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From the Booker Prize-winning author of "The Remains of the Day" and "When We Were Orphans" comes an unforgettable edge-of-your-seat mystery that is at once heartbreakingly tender and morally courageous about what it means to be human.

Produktbeschreibung
From the Booker Prize-winning author of "The Remains of the Day" and "When We Were Orphans" comes an unforgettable edge-of-your-seat mystery that is at once heartbreakingly tender and morally courageous about what it means to be human.
Autorenporträt
Kazuo Ishiguro
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.10.2005

Von der Seele eines Menschen
Ein meisterhafter Roman, der unsere Zeit im Innersten berührt: Mit "Alles, was wir geben mußten" zeigt Kazuo Ishiguro, was es heißt, ein Klon zu sein

So schlicht kann große Literatur beginnen: "Ich heiße Kathy H." Die junge Betreuerin ist die Erzählerin in diesem Meisterwerk, das seinen Autor endlich auch hierzulande bekannt machen wird. Kazuo Ishiguro, der 1954 in Nagasaki geboren wurde und seit seinem sechsten Lebensjahr in England lebt, gehört zu den bedeutendsten englischsprachigen Autoren. In Deutschland ist er noch immer nahezu unbekannt, obwohl die Verfilmung eines seiner Romane durch James Ivory auch in unseren Kinos erfolgreich war. Man kennt den Film und den Titel des Buches: "Was vom Tage übrigblieb". Ishiguros Name hingegen ist nur wenigen geläufig.

Das mag daran liegen, daß sich ein in London lebender Autor mit japanischem Namen und oft typisch englisch anmutenden Themen nicht auf Anhieb einordnen läßt. "Was vom Tage übrigblieb" erzählte die Geschichte eines Butlers in einem Herrenhaus in der englischen Provinz. Und auch Ishiguros neues Buch spielt an einem Ort, wie er englischer nicht sein könnte, einem Landinternat mit einer Horde Kindern, von denen wir drei nicht mehr aus dem Auge verlieren werden. Zwei von ihnen, Ruth und Tommy, werden wir bis zu ihrem grausamen Tod begleiten, die dritte, Kathy, überlebt und berichtet von der Dreiecksgeschichte und dem Schicksal ihrer Freunde, dem auch sie nicht entgehen kann.

Ishiguro läßt es der Internatsgeschichte zunächst an konventionellen Zutaten nicht fehlen: Es gibt die beste Freundin und den gehänselten Außenseiter, Rivalitäten, Eifersüchteleien, die erste Liebe, die Lieblingslehrerin und die strenge Direktorin Miss Emily. Man würde das für gut beobachtet, liebevoll geschildert und arg konventionell halten, wenn Ishiguro nicht immer wieder kleine Hinweise auf die Besonderheit seines Schauplatzes einstreuen würde. Daß die Lehrer in Hailsham als "Aufseher" bezeichnet werden und die Kinder nie die Gelegenheit erhalten, das Internatsgelände zu verlassen, daß Eltern nicht nur nie auftauchen, sondern nie erwähnt werden, als würden sie schlichtweg nicht existieren, daß die Kinder ermahnt werden, besonders aufmerksam auf sich achtzugeben, damit sie später einmal die ihnen zugedachten Aufgaben erfüllen können - all dies läßt an eine gestrenge Elite-Institution denken. Wer hier aufwächst, muß etwas ganz Besonderes sein. Hailsham, soviel ist sicher, soll auf ganz spezielle Aufgaben im Leben vorbereiten.

Und tatsächlich ist Hailsham kein Internat wie jedes andere. Kathy und ihre kapriziöse, zu Intrigen neigende Freundin Ruth, der aufbrausende, aber gutmütige Tommy und all die anderen Kinder sind menschliche Ersatzteillager, Klone, die geschaffen wurden, um ihre Organe später kranken Menschen zur Verfügung zu stellen. Wer hier aufwächst, hat keine Eltern, sondern wurde im Reagenzglas erschaffen. Wer hier aufwächst, hat keine Zukunft, sondern sieht einem Schicksal entgegen, das ihn zum "Spender" bestimmt hat. Als "Spenden" werden Organentnahmen bezeichnet, von denen die dritte oder vierte in der Regel zum Tode führt - oder zu einem Zustand, der schlimmer ist als der Tod. Und doch kann, wer hier aufwächst, von Glück reden, denn Hailsham ist tatsächlich ein besonderer Ort, ein Paradies unter den Aufzuchtstationen für Klone. Aber was es mit diesem Internat der geklonten Waisenkinder tatsächlich auf sich hat, werden Kathy und die Leser dieses Romans erst sehr viel später erfahren.

Nichts wäre falscher, als dieses Buch als Science-fiction-Roman abzutun. Ishiguro interessiert sich nicht sonderlich für die technologischen Möglichkeiten der fernen oder näheren Zukunft, und die ethischen Probleme, um die es ihm geht, werden durch die Biotechnologie und andere Formen des wissenschaftlichen Fortschritts nicht aufgeworfen, sondern nur auf extreme Weise zugespitzt. Das zeigt schon die Angabe von Zeit und Ort der Handlung, die Ishiguro dem Buch vorangestellt hat: "England, am Ende des 20. Jahrhunderts". Beiläufiger läßt sich die banale Behauptung, daß die Zukunft längst begonnen hat, nicht formulieren.

Mag sein, daß die Datierung auf das Jahr 1996 verweisen soll, als in England das Schaf Dolly geklont wurde. Aber Ishiguro will nicht in die Vergangenheit zurückkehren oder in die Zukunft vordringen, sondern ins Innerste der menschlichen Existenz, dorthin, wo Selbstsucht und Grausamkeit, Mitleid, Trauer, Schmerz und Glück, Traum und Sehnsucht sich durchdringen.

Die Frage, ob Selbstsucht und Verrohung in unserer Gesellschaft und die Instrumentalisierung des menschlichen Lebens bereits so weit fortgeschritten sind, daß wir Ishiguros Szenario für plausibel, möglich oder gar wahrscheinlich halten, muß jeder für sich selbst beantworten. Wie immer die Antwort ausfallen mag, Ishiguros meisterhafter Roman trägt diese Frage auf eine Weise an uns heran, die uns bei der Lektüre das Herz zusammenpreßt wie in einem Schraubstock, der sich unaufhaltsam schließt, Seite um Seite, Windung um Windung.

Dabei ist dieser Erzähler unvergleichlich in der Ökonomie seiner Mittel. Was immer man mit dem Thema Klonen verbinden mag, hier werden alle Erwartungen unterlaufen. Es gibt keine genialen oder wahnsinnigen Wissenschaftler, keine skrupellosen Konzerne oder geldgierigen Unternehmer. Begriffe wie Biotechnologie, Labor oder Reagenzglas tauchen nicht ein einziges Mal auf. Ishiguro verzichtet auf alle grellen Effekte, die man gewöhnlich mit dem Thema des künstlichen Menschen verbindet. Anders als in Hollywood-Filmen wie zuletzt "Die Insel" würden Ishiguros Klone nie auf den Gedanken verfallen, sich gegen ihre Erzeuger, die ja zugleich ihre "Verbraucher" sind, aufzulehnen. Sie leiden und sie träumen, aber ihr Schicksal in Frage zu stellen, das vermögen sie nicht. Für Ishiguro gleichen sie auch darin dem normalen Menschen: Wir alle nehmen das Unabänderliche hin, solange wir es für unabänderlich halten.

Anders als der Franzose Michel Houellebecq ist Kazuo Ishiguro kein Skandalautor. Er ist das Gegenteil davon. Die Klone in Houellebecqs neuem Roman "Die Möglichkeit einer Insel" sind Übermenschen, die alles Menschliche verloren haben und sich am Ende wieder auf die Suche danach machen. Houellebecq stellt unserer Gegenwart eine rabenschwarze Diagnose und malt sich aus, wie die Sache weitergehen könnte, voller Genuß an der eigenen Betroffenheit: reißerisch aufgetakelter Kulturpessimismus mit sorgfältig gepflegtem Skandalpotential, medienwirksam, aber literarisch eher belanglos. Der Blick des Franzosen in die menschliche Zukunft ist dunkel und verzweifelt - und Houellebecq gefällt sich in dieser Verzweiflung. Ishiguros Blick hingegen ist von tiefstem Mitleid erfüllt - und von größter Faszination. Wie ein Insektenforscher richtet Ishiguro seinen Blick auf Kathy, Ruth und Tommy, die einander die Familie ersetzen, die sie nie hatten und niemals haben werden, denn Klone können keine Kinder bekommen.

So sind die drei aufeinander angewiesen, wenn sie nicht ganz allein sein wollen. Es gibt, und das ist der geniale Kniff dieses ebenso intelligenten wie gefühlvollen Buches, keine nennenswerte Außenwelt, sondern nur die kleine Gemeinschaft der Klone und ihre tapferen, anrührenden und vollkommen aussichtslosen Versuche, ein normales Leben zu führen. Gegen die Lebenslügen eines Klons sind die Lügengebäude, die Ibsen oder Strindberg auf die Theaterbühne gebracht haben, läppisches Geflunker.

Nein, hier wissen wir einmal nichts besser. Wir durchschauen Nora und Hedda Gabler, und wir mögen uns in John Gabriel Borkman oder dem pantoffeltragenden Gemahl Noras wiedererkennen. Aber in Ruth und Tommy, die Klone, die ihren "Spenden" entgegensehen, können wir uns nicht versetzen: Sie sind uns fremder als jedes andere menschliche Wesen, und doch zwingt uns Ishiguros Kunst dazu, uns mit jenen zu identifizieren, die wir nicht kennen können. Wenn wir mit ansehen, wie Kathy und ihre Gefährten nach und nach die Wahrheit über sich erfahren, lehrt uns Ishiguro ohne jedes Pathos und weitab von Sentimentalität, was Mitleid heißt.

Es gehört zu den einfachen, aber höchst wirkungsvollen Kunstgriffen dieses Autors, daß er uns jede Außensicht auf die Klone versagt. Die Welt, mit der wir es hier zu tun haben, ist die geschlossene, wie hermetisch abgeriegelte Welt der "Spender". Empfänger haben darin keinen Ort, es sei denn als Personal. Kathy und ihre Gefährten verlassen Hailsham zwar nach dem Ende der Schulzeit, aber nur, um die Abgeschiedenheit des Internats gegen die Abgeschiedenheit der "Cottages" einzutauschen, jener ländlichen Behelfswohnheime, in denen die Spender die Zeit bis zu ihrem ersten Einsatz totschlagen. Nun sind sie erwachsen, also achtzehn bis zwanzig Jahre alt, sie können Auto fahren und unternehmen zuweilen sogar Ausflüge. Aber sie bewegen sich in einem seltsamen Raum, der zuweilen an ein Zwischenreich oder eine Parallelwelt gemahnt. Die Welt der Klone scheint von der Welt der Empfänger getrennt, ein Zustand, der mit keinem Wort beschrieben oder gar erklärt würde. Sind die Klone für normale Menschen als Klone erkennbar? Vermutlich nicht, aber sie halten sich abseits von der Gemeinschaft der anderen, wie kranke Tiere, die sich zum Sterben von der Herde entfernen. Nicht ein einziges Mal sehen wir die Klone mit den Augen normaler Menschen. Wir erfahren lediglich, was Kathy in den Augen eines solchen Menschen zu sehen glaubt: "Madame fürchtete sich vor uns. Aber sie fürchtete sich so, wie sich jemand vor Spinnen fürchtete. Darauf waren wir nicht gefaßt gewesen. Es war uns nie in den Sinn gekommen, uns zu fragen, wie es für uns wäre, so gesehen zu werden: als die Spinnen."

Der Moment, in dem Kathy den Blick ihres Gegenübers erforscht, gleicht dem Biß in den Apfel vom Baum der Erkenntnis: Die Klone erkennen, daß sie anders sind, und werden sich darüber selber fremd. Ihre Kindheit ist vorüber. Daß sie ihnen überhaupt gewährt wurde, ist die Folge eines Modellversuchs, mit dem bewiesen werden soll, daß auch Klone eine Seele haben. Deshalb werden die Kinder umsorgt, unterrichtet, erzogen. Sie sollen zeichnen und malen, denn die Produktion von Kunstgegenständen beweist, daß sie kreativ sind, und ihre naiven kleinen Kunstwerke erlauben Einblicke in ihre Seelen. Langsam, quälend langsam schildert Ishiguro, wie die Kinder, sieben oder acht Jahre alt, erste Hinweise auf ihr Schicksal erhalten, wie ihnen souffliert wird, was es mit ihnen auf sich hat, wie sie die Worte der Souffleusen in Hailsham zwar hören, aber ihren Sinn nicht begreifen können. Daß sie "Spender" sind, erfahren die Kinder von Hailsham früh. Aber was vermag eine Zehnjährige sich darunter vorzustellen? Kathy und ihre Gefährten leben über Jahre in einem Zustand zwischen Angst und Sorglosigkeit: Sie kennen ihr Schicksal, und sie kennen es nicht.

Fortsetzung auf der folgenden Seite.

Ishiguro schildert diese langsame, von ständiger Verdrängung begleitete Enthüllung, wenn Schleier um Schleier verschwindet und das Bewußtsein des eigenen Schicksals unabweisbar wird wie das Wachsen eines Krebsgeschwürs. Jeder Halbsatz, den sie aufschnappen, jeder Hinweis, jedes Informationsbröckchen wird zur Metastase, die sich den Kindern in jene Seele frißt, die ihnen abgesprochen wird.

Unter solchen Umständen sind auch die Träume und Sehnsüchte verkrüppelt und ausgesprochen bescheiden: "Ich erinnere mich nicht", sagt Kathy, "daß jemand von einem Leben als Filmstar oder ähnlichem geträumt hätte. Es ging eher um Tätigkeiten wie Postbote oder Landarbeiter." Als die Klone eine Werbebroschüre für Büromöbel finden, fasziniert sie der bloße Anblick von Menschen in einem ganz normalen Büro. Aber auch wenn ihnen ein normales Berufsleben versagt ist, was spricht dagegen, daß ihre menschlichen Vorbilder ein normales Leben führen? So sind die Klone stets auf der Suche nach einer Verbindung in die normale Welt: "Da jeder von uns zu einem bestimmten Zeitpunkt von einem normalen Menschen kopiert worden war, mußte es für jeden von uns irgendwo dort draußen eine Vorlage geben, ein Modell, das ganz normal sein Leben führte. Das hieß, man müßte die Person, der man nachgebildet worden war, auch finden können, zumindest theoretisch. Wenn wir also selbst draußen unterwegs waren - in Städten, in Einkaufszentren, in Raststätten -, hielten wir insgeheim immer Ausschau nach ,Möglichen' - den Menschen, die für uns und unsere Freunde die Vorlage gewesen sein könnten."

Tatsächlich machen sich Kathy, Ruth und Tommy mit zwei Freunden einmal auf den Weg nach Norfolk, wo eine "Mögliche" für Ruth gesehen worden sein soll. Die Klone finden die Frau und beobachten sie durch die Glasfront eines Bürogebäudes: eine gutaussehende Frau um die Fünfzig in einem blauen Kostüm, die mit ihrer Kollegin scherzt und deren Mienenspiel deutlich an Ruth zu erinnern scheint. Für eine Viertelstunde ist Ruth verändert, denn ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Aber dann folgen sie der Frau in eine Kunstgalerie und kommen dem Traum dabei so nahe, daß er zerplatzt. Es ist Ruth selbst, die der Illusion ein Ende bereitet und ausspricht, was bis dahin keiner von ihnen laut zu sagen gewagt hatte: "Wir wissen es alle. Unsere Modelle sind Abschaum: Junkies, Prostituierte, Alkis, Obdachlose. Häftlinge vielleicht auch, solange es keine Irren sind. Von denen stammen wir ab. Wir wissen es alle, also warum sprechen wir's nicht aus?"

Ruth hat ihren Traum verloren, und wenig später wird sie ihre Freundin Kathy verlieren, dann ihre Jugendliebe Tommy, dann ihr Leben. Am Ende wird nur Kathy zurückbleiben. Sie wird zunächst Ruth, dann Tommy "betreuen", das heißt, sie muß die Menschen, die sie liebt, bis in den Tod pflegen und begleiten. Aus Kathy und Tommy wird dann doch noch das Paar geworden sein, das Ruth aus Eifersucht viele Jahre lang verhindert hatte. Gemeinsam versuchen die beiden, herauszufinden, ob der Mythos, von dem die Klone sich untereinander erzählen, der Wahrheit entspricht: Wenn zwei Klone sich wirklich lieben, so heißt es, wird ihnen Aufschub gewährt. Die Liebe besiegt alles, auch den vorherbestimmten Tod eines menschlichen Ersatzteillagers - zumindest für zwei oder drei Jahre. Ein Heilsversprechen in kleiner Münze.

Aber bislang hatte niemand den Versuch unternommen, einen solchen Aufschub zu erhalten. Wie sollten die Klone ihre Liebe beweisen- und vor allem: wem? Die Lösung dieses Rätsels konnte nur in Hailsham liegen, dem Internat, von dem all jene, die nicht dort aufgewachsen waren, mit einem Entzücken sprachen, als handelte es sich um das Paradies. Aber Hailsham wurde geschlossen.

Erst als es Ruth gelingt, jene obskure "Madame" ausfindig zu machen, die regelmäßig nach Hailsham kam, um die schönsten und gelungensten Kunstwerke der Internatszöglinge abzuholen, können sie ihren Antrag vorbringen. In einer bizarren Schlußszene treffen sie auch Miss Emily wieder, die ehemalige Leiterin des Internats. Erst jetzt erfahren Ruth und Tommy das Geheimnis von Hailsham, dieser idyllischen und doch schrecklichen Insel in einem unheimlichen Land, das Ruth auf ihren langen Autofahrten von "Spender" zu "Spender" durchstreift. Ishiguro beschreibt hier ein England, das seltsam leer erscheint, wie entvölkert und aus der Zeit gefallen. Er läßt uns nicht wissen, was Ruth sieht. Aber er läßt uns spüren, was sie fühlt: Die Klone sind Fremdkörper in einer entseelten menschlichen Welt. Eine Zukunftsvision dürfte Ishiguro damit nicht im Sinn gehabt haben. Wie heißt es doch am Anfang dieses großartigen Romans? "England, am Ende des 20. Jahrhunderts".

Hailsham, der Ort, der menschlichen Ersatzteillagern eine menschliche Kindheit schenkte, ist in dieser Welt ein janusköpfiges Symbol: Chiffre für eine unmenschliche Zukunft und zugleich Abglanz all dessen, was einmal als menschliche Werte bezeichnet wurde. Sie würden uns noch schneller aus den Händen gleiten, hätten wir nicht Bücher wie dieses.

Kazuo Ishiguro: "Alles, was wir geben mußten". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden. Karl Blessing Verlag, München 2005. 349 S., geb., 19,90 [Euro].

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.11.2005

Der Traum des Klons von der Kübelpflanze
„Alles, was wir geben mussten”: Kazuo Ishiguro erzählt von Kindern, die als Organspender gezüchtet werden
Nichts ist, wenn man der Literatur glauben darf, so englisch wie ein Internat; und am liebsten tritt es, von Enid Blytons fünf Freunden bis Harry Potter, gleich serienweise auf. Als Internatsgeschichte schreibt auch Kazuo Ishiguro, den es schon als Kind nach England verschlagen hat, seinen Roman „Alles, was wir geben mussten”.
Aber Hailsham ist ein spezielles Internat. Kathy H. denkt daran zurück, sooft sie ihr Auto durchs ländliche England lenkt und halb hinter Pappelreihen verborgen ein altes Herrenhaus erblickt. „Betreuerin” ist sie von Beruf, ein Wort, dem man sofort vage misstraut, noch ehe man weiß, worum eigentlich es sich handelt. Der ganze Kreis, in dem sie von Geburt an gelebt hat, wird umhegt von solchen Vokabeln mit sinister sedierendem Klang: als „Spender” sind diese Kinder herangezogen worden, und nach der vierten „Spende” wird von ihnen erwartet, dass sie „abschließen”. Insbesondere achtet man bei ihnen in der anfälligen Phase zwischen dem vierzehnten und dem sechzehnten Lebensjahr darauf, dass sie nicht das Rauchen anfangen: Denn es bedeutet mehr als ihre Pflicht, es ist ihr Daseinszweck, dass sie ihre inneren Organe frisch und unversehrt bewahren, bis sie gebraucht werden. Nur dazu hat man sie schließlich geklont.
So ziemlich jeder andere Autor hätte diesen Stoff als die Geschichte einer Rebellion inszeniert: Eines Tages erkennt der Held, was gespielt wird, und versucht auszubrechen. Ein Autor des Mittelfeldes hätte ihn damit Erfolg haben lassen, wie in Huxleys „Brave New World”; bei einem stärkeren, der sich sein Vorbild an Orwells „1984” nimmt, hätte am Ende das System triumphiert. Rang und Eigenart von Ishiguros Roman dagegen bezeichnet es, dass er nichts dergleichen geschehen lässt, sondern das Ungeheuerliche als etwas präsentiert, das sich in den Augen der Betroffenen bis zum Schluss ganz von selbst versteht. Zwar wird das Internat von der Außenwelt isoliert; aber das System vollzieht sich keineswegs als Verschwörung, vielmehr hält es für seine Opfer etwa ab dem siebzehnten Lebensjahr eine Art Auswilderungsprogramm bereit, das ihnen das allmähliche Hineinwachsen in die normale Welt, ins zeitgenössische England ermöglichen soll. Keine dunkle Zukunftsvision wird ausgemalt; alles hätte in der Gesellschaft, wie wir sie kennen, ohne weiteres seit Jahrzehnten laufen können.
In der Behandlung des Stoffs hat Ishiguro deshalb eine glückliche Hand, weil das Ganze ihn als Stoff, im Sinn des Aktuellen, gar nicht interessiert. Er nimmt ihn als Sprungbrett, um zu seinem alten Thema zu gelangen: dem Waisenkind. „Als wir Waisen waren” hatte sein letztes Buch, vor fünf Jahren, geheißen. Damals hatte er die Geschichte von einer Kindheit im Shanghai der Zwischenkriegszeit erzählt, von einem Jungen, dessen Eltern mutmaßlich von chinesischen Rauschgiftgangstern entführt wurden, und zwanzig Jahre später macht er sich auf, sie zu suchen - eine Erzählung von jäher Unwahrscheinlichkeit wie der Weg eines Schlafwandlers auf dem Dachfirst, und doch der Logik des Traums untertan, die alles hinnimmt, als könnte es anders gar nicht sein. An die Stelle dieser Traumhülle tritt im neuen Buch das wohletablierte Genre vom abgeschirmten Kosmos der Boarding School - eines Lebensraums, der sich ja selbst unter günstigsten Umständen als ein halbes Waisenhaus bezeichnen ließe. Und wieder ist es die unbewusste Tapferkeit verlassener Kinder, die gar nicht ahnen, wie bestürzend ihr Schicksal einem Außenstehenden erscheinen muss, die Ishiguros erzählerische Aufmerksamkeit bestimmt.
Die Außenwelt tritt im ersten Teil des Buchs nur in Gestalt von „Madame” auf, einer Französin oder Belgierin, stets in grauem Kostüm, die mehrmals pro Jahr anreist, um die kreativsten Basteleien der Schüler für eine rätselhafte „Galerie” einzusammeln und mitzunehmen. Sie hält sich vom Kontakt mit den Kindern fern, offenbar mag sie sie nicht - oder hat sie vielleicht Angst? Die Kinder beschließen, es herauszufinden, sie schmieden einen Plan, den man zugleich klug, kühn und diskret nennen muss (sie sind alle erst zehn oder elf Jahre alt): Zu mehreren wollen sie ihr auf dem Weg zum Hauptgebäude entgegengehen und sie dabei wie unabsichtlich entweder zu einer flüchtigen Berührung oder aber einem Ausweichmanöver nötigen. Sie würden sich dann natürlich entschuldigen - aber an der Reaktion jedenfalls sehen, was wirklich los ist. Der Plan funktioniert auch (es sind die funktionierenden Pläne, aus denen in diesem Buch die größten Überraschungen erwachsen); Madame bleibt wie angewurzelt stehen. Aber es geschieht noch mehr:
„Als sie stehen blieb und erstarrte, warf ich - und mit mir zweifellos auch meine Freundinnen - einen raschen Blick auf ihr Gesicht. Ich sehe es noch heute vor mir, das Schaudern, das sie zu unterdrücken versuchte, die echte Furcht, dass eine von uns sie womöglich aus Versehen streifen könnte. Und obwohl wir einfach nur weitergingen, spürten wir es alle: es war, als wären wir vom hellen Sonnenschein in kalten Schatten getreten. Ruth hatte Recht behalten: Madame fürchtete sich vor uns. Aber sie fürchtete sich so, wie sich jemand vor Spinnen fürchtet. Darauf waren wir nicht gefasst gewesen. Es war uns nie in den Sinn gekommen, uns zu fragen, wie es für uns wäre, so gesehen zu werden: als die Spinnen.”
Das sind die stärksten Stellen des Buchs: Wo der unreflektierte Anschein von Normalität plötzlich aufreißt und in einen Abgrund des Todtraurigen schauen lässt. So, wenn Ruth eines Tages einen Prospekt im Dreck liegen findet, der ein modernes Großraumbüro zeigt! In so einem würde sie auch gern arbeiten, mit richtigen Kübelpflanzen! Aber natürlich wird keiner von ihnen je einen Beruf ausüben; ihre Zukunft ist die Spende. So, wenn Kathy Pornohefte durchblättert auf der Suche nach einer „Möglichen”, einer Person, die ihr selbst ähnlich genug sähe, um vielleicht das Urbild zu sein, nach dem sie geklont wurde. Denn darüber, welches Menschenmaterial zu diesem Zweck herangezogen wurde, gibt sich keiner der Spender Illusionen hin. Und doch, selbst wenn man vom Erbmaterial eines Junkies oder eines Pornostars genommen wäre: es wären so was wie Eltern.
Gegen Ende gelingt es Kathy und ihren Freunden Ruth und Tommy, Miss Emily und Madame in ihrer Klause, wo sie den Ruhestand verbringen, aufzuspüren. Das Zweideutige, das diese beiden Figuren umspielt hat, erweist sich, spät, als Mitleid, das verschwiegen werden musste: Hailsham war ein zäh verfolgtes und verteidigtes Projekt, um einem kleinen Teil der armen Spender ein menschenwürdiges Dasein zu schenken, eine Kindheit wenigstens. Anderwärts sieht es weit schlimmer aus. Die Galerie mit den Bastelarbeiten war dazu da, die Öffentlichkeit zu überzeugen, dass auch Klone eine Seele haben. Inzwischen hat auch Hailsham dicht machen müssen.
Was heißt es übrigens, wenn einer nach der vierten Spende „abgeschlossen” haben wird? Hier öffnet das Buch einmal ein kleines Fenster und zwingt zum Blick in die Tiefe, wie die Schülerinnen es tun, als sie eine aus ihrer Gruppe ans Fenster zerren, ihr die Lider aufreißen und sie zwingen, in den schrecklichen nächtlichen Wald oberhalb des Internats zu sehen. „Sie haben es bestimmt auch gehört: dass Sie, auch wenn Sie technisch gesehen nach der vierten Spende abgeschlossen haben, immer noch irgendwie bei Bewusstsein sind; dass, wie Sie dann feststellen werden, jenseits dieser Grenze noch weitere Spenden stattfinden, viele sogar; dass es dann keine Erholungszentren mehr gibt, keine Betreuer, keine Freunde; dass Sie nichts mehr tun können als Ihre weiteren Spenden zu verfolgen, bis Sie irgendwann abgeschaltet werden.” Auch dies, die furchtbare Hauptsache, wird im selben sanften, ruhigen Ton mitgeteilt, den das Buch immer wahrt; wie ein winterliches Atemwölkchen steht er vor der absoluten Schwärze der Nacht.
BURKHARD MÜLLER
KAZUO ISHIGURO: Alles, was wir geben mussten. Roman. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing Verlag, München 2005. 349 Seiten, 19,90 Euro.
Ein Blick über die Mauer in jene Außenwelt, die den Klonen verschlossen bleibt.
Foto: Corbis
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Masterly... A novel with piercing questions about humanity and humaneness. Sunday Times