim Essenholen, beim Hofgang. Von brutaler Folter, Demütigungen, Hinrichtungen. Einer der Männer aus dem Film hatte fünf Jahre in einer Einzelzelle verbracht. Dort hat er mit den Ameisen gesprochen aus Angst, dass die anderen Menschen ihn nicht mehr verstehen würden, wenn er herauskäme. Aus Angst, er könnte seine Sprache verlieren.

Gewissermaßen sitzt auch der Ich-Erzähler bei Mustafa Khalifa in Isolationshaft. Zwar teilt er sich die Zelle mit Dutzenden Gefangenen, aber weil er Christ ist und noch dazu Atheist, meiden ihn die anderen, die meist zu den Muslimbrüdern gehören. Jahrelang spricht niemand ein Wort mit ihm. Er verkriecht sich in ein Schneckenhaus, das aus dem Hass der anderen und aus seiner Angst vor ihnen besteht. "Aber in der harten Mauer meines Schneckenhauses öffnete ich ein Fenster und begann, von innen heraus heimlich in die Zelle zu spähen und sie zu beobachten. Das war das Einzige, was ich tun konnte." Bald allerdings kommt hinzu, dass er auch aus der Zelle hinausblicken kann, durch ein Loch in der Wand in den Gefängnishof, in dem regelmäßig Gefangene zum Galgen geführt werden. Er beobachtet alles. Auch sich selbst.

Das schützt den Roman vor Wiederholungen der alltäglichen Brutalität, denn es erlaubt dem Erzähler fortlaufend, sich Dingen zu widmen, die ihm selbst noch nicht vertraut sind. Mal sind es neue Foltermethoden ("Es gibt eine kreative Seite der Folter!"). Immer ausführlicher schildert er aber auch das Leben in der Zelle, ihr Machtgefüge, ihre sozialen Beziehungen und Freundschaften. Er erlebt Gesten großer Solidarität, als ein Vater seine Söhne an den Galgen schicken muss und sich danach die ganze Zelle in Todesgefahr begibt, weil sie sich erhebt und mit dem Vater betet - was streng verboten ist. Epidemien breiten sich aus. Läuse, Hunger. Ein gefangener Arzt, der sich angesichts einer speziellen Form von Krätze wünscht, die früheren Kollegen seiner amerikanischen Universität könnten sie sehen und untersuchen. Eine Zeitungsseite, die der Wind auf das vergitterte Loch in der Decke weht. Die ersten Nachrichten seit Jahren.

Irgendwann findet der Erzähler in der Zelle sogar einen Freund. Nassim, der in Frankreich Medizin studierte, aber eigentlich Künstler werden wollte, ebnet ihm den Weg zurück zur Sprache, sogar zur französischen. Mit ihm kehren Empfindungen wieder, die gestorben schienen, und es zieht eine Sensibilität ins Geschehen ein, die Nassim selbst allerdings zum Verhängnis wird.

Eines Nachts geht die Zellentür auf, der Erzähler wird ins Gesicht geschlagen und hinausgeführt - in drei kurzen, dramaturgisch brillanten Sätzen landet er vor dem Gefängnistor und ist genauso geschockt wie der Leser. Aber er hat längst gelernt, dass es keinen Sinn hat zu fragen, wie ihm geschieht. Daran hält er sich, als er weiteren Geheimdiensten übergeben, gefoltert und misshandelt wird und schließlich als freier Mann auf der Straße steht. Irgendwann begegnet er auch Nassim wieder, der im Rahmen einer Generalamnestie entlassen wird.

In ihrem Nachwort zitiert die Übersetzerin Larissa Bender aus einem Interview, das der Schriftsteller Mustafa Khalifa vor einem Jahr einer arabischen Nachrichten-Website gab. Er habe sein Buch geschrieben, weil all die Erniedrigung irgendwann explodieren musste. Und hätte sie es nicht in Form des Schreibens getan, wären ihm nur der Wahnsinn oder der Selbstmord geblieben. Für genau diesen Umgang mit dem Trauma steht im Roman die Figur des Nassim, von der Khalifa selbst sagt, sie sei einem echten Freund aus seiner Zeit im Gefängnis nachempfunden. Mustafa Khalifa kam 1994 auf freien Fuß, durfte Syrien aber nicht verlassen. Erst Jahre später wurde sein Ausreiseverbot aufgehoben, er floh an den Golf und weiter nach Frankreich. Von dort beobachtete er, wie das Gefängnis in Tadmor 2015 in die Hände des "Islamischen Staats" fiel. Ausgerechnet der IS, der die nahe gelegene Antikenstadt Palmyra verwüstete, eroberte und zerstörte auch den einst berüchtigten Folterknast des syrischen Regimes.

Einige ehemalige Gefangene haben das bedauert, weil sie gerne erlebt hätten, wie eines Tages im Wüstengefängnis von Tadmor eine Gedenkstätte entsteht. Ein Ort der Mahnung und der Erinnerung an all die Menschen, die der alte und der junge Assad bis zuletzt im Wüstengefängnis hinrichten ließen. Ein Ort, wie ihn "Das Schneckenhaus" von Mustafa Khalifa öffnet.

LENA BOPP

Mustafa Khalifa: "Das Schneckenhaus - Tagebuch eines Voyeurs". Roman.

Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Weidle Verlag, Bonn 2019. 312 S., br., 23,- [Euro].

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