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Produktdetails
  • Verlag: HARPERCOLLINS
  • Gesamtlaufzeit: 369 Min.
  • Erscheinungstermin: 26. Januar 2021
  • Sprache: Englisch
  • ISBN-13: 9781799971122
  • Artikelnr.: 60407173
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.04.2021

Auf nach Süden

Der amerikanische Journalist Charles Blow wirbt für die Massenwanderung von Afroamerikanern in die Südstaaten, wo sie die Politik verändern sollen. Sein Buch ist auch ein Dokument der Desillusioniertheit.

Von Frauke Steffens, New York

Packt eure Sachen, beladet den Umzugswagen und zieht nach Süden - so in etwa lässt sich der Appell zusammenfassen, den ein bekannter schwarzer Journalist dieser Tage an seine afroamerikanischen Landsleute richtet. Ein "Black Power Manifest" nennt Charles Blow sein Buch "The Devil You Know", anknüpfend an die schwarze Befreiungsbewegung. Die größte Wanderungsbewegung in den Vereinigten Staaten im zwanzigsten Jahrhundert will Blow quasi umkehren - denn ihre Versprechen hätten sich nicht erfüllt.

Sechs Millionen Schwarze waren zwischen 1910 und 1970 von den Südstaaten in den Norden gekommen, in der Hoffnung auf bessere Jobs und weniger Diskriminierung. Das Projekt sei vorerst gescheitert, meint der "New York Times"-Kolumnist und schreibt: "Wir brauchen einen Exodus nach Süden, und zwar in ausreichender Zahl und Dichte, so dass schwarze Menschen erleben können, was wahre und andauernde Macht bedeutet." Er glaube, dass das nicht nur gut für die Afroamerikaner sei, sondern für das ganze Land. Schließlich herrschen im Süden überwiegend weiße Republikaner, die dank des Zuschnitts von Wahlbezirken und aktiver Wählerbehinderung die Politik in Washington überproportional stark bestimmen. Wenn nun mehr Afroamerikaner in die Staaten zögen, wo sie einst mancherorts die Bevölkerungsmehrheit ausmachten, könnten sie Senatoren stellen und wirkliche politische Macht ausüben, so Blow. "Black Power", politische Macht von Schwarzen, bedeutet nicht, dass Weiße keine Macht haben sollten - entsprechende Fragen muss der Autor angesichts der geschichtsvergessenen Debatten der Gegenwart immer mal wieder beantworten.

Der Teufel, den man kennt.

Doch warum sollte sich jemand, der in Chicago oder New York wohnt, entwurzeln und sich den noch offeneren Rassismus vieler Menschen im Süden antun? Blow ist der Ansicht, dass viele Schwarze ihre Beziehungen dorthin nie ganz aufgegeben hätten. Sie besuchten in den Südstaaten Familienangehörige und fühlten sich der Kultur, der Musik und dem politischen Schicksal der Gegend verbunden, in der einst ihre Vorfahren versklavt wurden und wo bis zur "Great Migration" neunzig Prozent aller Afroamerikaner zu Hause waren. Der Titel des Buches, "The Devil You Know", ist eine Redewendung für das bereits bekannte Übel - wörtlich der Teufel, den man kennt. Im Süden sei der strukturelle und persönliche Rassismus offensichtlich und könne in seiner Unverhülltheit konfrontiert werden, so lautet Blows These. Vom Norden hätten sich Generationen von Afroamerikanern ein besseres Leben erhofft, nur um ein etwas anders beschaffenes Übel vorzufinden - doch der "Teufel" bleibe eben der Teufel, schreibt er.

Der fünfzig Jahre alte Blow ist selbst ein Rückkehrer in den Süden. Aufgewachsen in Louisiana, machte er Karriere bei der "New York Times", erzog seine Kinder in einem immer weißer werdenden Teil von Brooklyn und wanderte kürzlich nach Atlanta ab. Das Bedürfnis mancher Schwarzer nach "safe spaces" an Universitäten zeige ihm, wie anders sein Leben verlaufen sei, sagte der Journalist in einem Interview. Mehrheitlich von Schwarzen besuchte Schulen und Hochschulen im Süden hätten ihm diese sicheren Räume eben bieten können, die für Weiße so selbstverständlich sind: Nie habe er als Kind daran zweifeln müssen, dass "das klügste Kind im Raum" auch schwarz sein könne. Selbst Begegnungen mit der Polizei seien in seinem Leben im Süden respektvoller verlaufen als im Norden, so der Autor, dessen Memoiren "Fire Shut Up in My Bones" in diesem Jahr in eine Oper verwandelt werden, die die Saison an der Metropolitan Opera in New York eröffnen wird.

Blows Geschichte ist also eigentlich eine Erfolgsgeschichte im Norden, aber sie ist statistisch eben auch eine Ausnahme - und ihre Grundlagen sieht er in dem Selbstbewusstsein, das ihm das Aufwachsen als Teil einer Mehrheit gab. Wenn all die Versprechen der gleichen Chancen in den weiß dominierten Gegenden des Nordens wahr geworden wären, müsste man eigentlich viel weiter sein, gibt Blow zu bedenken. Doch Schwarze erledigen immer noch vor allem Dienstleistungsjobs und landen überproportional häufig im Gefängnis. Und die Hoffnungen auf Wohlstand erfüllten sich für viele nicht: Im Jahr 1863 besaßen schwarze Amerikaner ein halbes Prozent des nationalen Wohlstandes - heute sind es bei einem vergleichbar hohen Bevölkerungsanteil 1,5 Prozent. Es sei ein Mythos, schrieb der Historiker Calvin Schermerhorn, dass sich Millionen Schwarze auf der Suche nach besseren Gehältern auf den Weg nach Norden machten, dort Wege in die Mittelklasse fanden und erst durch die Wirtschaftskrise der siebziger Jahre und das Wegbrechen von Industriejobs scheiterten.

In Wahrheit waren sie von den großflächigen Sozialprogrammen ausgeschlossen, die den Wohlstand der weißen Mittelschicht nach 1945 begründeten und den diese seitdem weitervererben konnte. Schon die Kredite, die der "New Deal" zum Hauskauf bereitstellte, konnten sie in der Regel vor Ort nicht bekommen - und auch von den Vorteilen der "G.I. Bill", die heimkehrenden Soldaten ein Studium und den Hausbau ermöglichte, waren Schwarze in der Praxis meist ausgeschlossen - auch im Norden.

Von den 1200 Städten mit mehr als fünfzig Prozent schwarzen Einwohnern liegen tausend auch heute schon im Süden. Viele dieser Kommunen leiden noch immer unter den Folgen der "white flight", die ihnen besonders im 20. Jahrhundert Steuereinnahmen und Jobs entzog. Schwarze Familien besitzen häufig keinen ererbten Wohlstand, der das ausgleichen könnte. Laut der Brookings Institution lag der nationale Mittelwert 2020 für das Vermögen einer schwarzen Familie bei 17150 Dollar, der durchschnittliche Wohlstand einer weißen Familie betrug demnach fast das Zehnfache, nämlich 171000 Dollar.

Am ehesten ließen sich diese Verhältnisse verändern, wenn Schwarze versuchten, Mehrheiten zu bilden, glaubt Blow. Die Lösung der strukturellen Probleme bestehe nicht darin, sich zu deren Bedingungen gut mit den Weißen zu arrangieren. Ebenso gut könnten ja auch Weiße die Minderheit in manchen Orten bilden.

Der oft sogenannte "Neue Süden" ist dabei schon seit längerer Zeit demographische Realität. Schwarze Familien ziehen zu Tausenden weg aus Chicago, Philadelphia oder New York. Die Entwicklung begann bereits in den siebziger Jahren, als Industriearbeitsplätze wegbrachen und viele Schwarze desillusioniert von Rassismus und Armut waren. Hatte der Süden zwischen 1965 und 1970 noch 280 000 afroamerikanische Bewohner verloren, zogen zwischen 1975 und 1980 100 000 zu. Heute sind die Bundesstaaten mit der größten afroamerikanischen Bevölkerung mit je rund vier Millionen Menschen Georgia, Florida und Texas. Atlanta ist das Zentrum dieses Trends und bietet gerade jungen, gut ausgebildeten Schwarzen viele Chancen.

Blows Argumentation hat offensichtliche Schwächen. So kann man einwenden, dass hier ausgerechnet die Afroamerikaner aufgefordert werden, ihr Leben radikal zu ändern, um den strukturellen Rassismus im Land zu bekämpfen. Ein anderer Einwand gegen seinen Aufruf lautet, dass von Schwarzen regierte Städte wie Birmingham oder Atlanta bislang nicht weniger soziale Probleme haben. Und natürlich würden linke Demokraten Blow entgegenhalten, dass auch Weiße die Interessen armer Schwarzer vertreten könnten. An ihrer materiellen Lage hat das allerdings bislang zu wenig geändert, und Rassismus erwies sich immer wieder als wirkungsvolle Waffe gegen die Solidarisierung weißer und schwarzer Arbeiter.

Hippies in Vermont.

Blow bezeichnet seinen Vorschlag als "kühnsten machtpolitischen Schritt", den Schwarze je unternommen hätten. Allerdings sind seine Überlegungen nicht ganz so neu und radikal, wie er auch selbst einräumt. In der Strömung des "Black Nationalism" tauchten ähnliche Gedanken immer mal wieder auf. Und das offensichtlichste Beispiel für politisch motivierte Wanderungen war der Umzug Tausender weißer Hippies nach Vermont seit den sechziger Jahren - sie verwandelten einen eher konservativen Bundesstaat langsam in eine linksliberale Gegend, die seit Anfang der neunziger Jahre auch wieder Demokraten zu Präsidenten wählt.

Wanderungsbewegungen hatten auch andernorts immer wieder politische Ergebnisse. Amerikaner ziehen im Allgemeinen häufiger um als Europäer - und es wäre ein Missverständnis, zu glauben, dass Weiße nicht auch Machtverhältnisse produzieren und reproduzieren, wenn sie sich für eine Wohngegend, einen Wahlbezirk, ein Steuerdistrikt oder einen Schulbezirk entscheiden. Wenn in einer Vorstadt in New Jersey oder New York eine Mehrheit von Menschen mit italienischem oder irischem Migrationshintergrund die lokale Politik bestimmt, wird das aber nicht kritisch als "Identitätspolitik" gesehen.

Blows Idee der gezielten Rückwanderung wird unterdessen besonders von schwarzen Kommentatoren eher positiv aufgenommen. Er trat in bekannten Podcasts wie der Touré Show oder bei Bakari Sellers auf. Die Historikerin Tanisha C. Ford schrieb für die "New York Times" eine wohlwollende Rezension, in der sie zwar einige geschichtswissenschaftliche Einwände erhob, dem Journalisten aber bescheinigte, die Diskussion um Afroamerikaner und politische Macht fruchtbar angeregt zu haben. Bei vielen Weißen dürfte sie Ablehnung, vielleicht Wut hervorrufen. Zu untersuchen, woher diese kommt, kann noch sinnvoller sein als das unmittelbare Abwehren der Thesen des Journalisten. Ob die bei den Adressaten auf Gegenliebe stoßen und was daraus folgt, liegt ohnehin nicht in der Hand weißer Meinender.

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