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This volume provides a comparative explanation of the institutional evolution of parliaments since the intensification of political competition in the last third of the 19th century.

Produktbeschreibung
This volume provides a comparative explanation of the institutional evolution of parliaments since the intensification of political competition in the last third of the 19th century.
Autorenporträt
Michael Koß, Professor of Comparative Politics (pro tempore), Geschwister-Scholl-Institute of Political Science, Ludwig-Maximilians-University Munich Michael Koß is Professor of Comparative Politics at the Geschwister-Scholl-Institute of Political Science, Ludwig-Maximilians-University Munich. His publications include The Politics of Party Funding (OUP, 2011), Left Parties in National Governments (co-edited with Jonathan Olsen and Dan Hough, Palgrave, 2010), and The Left Party in Contemporary German Politics(co-authored with Dan Hough and Jonathan Olsen, Palgrave, 2007).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.2019

Wenn der Systemfeind auf den Bänken sitzt
Ausschussarbeit: Michael Koß legt eine vergleichende Parlamentsgeschichte von fragloser Aktualität vor

Seit dem Einzug der AfD in den Bundestag ist der Ton dort schroffer geworden. Theresa Mays Kampf um ihren Deal ist zum Kampf um das Unterhaus selbst geworden. In Frankreich regiert Emanuel Macron in der Nationalversammlung mit einer Ad-hoc-Partei, in Italien eine panpopulistische Koalition. Die Lage der repräsentativen Demokratie ist ernst, ihre Zukunft überraschend ungewiss. Wer die heutige Krise des parlamentarischen Regierungssystems verstehen will, muss das institutionelle Dilemma verstehen, in dem Parlamente seit dem Beginn der Moderne stecken.

Über dieses Dilemma hat der Münchener Politikwissenschaftler Michael Koß ein hochinteressantes und bei aller historischen Tiefenschärfe bedrückend aktuelles Buch geschrieben. Es handelt von den Geschäftsordnungen und Geschäftsordnungsreformen der britischen, französischen, schwedischen und deutschen Parlamentsgeschichte der letzten 150 Jahre. Wer das für einen drögen Stoff hält, braucht nur beim Altmeister Wilhelm Hennis nachzuschlagen: Erst in Geschäftsordnungen wird, was man Demokratie nennt, politische Realität.

Moderne Parlamente haben mit ihren historischen Vorläufern, aus denen sie sich im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert entwickelt haben, nur noch wenig gemein. Seit der industriellen Revolution ist der Bedarf nach Regulierung immer stärker angewachsen. Heute sind Parlamente hochkomplexe Institutionen, die ein ungeheures Pensum an Entscheidungsarbeit bewältigen müssen; im Bundestag im jährlichen Mittel etwa 200 Gesetzesvorhaben, 1000 parlamentarische Anfragen und 400 sonstige Anträge, von einigem anderen abgesehen.

Das Redeparlament ist eine Antwort auf Anti-System-Parteien

Die naheliegende Antwort der Parlamente auf die Technizität der Gesetzgebung heißt seit dem neunzehnten Jahrhundert Arbeitsteilung, genauer: Ausschüsse. Ausschussparlamente bezeichnet man als "Arbeitsparlamente". Ausschüsse sind nicht nur ungemein effizient, weil sie es Parlamenten erlauben, sich in kleinen Besetzungen gleichzeitig über sehr viele Probleme zu beugen. Sie haben auch für die Abgeordneten ihren Reiz, gerade für Hinterbänkler, die im Plenum selten zu Wort kommen. Allerdings, so die wichtigste Einsicht dieses Buches, werden Parlamente gerade durch diese Spezialisierung verletzlich. Radikale Anti-System-Parteien können durch Obstruktionstaktiken die Sacharbeit empfindlich stören und dadurch die ganze Institution Parlament in Misskredit bringen. Dabei bestätigt sich eindrucksvoll, wie eindeutig sich systemfeindliche Politik in ihren institutionellen Folgen von noch so scharfer, aber loyaler Opposition unterscheidet.

Es waren die irischen Nationalisten im britischen Unterhaus, die in den 1880er Jahren die moderne parlamentarische Obstruktion erfanden. Im Weimarer Reichstag haben dann NSDAP und KPD obstruiert, die Kommunisten schließlich auch in der Vierten Französischen Republik. Gemessen daran, ist das Agieren der AfD-Fraktionen im Bundestag und in den Landtagen noch halbwegs harmlos.

Wie können Parlamente auf Obstruktion reagieren? Sie können sich in das verwandeln, was man "Redeparlamente" nennt und dessen Musterbeispiel das britische Unterhaus ist: Die Ausschüsse werden entmachtet, die Antragsrechte der Abgeordneten reduziert. Die Kontrolle der parlamentarischen Agenda wird beim Kabinett zentralisiert, das auf diese Weise als einheitlicher Exekutivausschuss des Parlaments fungiert, der im Gegenzug von Parlament öffentlich zur Rechenschaft gezogen wird.

Gewöhnlich erklärt man die Unterschiede zwischen Arbeits- und Redeparlamenten kulturell oder verfassungsrechtlich. Nach Koß sind sie aber nur als Selbstverteidigung des Parlamentarismus gegen seine radikalen Feinde zu erklären. Denn im Redeparlament gibt es eine sehr viel geringere Chance, als Abgeordneter dem Hinterbänklerdasein zu entkommen: lediglich durch ein Ministeramt. Nur unter dem Druck von Anti-System-Parteien haben sich Parlamente zu diesem Verzicht bereit gefunden. Oder auch nicht, wie in der Weimarer Republik, wo der Reichstag trotz der Obstruktion bis zum Zusammenbruch der parlamentarischen Demokratie aus vielen Gründen nicht aus seiner Haut herauskonnte.

Was aber, wenn die radikalen Ränder stärker werden?

Koß deutet solche Zentralisierung von Macht in parlamentarischen Demokratien gerade nicht als bedenkliche Unterdrückung von Minderheiten, sondern als rationale Strategie der Resilienz gegenüber parlamentarisch organisierten Verfassungsfeinden. Und er erklärt, wie sich der Bundestag zu dem entwickeln konnte, was er heute ist: Von der Nachkriegszeit bis in die jüngste Vergangenheit hatte er es nicht mit radikalen Fraktionen zu tun. Auch in der institutionellen Form des Deutschen Bundestages ist also die politische Konstellation der alten Bundesrepublik gespeichert.

Indem Koß diese alternativen Entwicklungspfade verdeutlicht, räumt er zugleich mit etlichen typischen deutschen Fehlvorstellungen über die Funktion von Parlamenten auf. Noch immer hält man es in Deutschland ja für die vornehmliche Aufgabe der Volksvertretung, das Meinungsbild der Bevölkerung möglichst getreu abzubilden und möglichst unabhängig von der Regierung zu entscheiden. In Wahrheit besteht die Funktionsweise der parlamentarischen Demokratie aber gerade in der bis zum politischen Bündnis gesteigerten gegenseitigen Abhängigkeit von Parlament und Regierung.

Allerdings muss man die Technokratie der Ausschussarbeit dabei nicht so positiv beurteilen wie Koß. Gerade der Bundestag leidet ja notorisch an der Unfähigkeit zur Selbstdarstellung und einem eklatanten Defizit öffentlicher Regierungskontrolle. Auch würde man seine Unabhängigkeit von der Bundesregierung als Agendasetzerin sicher etwas anders beurteilen, wenn man nicht nur, worauf sich die vergleichende Untersuchung notwendig beschränkt, das geschriebene Geschäftsordnungsrecht, sondern auch die informellen Regeln des parlamentarischen Verfahrens berücksichtigt.

Und künftig? Wie könnte der Bundestag auf die Etablierung einer Systemopposition reagieren? Was, wenn die radikalen Ränder stärker werden? Könnte er sich deren Obstruktion durch den Übergang zu einem Redeparlament wie in Westminster entziehen, durch den Rückbau der Minderheiten- und Ausschussrechte im Tausch gegen mehr öffentliche Regierungskontrolle? Koß sieht darin tatsächlich eine Möglichkeit der Selbstverteidigung der parlamentarischen Demokratie. Doch einmal abgesehen davon, dass sich das britische Modell heute selbst in seiner schwersten Krise befindet und die Rolle der irischen Nationalisten in diesem Drama dabei von der Regierung ihrer Majestät gespielt wird: Ist das nicht ein sehr modellhaftes Argument? In Wirklichkeit dürften der Bundesrepublik schon wegen ihres Parteiensystems und tiefsitzender Vorbehalte gegen das reine Mehrheitsprinzip alle Voraussetzungen für eine solche fundamentale Reform fehlen. Insofern muss man aus diesem Buch vielleicht düsterere Schlüsse ziehen als der Autor.

FLORIAN MEINEL

Michael Koß: "Parliaments in Time". The Evolution of Legislative Democracy in Western Europe 1866-2015.

Oxford University Press, Oxford 2018. 306 S., geb., 75,- [Euro].

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