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Fast alle Theorien darüber, wie der Mensch zu einer so einzigartigen Spezies geworden ist, konzentrieren sich auf die Evolution. Michael Tomasello legt mit seinem faszinierenden Buch eine komplementäre Theorie vor, die sich auf die kindliche Entwicklung konzentriert. Aufbauend auf den bahnbrechenden Ideen von Lev Vygotskij, erklärt sein empiriegesättigtes Modell, wie sich das, was uns menschlich macht, in den ersten Lebensjahren herausbildet.
Tomasello bietet drei Jahrzehnte experimenteller Arbeit mit Schimpansen, Bonobos und Menschenkindern auf, um einen neuen theoretischen Rahmen für das
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Produktbeschreibung
Fast alle Theorien darüber, wie der Mensch zu einer so einzigartigen Spezies geworden ist, konzentrieren sich auf die Evolution. Michael Tomasello legt mit seinem faszinierenden Buch eine komplementäre Theorie vor, die sich auf die kindliche Entwicklung konzentriert. Aufbauend auf den bahnbrechenden Ideen von Lev Vygotskij, erklärt sein empiriegesättigtes Modell, wie sich das, was uns menschlich macht, in den ersten Lebensjahren herausbildet.

Tomasello bietet drei Jahrzehnte experimenteller Arbeit mit Schimpansen, Bonobos und Menschenkindern auf, um einen neuen theoretischen Rahmen für das psychologische Wachstum zwischen Geburt und siebtem Lebensjahr vorzuschlagen. Er identifiziert acht Merkmale, die den Menschen von seinen engsten Verwandten unterscheiden: soziale Kognition, Kommunikation, kulturelles Lernen, kooperatives Denken, Zusammenarbeit, Prosozialität, soziale Normen und moralische Identität. Auch Menschenaffen besitzen diesbezüglich rudimentäre Fähigkeiten. Aber erst die Anlage des Menschen zu geteilter Intentionalität verwandelt diese Fähigkeiten in die einzigartige menschliche Kognition und Sozialität. Mit seiner radikalen Neubewertung der Ontogenese zeigt Tomasello, wie die Biologie die Bedingungen schafft, unter denen die Kultur ihre Arbeit verrichtet.
Autorenporträt
Michael Tomasello, geboren 1950, ist Professor für Psychologie und Neurowissenschaft an der Duke University. Von 1998 bis 2018 war er Co-Direktor des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Für seine Forschungen wurde er mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jean-Nicod-Preis, dem Hegel-Preis der Stadt Stuttgart und dem Max-Planck-Forschungspreis. 2015 erhielt er für sein Gesamtwerk den prestigeträchtigen Distinguished Scientific Contribution Award der American Psychological Association.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Sabina Pauen sieht in dem Buch des Anthropologen Michael Tomasellos ein neues Standardwerk der Entwicklungspsychologie, das durch klaren Aufbau und durchdachte Argumentation und Grafiken auch dem interessierten Laien dienen kann. Wie der Autor hier eine Brücke schlägt zwischen Anthropologie und Entwicklungspsychologie, um den Prozess der Menschwerdung zu verstehen, findet Pauen spannend. Tomasellos Analyse sozialer Erfahrungen, biologischer Prozesse und kognitiver Grundlagen in diesem Zusammenhang und seine Untersuchung ontogenetischer Prozesse im weiteren erschließen Pauen Tomasellos Entwicklungsmodell und grenzen es ab zu anderen Theorien. Einziges Defizit der Arbeit für Pauen: das Fehlen einer "ausgewogenen Diskussion" solcher alternativer Denkansätze.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.07.2020

LITERATUR
Das einzigartige Tier
Der Anthropologe Michael Tomasello entwickelt eine neue Theorie der Ontogenese und erklärt in einer großen Synthese,
wie Kinder eine Persönlichkeit ausbilden, wie wir vernünftig und verantwortlich, wie wir „Mensch werden“
VON MICHAEL HAGNER
Die immer wieder aktuellen Debatten über das Verhältnis von Mensch und Tier sind in der Geistesgeschichte oftmals mit der Frage nach deren Ähnlichkeiten und Unterschieden verknüpft worden. Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die einen kategorialen Unterschied und damit die Einzigartigkeit des Menschen postulieren. René Descartes mit seinem ontologischen Dualismus ist dafür ein berühmtes Beispiel: Während der Mensch aus Geist und Körper besteht, ist das Tier pure Materie, was sich allein schon daran zeigt, dass es nicht über Sprache verfügt.
Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die nur einen graduellen Unterschied sehen und damit den Menschen als eine Tierart unter mehreren einordnen. Für den Materialisten Julien Offray de La Mettrie beispielsweise bestand zwischen den geübtesten Menschenaffen und den ungeübtesten Menschen kaum ein Unterschied.
Dualisten im Sinne von Descartes sind selten geworden und in den Naturwissenschaften so gut wie ausgestorben, aber dennoch wird die Frage nach wie vor kontrovers debattiert. Mit seinem neuen Buch, das eine atemberaubend fundierte Summa aus mehr als dreißig Jahren Forschung darstellt, bezieht der Psychologe Michael Tomasello in dieser Diskussion klar Stellung: Der Mensch ist ein Tier, und gleichzeitig ist er einzigartig.
Mit diesem Problembereich ist ein anderer verknüpft, nämlich die Frage, ob der Mensch mit all seinen Denk- und Verhaltensweisen Ausdruck von Natur oder Kultur ist. Ist es die evolutionäre Prägung oder eher die soziokulturelle Erfahrung, die uns charakterisiert? Auch in dieser nicht minder kontrovers geführten Diskussion hat Tomasello eine dezidierte Position: Nur in der Kombination aus Evolution und individueller soziokultureller Erfahrung konnte so etwas wie die menschliche Einzigartigkeit entstehen.
Wenn das Buch im Untertitel eine Theorie der Ontogenese verspricht, so ist das als umfassender Entwurf in dem Sinne ernst zu nehmen, dass zwar nicht alle Bereiche menschlichen Verhaltens abgehandelt werden – Sexualität, Aggression und Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben kommen nicht vor –, wohl aber diejenigen, die an der Wurzel des Unterschieds zwischen Mensch und Tier liegen. Darunter versteht Tomasello die Entwicklung hin zu einer kognitiven und einer moralischen Identität, die Kinder ungefähr mit sechs Jahren erreicht haben.
In diesem ontogenetischen Entwicklungspfad hat Tomasello vier Stadien und eine Reihe von unterschiedlichen Komponenten identifiziert, die sich in gröbster Vereinfachung so zusammenfassen lassen. Babys teilen mit ihren Bezugspersonen Gefühle, aber das markiert noch keinen kategorialen Unterschied zu Menschenaffen. Mit der sogenannten Neun-Monats-Revolution trennen sich dann die Pfade, wenn nämlich Kleinkinder geteilte Intentionalität entwickeln. Sie vermögen mit anderen Individuen ein gemeinsames „Wir“ zu erzeugen und können dabei auch die Perspektive der jeweils anderen einnehmen.
Im Alter von drei bis vier Jahren erweitert sich die gemeinsame Intentionalität zur kollektiven Intentionalität. Die Fähigkeit zur kooperativen Kommunikation mit Erwachsenen und Gleichaltrigen sorgt nun dafür, entsprechende Konventionen und Normen zu respektieren, an ihnen teilzuhaben und sie auch gegenüber anderen zu vertreten.
In kognitiver Hinsicht bildet sich eine „objektive“, und in moralischer Hinsicht eine normative Perspektive, um Phänomene, Dinge oder Situationen zu beurteilen. Schließlich, etwa zur Zeit der Einschulung, verfestigen sich Vernunft und Verantwortlichkeit zu einer kognitiven und moralischen Identität, die darin besteht, dass durch Kooperation mit anderen eigene Überzeugungen und Handlungen revidierbar sind, wenn dafür plausible Gründe angegeben werden. Zugleich werden diese Mechanismen in der Weise verinnerlicht, dass Kinder solche Gründe zu antizipieren vermögen, bevor sie eigens ausgesprochen werden. Keine von diesen Entwicklungen findet sich – bislang jedenfalls – bei Menschenaffen, und je weiter die menschliche Ontogenese voranschreitet, desto wichtiger werden Erfahrungen und Lernen gegenüber einer bloßen Reifung.
„Mensch werden“ ist das Resultat eines immensen experimentellen Forschungsprogramms, das Tomasello mit seiner Arbeitsgruppe im Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie betrieben hat. Die Bibliografie enthält nicht weniger als 250 Forschungsarbeiten, an denen Tomasello als Haupt- oder Mitautor beteiligt war.
Es gehört nicht mehr zu den Usancen der experimentell verfahrenden Lebens- und Humanwissenschaften, dass Einzelforschungen zu einem Gesamtentwurf zusammengefügt werden, der mehr ist als die Summe seiner Teile. Genau das gelingt Tomasello jedoch auf phänomenale Weise, weil er sich beim erzählerischen und argumentativen Aufbau seines Buches am Beispiel Charles Darwins orientiert. Jedem einzelnen untersuchten Aspekt der Theorie ist ein eigenes Kapitel gewidmet, das jeweils aus Problemstellung, Zusammenfassungen der empirischen Befunde aus Experimenten mit Kindern und Menschenaffen, interkulturellen Vergleichen und einer theoretischen Einbettung besteht und eine minutiöse Diskussion von Einwänden, Kritikpunkten und Unvollständigkeiten der Theorie beinhaltet. Diese überbordende Materialfülle und Sorgfalt führen bisweilen zu Detailverliebtheit und Redundanzen, machen aber einen wesentlichen Bestandteil der Überzeugungskraft von Tomasellos Theorie aus.
Dieses Buch kommt zu einer Zeit, da die Theorie menschlicher Einzigartigkeit nicht besonders hoch im Kurs steht. In der diffusen Gemengelage von evolutionärem Dogmatismus, primatologischem „Affenenthusiasmus“, Animal Studies, Diskursanalyse Posthumanismus, Artificial Intelligence und Neo-Neo-Vitalismus, der menschliche und nichtmenschliche Akteure zu hybriden Handlungseinheiten zusammenfasst, scheint sich der Mensch von der Bühne zu verabschieden. Das ist vielleicht allzu voreilig, denn mit seinem Entwurf erneuert und verstärkt Tomasello den universalistischen Anspruch Kants, dass alle Menschen zu einer vernünftigen, kooperativen, verantwortungsvollen und moralischen Identität fähig sind, und zwar vor allen unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen und jenseits aller Fragen von Geschlechteridentität, die hier keinerlei Rolle spielt.
Dabei dürfte die Theorie der Ontogenese durchaus für Widerspruch sorgen. Dass in der Entwicklung zur menschlichen Einzigartigkeit die biologische Ausstattung eine enorme Rolle spielt, wird den Kulturalisten ein Dorn im Auge sein; dass soziokulturelle Erfahrung, Lernen und Kommunikation konstitutiv sind, wird den Biologisten wenig gefallen. Mehr auf die spezifischen Entwicklungsschritte eingehend, könnte man fragen, ob Tomasello nicht zu viel Augenmerk auf die kindlichen Anpassungsprozesse legt und die Keime von Widerspruchsgeist und Eigensinnigkeit zu gering veranschlagt. Ein anderer Punkt wäre die geringe Berücksichtigung der Bedeutung der Sprache, worauf Jürgen Habermas noch in seinem jüngsten Werk hingewiesen hat. All das ändert jedoch nichts daran, dass in Tomasellos Theorie ein enormes emanzipatorisches Potenzial liegt.
Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese Theorie auf alle bedrängenden Fragen eine Antwort parat hätte. Irrationaler Hass, Ressentiment, Destruktivität, analoger oder digitaler Massenwahn, kollektives Verschwörungsdenken, Rassismus und verwandte Phänomene, welche gegenwärtig die Schlagzeilen bestimmen, kommen bei Tomasello nicht vor. Aber allein schon der deutliche Hinweis darauf, dass die so hoch im Kurs stehende Empathie nicht ausreicht, um eine moralische Persönlichkeit zu entwickeln, sollte ein deutlicher Hinweis darauf sein, dass es mindestens ebenso sehr kognitive Tugenden sind, die die Verbindung zwischen dem Individuum und dem Aufbau einer auf Kommunikation, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung und perspektivischer Flexibilität basierenden Gesellschaft ausmachen. Das reicht nicht, aber ohne die von Tomasello so eingehend beschriebenen frühen Prozesse der Persönlichkeitsbildung ist alles nichts.
Nachdem die allgemeinen Vorstellungen über das Menschsein in den vergangenen beiden Jahrzehnten allzu sehr von der eher schlichten Anthropologie der Neurowissenschaften bestimmt war, ist es an der Zeit, sich auf die Stärken der differenzierteren Entwicklungspsychologie in der Tradition Lew Wygotskis oder Jean Piagets zu besinnen. Michael Tomasello hat diese Tradition wiederbelebt und damit die Diskussion um die Einzigartigkeit des Menschen als Resultat biologischer und kultureller Prozesse auf ein ganz neues Niveau gehoben.
Michael Tomasello: Mensch werden. Eine Theorie der Ontogenese. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder. 542 Seiten, 34 Euro.
Durch Kooperation mit anderen
werden eigene Überzeugungen
und Handlungen revidierbar
Zeit zur Besinnung auf
die Stärken differenzierter
Entwicklungspsychologie
Ungefähr im Alter von sechs Jahren haben Kinder eine kognitive und moralische Identität herausgebildet.
Foto: imago/blickwinkel
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2020

Aufmerksamkeit lässt sich teilen
Was den Menschen ausmacht: Michael Tomasello legt eine übergreifende Entwicklungstheorie vor

Was macht den Menschen zu einer besonderen Spezies? Und wie werden aus Kindern sozial kompetente Mitglieder einer Gesellschaft? Will man diese beide Fragen vor dem Hintergrund neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse erörtern und sinnvoll miteinander verknüpfen, braucht es dafür exzellente Sachkenntnis. Die bringt Michael Tomasello ohne Zweifel mit. Als ehemaliger Max-Planck-Direktor und weltweit führender Experte auf dem Gebiet der Evolutionären Anthropologie haben er und sein Team über viele Jahre das Verhalten von Menschenaffen und Kindern vergleichend untersucht. Die Früchte dieser Arbeit sind nun in einem Buch zusammengetragen, in dem Tomasello eine Brücke schlägt zwischen Anthropologie und Entwicklungspsychologie. Zudem stellt er eine eigene Theorie vor, die hilft, den Prozess der Menschwerdung sowohl aus phylogenetischer als auch aus ontogenetischer Sicht zu verstehen.

Dabei bildet folgende Überlegung den Ausgangspunkt: Das Erbe jedes Menschen besteht nicht nur aus Genen, sondern auch aus einer kulturellen Umwelt, die den Erfahrungshorizont und die Entwicklung jedes Kindes prägt. Kultur ist gleichzeitig eine Errungenschaft, die wir als Alleinstellungsmerkmal der menschlichen Art betrachten. Wer das Wesen unserer Spezies verstehen möchte, der muss sein Augenmerk also auf die Entstehung soziokultureller Fähigkeiten richten.

Die Betonung soziokultureller Einflüsse ist nicht neu, man findet sie bereits in der 1930 publizierten Theorie des russischen Pädagogen Lev Vygotskij. Tomasello bezeichnet seinen eigenen Ansatz als "neo-vygotskijsch". Er analysiert nicht nur den Einfluss sozialer Erfahrungen, sondern fragt sich, wie die Evolution, biologische Reifungsprozesse, kognitive Grundlagen und soziale Erfahrungen gemeinsam zur Menschwerdung beitragen.

Zunächst legt Tomasello dar, wie und warum unsere biologischen Vorfahren die Fähigkeit zur Kommunikation, zum sozialen Austausch mit Artgenossen und zu koordinierten Aktionen erworben haben. Unter evolutionärem Druck, so die These des Autors, wurden diese Kompetenzen anschließend so weit entwickelt, dass kollektives Handeln in größeren Gruppen möglich wurde und soziale Normen und Werte sowie kulturelle Vielfalt entstanden, die uns Menschen "einzigartig" machen.

Diese sozialen Errungenschaften sind an bestimmte geistige Fähigkeiten gebunden: So mussten wir zunächst begreifen, dass ein und derselbe Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann, und Möglichkeiten finden, uns über diese unterschiedlichen Perspektiven auszutauschen. Darüber hinaus war es notwendig zu verstehen, dass eine langfristige Absicherung unseres Überlebens nur durch gegenseitige Unterstützung und gemeinsames Handeln gewährleistet werden kann, was die Entwicklung von gemeinsamen Regeln sowie kulturellen Praktiken nach sich zog.

Tomasello sieht das Bewusstsein miteinander geteilter Intentionen als wichtigsten Schlüssel zum Verständnis der Natur des Menschen. Es gelte zu klären, wie und warum geteilte Intentionen im Verlauf der Stammesgeschichte entstanden sind und wann sie im Verlauf der Ontogenese von Kindern erstmals auftauchen. Diesen Prozess untersucht der Autor im zweiten und dritten Teil seines Buches genauer.

Zunächst geht es um Veränderungen sozial-kognitiver und selbstregulativer Leistungen, die Entstehung kommunikativer Fähigkeiten, kulturelles Lernen und kooperatives Denken in Interaktionen mit einem konkreten Gegenüber. Tomasellos Argumentation folgend, bilden diese vier Bausteine die Basis für ein Verständnis "gemeinsamer Intentionalität", die sich in den ersten drei Lebensjahren herausbildet. Erst danach entstehe die "einzigartige menschliche Sozialität". Konkret sind dafür nach Auffassung des Autors vier weitere soziale Errungenschaften maßgeblich: Zusammenarbeit, Prosozialität, soziale Normen und moralische Identität. Sie spiegeln ein Verständnis "kollektiver Intentionalität" wider, das erst im Verlauf des Kindergarten- und Schulalters erworben werde.

Im letzten Teil des Buches fasst Tomasello die wichtigsten Punkte seines übergreifenden Entwicklungsmodells nochmals zusammen und grenzt es von anderen Theorien ab. Zudem benennt er Defizite der aktuellen Forschung und geht kurz auf Chancen für die künftige Forschung ein. Einen Ausblick auf die Zukunft des Menschen wagt der Autor nicht. Spekulationen sind nicht Tomasellos Sache. Er hält sich an die von ihm vorgestellte Empirie.

Das Buch ist für wissenschaftlich interessierte Laien geschrieben; die Lektüre erfordert keine speziellen Vorkenntnisse, wohl aber die Bereitschaft, sich mit einer Fülle an Studienergebnissen auseinanderzusetzen. Ein klarer Aufbau, eine gut durchdachte Argumentationsführung und Grafiken helfen beim Verständnis. Vielleicht kommt das Wort "einzigartig" etwas zu oft vor, wenn es um Fähigkeiten des Menschen geht. Gleichzeitig beschreibt dieses Attribut Tomasellos Werk recht treffend. Kaum jemand wagt heute noch, aus den vielen Puzzleteilen, die eine stetig steigende Zahl von empirischen Studien unterschiedlicher Disziplinen liefert, ein kohärentes Entwicklungsmodell zu formen - schon gar nicht, wenn es um die große Frage nach der Menschwerdung geht. Man kann fast sicher sein, dass sein Buch schon bald zu den Standardwerken der Entwicklungspsychologie zählen wird.

Das Einzige, was man bei der Lektüre etwas vermissen mag, ist eine ausgewogene Diskussion von alternativen Denkansätzen und empirischen Befunden, die nicht zu den Modellvorstellungen des Autors passen. Tomasello argumentiert ungemein kenntnisreich, und es ist faszinierend zu sehen, wie gut am Ende alles zusammenpasst. Vor diesem Hintergrund hat er es eigentlich gar nicht nötig, Forscher, die Affen weniger oder mehr Kompetenzen zutrauen als er selbst, mit Titeln wie "Affenspötter" und "Affenenthusiasten" zu versehen und ihnen Voreingenommenheit zu unterstellen.

Wenn es tatsächlich zum Wesen des Menschen gehört, sich bewusst zu machen, dass unterschiedliche Personen unterschiedliche Perspektiven auf denselben Sachverhalt haben, dann sind wissenschaftliche Kontroversen wichtig, um Erkenntnis voranzubringen. Eine so gut durchdachte und wohlfundierte Theorie wie die von Michael Tomasello kann unser Verständnis der Genese des Menschen gerade auch dadurch bereichern, dass sie zum kritischen Hinterfragen und Weiterdenken auffordert.

SABINA PAUEN

Michael Tomasello: "Mensch werden". Eine Theorie der Ontogenese.

Aus dem Englischen

von Jürgen Schröder.

Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 542 S., geb., 34,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Sein Fokus liegt auf der frühen Entwicklung der Psyche des Menschen. Dabei bleibt Tomasellos Ansatz frei genug, um aufklärerisch zu wirken und Neugier zu wecken ...« Caroline Fetscher Der Tagesspiegel 20201111