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Ein Dorf im Osten Frankreichs, Winter 1917. Die Front ist nah, doch alles geht seinen gewohnten Gang. Bis eines Tages die zehnjährige Tochter des Gastwirtes ermordet wird. Der Gendarm versucht, Licht in das Dunkel zu bringen. Doch erst viele Jahre später gelingt es ihm, die Geschichte zu erzählen, zusammen mit allen anderen Geschichten, die untrennbar mit ihr verbunden sind.

Produktbeschreibung
Ein Dorf im Osten Frankreichs, Winter 1917. Die Front ist nah, doch alles geht seinen gewohnten Gang. Bis eines Tages die zehnjährige Tochter des Gastwirtes ermordet wird. Der Gendarm versucht, Licht in das Dunkel zu bringen. Doch erst viele Jahre später gelingt es ihm, die Geschichte zu erzählen, zusammen mit allen anderen Geschichten, die untrennbar mit ihr verbunden sind.
Autorenporträt
Philippe Claudel wurde 1962 in Dombasle in Lothringen geboren, wo er als Autor und Regisseur heute noch lebt. In Deutschland gelang ihm 2004 mit «Die grauen Seelen» der Durchbruch. Es folgten ein Erzählungsband und sechs weitere Romane, zuletzt «Die Untersuchung». Claudels Bücher wurden von der Presse gefeiert und sind bislang in über 25 Sprachen übersetzt worden. 2008 lief auf der Berlinale sein Film «So viele Jahre liebe ich dich».
Rezensionen
Dunkel, geheimnisvoll, atemberaubend, spannend, dabei von bestechender sprachlicher Eleganz. Elke Heidenreich

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2004

Mit dem Silberhämmerchen
Dunkle Poesie: Philippe Claudels Schlachtengemälde der Seelen

Vor einem Jahr war Philippe Claudels sechster Roman "Die grauen Seelen" die Sensation im französischen Bücherherbst, ein Erfolg gleichermaßen bei Leserschaft und Kritik. Er hielt sich monatelang an der Spitze der Bestsellerliste und wurde mit dem Prix Renaudot ausgezeichnet. Für die Kurzgeschichtensammlung "Les Petites Mécaniques" hatte Claudel im selben Jahr bereits den Prix Goncourt de la Nouvelle bekommen. In Deutschland ist der 1962 geborene Autor dagegen noch ein Unbekannter.

Lothringen ist die Landschaft seines Lebens und seiner Bücher. Ein herbes, regenreiches Land, das bis heute durch die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs geprägt ist. Mit denen bekommen wir es auch in "Die grauen Seelen" zu tun. Die "Affäre", wie das zentrale Geschehen genannt wird, ereignet sich 1917 in einer kleinen Stadt im Osten Frankreichs. Nicht weit entfernt verläuft seit Jahren die Front des festgefahrenen Stellungskrieges.

Während dort Hunderttausende gemetzelt werden, gelten im Städtchen noch die Regeln beschaulicher Zivilisation. Gewiß hat man allerhand Beeinträchtigungen durch den Krieg zu ertragen. Das ewige Donnergrollen am Horizont belastet die Nerven; die Straßen sind oft gesperrt, weil wieder Truppentransporte durchziehen. Die vielen jungen Männer, die hier letzte unbändige Tage verleben, bevor es zum Sterben an die Front geht, haben die Prostitution eingeschleppt; und vor allem ist die Stadt ein Auffanglager für Verwundete. Hospitalgeruch weht durch die Straßen. Die ersten Kriegsversehrten werden von den Einwohnern noch bemitleidet, gepflegt, besucht, beschenkt. Dann tritt Gewöhnung ein. "Sie ekelten uns sogar ein wenig . . . Wir nahmen ihnen übel, daß sie uns ihre Verbände, ihre fehlenden Beine und Nasen, ihre kaum verheilten Schädel und schiefen Mäuler vorzeigten."

Aber sonst geht im Städtchen alles seinen anständigen Gang. Bis eines Tages die Leiche eines zehnjährigen Mädchens im Flüßchen schwimmt und der Versuch, am Rand des Abgrundes die Normalität aufrechtzuerhalten, durchkreuzt wird. Eine panische Suche nach dem Täter beginnt. Aber wie soll über ein einzelnes Verbrechen geurteilt werden, wenn hinter dem nächsten Hügel die große Lizenz zum Töten gilt?

Dem zuständigen Richter Mierck sind solche Skrupel fremd. Er ist ein Mann, der bei jedem seiner Auftritte wie eine Genußmaschine Nahrung in sich hineinschaufelt, als müßte das Urteil in den Därmen gefunden werden. Schon angesichts der Mädchenleiche überfällt ihn der Heißhunger nach weichgekochten Eiern, die er sich sogleich von den Einsatzkräften herbeischaffen läßt und am Tatort verzehrt, indem er sie mit einem "winzigen, ziselierten Silberhämmerchen" aufschlägt, das er für solche Fälle eigens mit sich führt. Dieser Richter ist die schwarze Karikatur eines sadistischen Juristen, dem es nicht schwerfällt, Schuldige ausfindig zu machen. Während eines Gelages werden zwei Deserteure mit allem anderen als rechtsstaatlichen Mitteln geständig gemacht - hatten sie doch sowieso mit der Todesstrafe zu rechnen.

Die Geschichte des Mordes und seiner Hintergründe verzweigt sich, denn in jenem Unglücksjahr ereignen sich noch andere überraschende Todesfälle. Die schöne Lehrerin Lysia Verhareine erhängt sich scheinbar ohne Grund, und eine junge Frau verblutet bei der Geburt ihres ersten Kindes, weil ihr Mann - es handelt sich um niemand anderen als den Erzähler - nicht rechtzeitig zu ihr kommen und sie in die Klinik bringen kann: Straßensperrung wegen dringender Truppentransporte. Statt dessen hockt er, der Erzähler, unterwegs mit einem Geistlichen zusammen, ißt Käse, trinkt Wein und unterhält sich angeregt über Blumen - "der schönste Beweis der Existenz Gottes, falls einer nötig wäre", findet der Pfarrer.

Wer ist dieser Erzähler? Erst im Verlauf der Lektüre wird deutlich: Es ist ein Polizist, der einst mit der Aufklärung des Mädchenmordes zu tun hatte. Zwanzig Jahre später, inzwischen selbst ein ausgebrannter Mann und Übriggebliebener, versucht er, die Ereignisse zu rekonstruieren. Und vieles spricht dafür, daß nicht der verlotterte Deserteur, sondern der höchst distinguierte, zutiefst melancholische Staatsanwalt Destinat der Täter war.

Eine glatte Auflösung des Falles gibt es jedoch nicht. Dem Autor geht es in erster Linie um die Seelenlagen der Menschen. Einsamkeit, Verzweiflung, Verbitterung, Tod - der zu neuer Einsamkeit, Verzweiflung, Verbitterung führt. Aber Claudel hält auch Trost bereit: Angesichts all der vorgestellten Verbrechen, die täglich die Menschenköpfe unsicher machen, gebe es nur sehr wenig wirkliche, heißt es an einer Stelle. Erst im Krieg stelle sich "ein Gleichgewicht zwischen unseren verdorbenen Wünschen und der Wirklichkeit her".

Dieser Roman, stilsicher übersetzt von Christiane Seiler, fesselt von der ersten Seite an. Zu seinen Qualitäten gehören präzise gezeichnete Figuren, bei denen doch genügend Unbestimmtheiten bleiben. Mit kalter, punktgenauer Nüchternheit, hinter der Passion und Anteilnahme vibrieren, entwirft Claudel beunruhigende Szenen und Bilder von symbolischer Kraft. Da gibt es zwei verwirrte Alte, die sich als einzige verbliebene Bewohner eines kriegszerstörten Dorfes wie zwei Beckett-Figuren aufs bitterste befehden. Da gibt es einen Soldaten im Krankenhaus, der begeistert ist, weil es ihm den Arm abgerissen hat. "Ein großes Glück" sei das, denn "ein verlorener Arm" bedeute "etliche gewonnene Jahre". Liebevoll nennt er seinen Stummel "Gugusse". "Ständig sprach er mit Gugusse, rief ihn zum Zeugen, neckte ihn."

Claudel ist kein Menschenfeind. Seine Konzeption der "grauen Seele" ist eine des gemischten Charakters. "Nichts ist ganz schwarz oder ganz weiß; das Grau setzt sich durch. So ist es auch bei den Menschen und ihren Seelen", heißt es an einer Stelle. In einer leitmotivischen Szene beschmutzt die Lehrerin den schwarzweißen Schachbrett-Fliesenboden des Staatsanwalts mit dem Grau ihrer schlammbespritzten Schuhe. Eine graue, beschmutzte Seele ist der Komplize des Richters, Oberst Matziev, ein williger Folterer. Aber auch er war einmal ein Mann mit Idealen und Courage, der sich für Dreyfus einsetzte und damit auf lange Zeit seine eigene Karriere zum Stillstand brachte. Die äußerlich so engelhaft ruhige Lehrerin entpuppt sich in ihren spät aufgefundenen Briefen als Getriebene mit Mordphantasien. Und der Erzähler, der Licht in ein Verbrechen bringen will, hat bis zum Schluß sein eigenes Vergehen verdunkelt. Hat er doch seinen höchstpersönlichen kleinen Kindsmord auf dem Gewissen. Oder eben nicht auf dem Gewissen. Graue Seelen sind moralisch diffus - und gerade deshalb keine langweiligen Figuren.

Claudel bewundert Simenon und Giono, Autoren, die dem "wirklichen Leben" verpflichtet sind. Daß er sich mit bloßem Realismus jedoch nicht begnügt, zeigt die kunstvolle, fast schon künstliche Komposition des Buches, die das Geschehen wie ein Arrangement des Grauens erscheinen läßt, wo die schlimmstmögliche Wendung immer die wahrscheinliche ist und jedes Malheur von einem anderen gespiegelt wird, wie das verbitterte Witwertum des Staatsanwalts von dem des Erzählers. Manchmal scheint es ein wenig zuviel der Schicksalsschläge und Todesfälle. Die Neigung zum Totentanz könnte eine Gefährdung dieses hochtalentierten Autors werden.

Thematisch ist Claudel nahe bei Céline und dessen rabenschwarzer Weltsicht. Argot und Poesie der Wut liegen ihm jedoch fern. "Die grauen Seelen" lesen sich vielmehr, als hätte man Célines "Reise ans Ende der Nacht" mit der "Glut" von Sándor Márai gekreuzt. An Márai erinnert nicht nur die Verbindung von kühler stilistischer Eleganz mit bisweilen brühwarmer Lebensweisheit ("Das Leben ist seltsam. Es warnt einen nicht. Alles mischt sich, und verhängnisvolle Augenblicke folgen auf gnadenreiche"), sondern auch die etwas melodramatische Inszenierung eines Schreibenden, der am Ende seines Lebens unter Qualen mit der Erinnerung ringt: "Dennoch muß ich versuchen auszusprechen, was seit über zwanzig Jahren mein Herz nicht zur Ruhe kommen läßt." Dies, nur dies wirkt wie abgetakelte Erzählkonvention. Es ist das, was an diesem Buch am wenigsten überzeugt. Und es überzeugt sehr viel daran. Philippe Claudel ist ein Prosa-Poet des zerbrochenen Lebens, von dem man nach diesem beeindruckenden Werk unbedingt mehr lesen möchte.

Philippe Claudel: "Die grauen Seelen". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Christiane Seiler. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 240 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Ein wenig unentschieden wirkt Rezensent Ulrich Baron in seinem Urteil über diesen Roman von Philippe Claudel, wobei er das hier eröffnete Seelendrama "mit großem Können bewusst zeitenthoben inszeniert" findet. In der 1917 in einer kleinen französischen Stadt angesiedelten Geschichte wird viel gestorben, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch innerhalb der Stadttore. Im Zentrum der Erzählung steht die Ermordung eines zehnjährigen Mädchens, "Belle de Jour" genannt, für deren Tod ein Unschuldiger dran glauben muss. Abgründe tun sich also auf, vor allem in grau-schwarzen Seelen der örtlichen Honoratioren. Baron zeigt sich fasziniert von der Düsternis des mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Romans, aber auch irritiert, denn letztlich kann er sich nicht erklären, worin diese gründet.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.11.2004

Blaue Lippen, weiße Lider
Phlippe Claudels Roman „Die grauen Seelen”
Dies ist ein Buch aus jener Zwielichtzone, in der alle Zeichen auf November stehen, obwohl seine Geschichte Anfang Dezember 1917 beginnt: Eine kleine Stadt im Osten Frankreichs, ein Kanal, ein paar Männer sind um den Leichnam einer Zehnjährigen versammelt: „Sie sah aus wie eine Märchenprinzessin mit bläulichen Lippen und weißen Lidern.” Die Tochter des Gastwirts Bourrache ist ermordet worden, und das kleine Tableau bekommt Schlagseite, als Richter Mierck hinzutritt, empfindsam wie ein Mastschwein, aber ein „ganz scharfer Hund”. Er wird den Mörder der Kleinen schon finden, einen zumindest.
Gestorben wird viel in diesem Buch, auch wenn das große Sterben, der Krieg, vor den Toren stattfindet, weil den Einwohnern des Ortes als Arbeitern in einer kriegswichtigen Industrie der Wehrdienst erspart bleibt. Auch einer der Honoratioren, Staatsanwalt Pierre-Ange Destinat, ist ein „scharfer Hund” und als „Bluttrinker” berüchtigt. Privat aber ist er ein in sich gekehrter Mann in einem zu großen, zu leeren Haus, verwitwet - eine der grauen Seelen, nicht schwarz, nicht weiß. Kurz vor der Tat hat man ihn mit dem Mordopfer am Kanal gesehen.
Als Täter wird ein junger Deserteur hingerichtet, dessen Kamerad die Tat gestanden und sich daraufhin umgebracht hat. Das Urteil steht auf schwachen Füßen, aber dank Richter Mierck von Anfang an fest. Bleibt noch die junge Lehrerin, die ein wenig Sonne in die Geschichte bringt. Doch dann ist auch sie gestorben; die Frau des Erzählers stirbt bei der Geburt ihres Kindes und auch das Kind, „ein kleiner Mörder ohne Bewußtsein und Gewissen”, überlebt nicht.
Der französische Schriftsteller und Dramatiker Philippe Claudel ist Jahrgang 1962, und die Schatten des Ersten Weltkriegs, die Depressionen der Nachkriegszeit reichen nicht weit genug, um die Düsternis dieses im Jahre 2003 veröffentlichten und mit dem Prix Renaudot ausgezeichneten Romans zu erklären. Auch irritiert zunächst, dass die kleine Ermordete „Belle de Jour” genannt wird, was eher an Buñuels gleichnamigen Film und Cathérine Deneuve denken lässt, als an ein liliengleiches Kind, das man in eine Provinzschenke verpflanzt hat.
„Vor allem die Kleine”, so erinnert sich der Erzähler an sie und ihre älteren Schwestern, „wirkte auf mich so frisch, daß sie mir von unserer Welt immer weit entfernt vorkam.” Nachdem sie ganz daraus verschwunden ist, gewinnt in den grauen Seelen des Romans das Schwarz zunehmend die Oberhand. Zumindest aus der Sicht des Erzählers, der, wie man dann am Ende erfährt, die Geschichte wiedergibt, um ein eigenes, nie bereutes Verbrechen zu gestehen.
Claudels Roman ist ein Seelendrama, mit großem Können bewusst zeitenthoben inszeniert. Die äußere Handlung ist nur ein Schattenspiel, mit dem der Erzähler seine eigene Tragödie in Szene setzt. Der schwarze Kern ist die Geschichte eines Mannes, der die Leere, in der ihn der Tod seiner Frau zurückgelassen hat, so lange mit Finsternis füllt, bis es auch für ihn endlich Zeit geworden ist, daraus zu verschwinden.
ULRICH BARON
PHILIPPE CLAUDEL: Die grauen Seelen. Aus dem Französischen von Christiane Seiler. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004. 239 Seiten, 19,90 Euro.
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