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Wilde, gruselige, spannende, lustige Geschichten sind das Lebenselexier der neunjährigen Nory. Nichts macht ihr mehr Spaß, als Geschichten zu erfinden. Den Stoff findet Nory in ihren Albträumen, doch tags ist sie ein glückliches, aufgewecktes Kind. Ein zauberhaftes Buch, herzerfrischend frech ...

Produktbeschreibung
Wilde, gruselige, spannende, lustige Geschichten sind das Lebenselexier der neunjährigen Nory. Nichts macht ihr mehr Spaß, als Geschichten zu erfinden. Den Stoff findet Nory in ihren Albträumen, doch tags ist sie ein glückliches, aufgewecktes Kind. Ein zauberhaftes Buch, herzerfrischend frech ...

Autorenporträt
Baker, NicholsonNicholson Baker wurde 1957 in Rochester, New York, geboren. Er studierte u.a. an der Eastman School of Music und lebt heute in South Berwick, Maine. Er hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht. 1997 erhielt er den Madison Freedom of Information Award, 2001 den National Book Critics Circle Award für «Der Eckenknick», 2014, zusammen mit seinem Übersetzer, den Internationalen Hermann-Hesse-Preis. Zuletzt erschienen von ihm «Eine Schachtel Streichhölzer», «Menschenrauch», «Haus der Löcher» und die Essaysammlung «So geht's».
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.03.2000

Nory und wie sie die Welt sah
Es gibt ein Leben nach dem Sex: Nicholson Baker erzählt von einem neunjährigen Mädchen
Will man dieses Buch nur lesen, und es ist wahrscheinlich die beste aller denkbaren Arten, mit ihm umzugehen, dann handelt es sich einfach um ein zauberhaft erzähltes und auch sonst wunderbares Stück aus dem Leben von Eleanor Winslow, genannt Nory. Sie ist neun Jahre alt und Amerikanerin, lebt jetzt mit ihren Eltern in England und geht dort auch zur Schule. Man wird dann in „Norys Storys” ein einfaches, wahrscheinlich auch etwas putziges Buch aus der Welt der Tintenkiller und Marienkäfer sehen, ein Buch von Ansichten und erfundenen Geschichten, wie sie Kinder nun mal produzieren.
Die Ansichten Norys sind in der Tat sehr vielfältig, und so hat sie auch zur Literaturkritik eine eigene Meinung: „Manchmal bestand das Problem, jemandem von einem Buch zu erzählen, darin, dass die Beschreibung, die man davon geben konnte, genauso leicht die Beschreibung eines langweiligen Buches sein konnte. Diesem Menschen kann man mit nichts beweisen, dass es wirklich ein gutes Buch ist, außer er liest es selbst. Aber wie soll man ihn dann davon überzeugen, dass er es lesen soll, außer er kriegt einen Schimmer davon, was so toll daran ist, indem er ein bisschen davon liest?” Auch wenn wir uns nach Nory richteten, müssten wir also schlicht sagen: Lesen Sie! Und es dann dabei belassen. Die Literaturkritik aber bleibt trotzdem verdammt, ihren Gegenstand zu zerpflücken und (wenn sie Glück hat) wieder zusammenzusetzen und so das Unmögliche zu versuchen.
Noblesse in der Pornografie
Erst einmal die Vorgeschichte: Lange war der Schriftsteller Nicholson Baker nicht mehr als ein Geheimtipp, er hatte die Liebe zu den Dingen der Welt in die Literatur zurückgeführt, von Kritikern und Literaten dafür hoch geschätzt, aber sonst wenig gelesen. Dann schrieb er zwei Bücher über Sex, „Vox” und „Die Fermate”, die sich naturgemäß besser verkauften, und die auch wirklich ziemlich scharf waren, wenngleich Baker auch hier nie die zurückhaltende Zuneigung zur Welt verließ. Er brachte so, ein bisher weitgehend übersehener Fortschritt, Noblesse in die Pornografie.
Dazwischen aber war „Zimmertemperatur” erschienen. Damals saß der Erzähler in einem Sessel und gab seiner sechs Monate alten Tochter die Flasche und entwickelte aus dieser Situation eines der schönsten Weltbejahungsbücher, die überhaupt geschrieben worden sind. Dieses Mädchen ist jetzt groß geworden, nämlich neun – in Wirklichkeit hieß und heißt sie, wie wir aus der Zuneigung erfahren, Alice. Baker schreibt über diese seine Tochter, mit ihr und für sie. Sowohl „Zimmertemperatur” als auch „Norys Storys” sind aus dem Empfinden heraus geschrieben, das einen sonst drängt, Kinderbücher zu verfassen. Dass es gut ist, diesem Drängen nicht nachzugeben, sieht man an der Art, wie es sich bei den beiden Büchern von Nicholson Baker ganz eindeutig um Erwachsenenbücher handelt.
„Norys Storys” – das sich im deutschen Titel etwas anbiedernd an Ingo Schulzes „Simple Storys” anlehnt, obwohl das Buch im Englischen treffender „The Everlasting Story of Nory” heißt, was doch etwas Anderes ist, zumal das „Immerwährend” in dem Buch vielfach aufgenommen wird und für Nory große Bedeutung hat, trotzdem muss man festhalten, dass der Übersetzer Eike Schönfeld einer der besten ist, die es gibt –, „Norys Storys” also wirkt sehr einfach, fast simpel, ist aber ein höchst trickreiches, kunstvolles Buch. Man wird einfach das Gefühl nicht los, dass es Nory ist, die hier erzählt – das aber ist eine Täuschung.
Es gibt hier kein erzählendes Mädchen-Ich, keine falsche Fiktion des Vaters, der meint, für seine Tochter sprechen zu können. Aber es ist auch nicht der Vater, der spricht, vielmehr findet oder erfindet Baker einen Erzähler, der einerseits die größte denkbare Nähe zu Nory hat, der andererseits aber ganz sachlich bleibt. Und so ist es eine neue, sehr schöne Balance zwischen Intimität und Distanz, die Baker hier in das weit verbreitete, aber meist nicht als selbständig anerkannte Genre „Kinder und wie sie die Welt sehen” einführt.
Die großen Katastrophen, die in jedem Kinderleben stattfinden, sind in diesem Buch domestiziert. Nicholson Baker ist vielleicht der erste echte Schriftsteller einer befriedeten Welt, auch und gerade in diesem Buch. Und das nicht, weil irgend etwas verniedlicht oder ausgeblendet würde, sondern weil die Schrecken, die auch keine anderen sind als die, von denen Stephen King erzählt – Nory kämpft schwer mit ihren Träumen und der Ächtung und Schikanierung einer Mitschülerin, die sie als ungerecht empfindet –, weil diese Schrecken vollständig in die Erzählung integriert werden. Geschichten haben in „Norys Storys” eine große verbindende und lösende Kraft, sie überbrücken den Abstand zwischen Eltern und Kindern, weil mit dem Erzählen beide in eine gemeinsame Welt gehen können.
Wie der Vater so die Tochter
Fast von selbst ergibt sich daraus die Sanftmut des ganz und gar nicht naiven Erzählers. Auch mit diesem Buch ist Nicholson Baker wieder der zarteste Schriftsteller, den es zur Zeit gibt. Und auch Nory, darin ganz Tochter ihres Vaters, hat einen ausgesprochen edelmütigen Blick auf die Welt, sie will den Dingen Gerechtigkeit widerfahren lassen, sie will niemandem zu nahe treten, der das nicht will – obwohl sie sich sehr nach einer „besten Freundin” sehnt –, sie hat ein ausgeprägtes Taktgefühl. Das alles, und nicht nur die Fantasie und die eigenwillige Sicht auf die Dinge, die sich bei einem solchen Buch fast von selbst verstehen, in einem Buch untergebracht zu haben, ist Nicholson Bakers vielleicht nicht spektakuläre, aber umso schönere Erzählleistung.
Um den Eindruck komplett zu machen, müssten jetzt noch einige der Geschichten erzählt werden, die Nory erfindet – mindestens die von den Käfern, die Totenuhren heißen und vom Regen, der verbrennt – aber das soll der Leser doch lieber in dem Buch von Nory nachlesen, da hat sie schon recht.
PETER MICHALZIK

NICHOLSON BAKER: Norys Storys. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek 2000. 320 Seiten, 42 Mark.
Gott der kleinen Dinge: Der Schriftsteller Nicholson Baker
Foto: Verlag
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.05.2000

Salut für Herrn Durstig
Nicholson Baker im Reich der Kindheit · Von Lothar Müller

Man kann den amerikanischen Schriftsteller Nicholson Baker nicht genug für die Beharrlichkeit und List rühmen, die er beim Verteidigen der Bastionen des heiteren Erzählens an den Tag legt. Denn die Heiterkeit in ihrer lauteren, vom aufgekratzten Plappern der ewig Gutgelaunten leicht unterscheidbaren Essenz ist in der modernen Literatur ein kostbares Gut. Mächtig sind hier die Dämonen der Negativität, betörend die Düfte der Blumen des Bösen, allgegenwärtig die Anrufungen der zehnten Muse, der Melancholie. Und streng zumal seit dem zwanzigsten, dem Jahrhundert der Katastrophen, die Tabus, die über die Eingangstore zur Idylle und allen anderen Regionen der Weltbejahung wachen. Nicholson Baker, 1957 in Rochester bei New York geboren, ist an den Torwächtern immer wieder vorbeigeschlüpft. In den Romanen "Vox" (deutsch 1992) und "Die Fermate" (1994) ausgerechnet dort, wo die moderne Literatur den Griff zu den Registern des Unglücks besonders nahe legt: bei den sexuellen Obsessionen. Statt Elegien über die Tristesse des Telefonsex lieferte Baker ein Capriccio über den sprachverliebten Sex am Telefon. Der Selbstentblößung bis zum Ekel und dem Geständniszwang, der gemeinhin mit Larmoyanz und Langeweile verbunden ist, gewann er Kabinettstücke jenes Genres ab, das den Traditionen der Verschränkung von Obszönität und Düsternis lächelnd Paroli bietet: der heiteren Pornographie.

Jetzt, in seinem wunderbaren neuen Buch, ist Baker mit seiner hellen Sonde ins Herz der Finsternis vorgestoßen, in die Kindheit. Die ist, in den anspruchsvollen Theorien ebenso wie in der anspruchsvollen Literatur, seit langem genauso verdüstert wie die Liebe. Die kleinen edlen Wilden sind aus ihren romantischen Paradiesen vertrieben worden. Aus der heiligen Familie ist eine vielköpfige Hydra geworden, die Neurosen aus sich herauszüngeln lässt. Die unglückliche Kindheit ist in den meisten Gegenwartsromanen die ungekrönte Königin, die glückliche ins Exil der Trivialität und des erzwungenen Glücks abgeschoben. Schon 1984 hat sie Nicholson Baker in seinem Roman "Zimmertemperatur" (deutsch 1993) zurückgeholt. Darin sitzt ein Vater im Schaukelstuhl, auf den Knien das "Times Literary Supplement" und auf dem Arm die sechs Monate alte Tochter. Sie heißt Floh und saugt an ihrer Flasche. Das ist so ziemlich alles, aber es passiert viel in dieser unter das sprachliche Elektronenmikroskop gelegten Situation, ehe das Kind einschläft.

Nicholson Baker ist ein Meister in der Beschreibung unauffälliger Dinge. Die Ereignisdichte seiner Bücher ist die eines Bienenkorbs voller Wahrnehmungen, Assoziationen und Ideen, in denen die Dinge sich aus ihrem alltäglichen Zusammenhang lösen und in eine verwickelte Geschichte schweben, die nicht unbedingt ein Ende haben muss. Das Kind aus der "Zimmertemperatur" ist in dem Roman "Norys Storys", der im Original den schöneren und genaueren Titel "The Everlasting Story of Nory" (1998) trägt, älter geworden. Er sieht aus wie ein Kinderbuch, mit einem Mädchen in Schulkleidung auf dem Umschlag, das ein Buch unter dem Arm und um den Kopf einen Luftkreis hat, in dem Tiere, ein Zahn und ein kleiner Bruder Karussell fahren.

Aber dieses Titelbild ist eine Verkleidung, und die Frage, wer dieses Buch erzählt, gehört zu den kniffligeren, die darin vorkommen. Nory, mit vollem Namen Eleanor Winslow, neun Jahre, in Boston geboren, im kalifornischan Palo Alto aufgewachsen, ist es jedenfalls nicht. Sie ist für einige Monate mit Vater, Mutter und "Littleguy", dem kleinen Bruder, in England zu Gast, in der Nähe von Oxford. Daher die Schuluniform, die es in der chinesischen Montessori-Schule in Palo Alto nicht gab. Von ihren Geschichten, Träumen und Erinnerungen handelt das Buch, das sie nicht selbst erzählt. Auch der Vater und die Mutter erzählen es nicht. Es gibt eine anonyme Stimme, die das für die Figuren erledigt. Diese Stimme kann sich sehr gut verstellen und beherrscht alle Tricks der Bauchrednerei. Sie bringt das Kunststück fertig, alle Echos aufzufangen, die aus dem Bauch von Nory kommen, und doch erkennbar die Stimme eines Erwachsenen zu bleiben. In der folgenden Passage erkennt man das spätestens am letzten Satz: "Die Kathedrale von Threll war eindeutig das größte Ding in der Stadt. Es war eine alte Kathedrale mit einem Turm darauf, der die einzigartige Fähigkeit besaß, einem ganz nah zu erscheinen und trotzdem weit weg zu sein. Flugzeuge können das auch. Sie wirken nah, sind es aber nicht, außer man hat gerade nicht seinen Glückstag."

In der Stimme, die sich Nicholson Baker für diesen Roman erfunden hat, ist sein Talent, den Dingen und Wörtern eine Pointe abzulauschen, allgegenwärtig. Glücklich bestreitet er sein Heimspiel im Reich der Kindheit, wo die Lauthüllen den Worten noch nicht fest angegossen sind. Selig schlägt er Funken um Funken aus den unbekannten oder halb verstandenen Ausdrücken oder aus den feinen Unterschieden zwischen dem Amerikanischen, das Nory spricht, und dem Englischen, wie es die Kinder und Erwachsenen in Threll sprechen, das man übrigens auf keiner Landkarte findet. Hingebungsvoll widmet er sich dem Kauderwelsch des zweijährigen Littleguy, Norys Mikromythologie der Batman-Lineale, Tintenkiller und Unterwasser-Barbies, den verzerrten Echos der großen antiken Mythologie von Achilles bis Jason und der katholischen Religion sowie vor allem der ausgeprägten Leidenschaft seiner Heldin für alles, was mit Zähnen zu tun hat. "Nory mochte es, wenn Herr Durstig den Speichel herausdurstete, sie mochte das hohle Sprudelgeräusch, das er dabei machte. Herr Durstig war nur der Name, den Zahnärzte einem bestimmten kleinen gebogenen Stück Saugrohr gaben, damit es den Kindern netter vorkam. Und es funktionierte. Wenn man es zu lange drin behielte, würde es den Mund völlig trocken saugen, was ein interessantes Experiment wäre."

Irgendwann wäre dieses Experiment nicht mehr richtig lustig. Und genau auf diesen Umschlagspunkt kommt es Nicholson Baker in diesem Buch an. Es spielt nicht nur bei Oxford, es trägt zudem die Widmung: "Für meine liebe Tochter Alice, die Informantin". Ein Schriftsteller, der seine Tochter Alice nennt, lebt an sich schon in gefährlicher Lewis Carroll-Nähe. Wenn er dann noch ein Buch schreibt wie dieses, wird er dem Verdacht, eine Hommage an "Alice im Wunderland" oder "Alice hinter den Spiegeln" im Sinn zu haben, kaum entgehen. Aber zum einen ist in diesem Buch die höhere Logik, aus der bei Carroll die Poesie des Unsinns hervorgeht, eine auffällige Leerstelle. Und zum anderen ist bei Carroll das Heraustreten des Schrecklichen, Unheimlichen und Unbegreiflichen aus dem Alltag die entscheidende Metamorphose. Bei Baker aber die Heimholung aller Schrecken in den Grundton seines Erzählens, die Heiterkeit. Einmal heißt es, der Beitrag von Norys Vater zur Welt sei es, "Bücher zu schreiben, die den Leuten beim Einschlafen helfen". Das liest sich auf den ersten Blick ein wenig wie Understatement und Koketterie. Aber darin steckt die ernst gemeinte Theorie des Erzählens, die in diesem durchtriebenen Kinderbuch versteckt ist. Sie lässt sich in einen Satz zusammenfassen, der auch in philosophischen Büchern wie Hans Blumenbergs "Arbeit am Mythos" stehen könnte: Aufgabe des Erzählens ist die Entschrecklichung des Schrecklichen. Das Schreckliche, Grausige und Angstmachende aber gehört, zumal in der Kindheit, zu den unvermeidlichen Bestandteilen der Welt.

Nicht das Arsenal von Norys Geschichten, sondern das Geflecht von Motiven, aus denen sie Geschichten erzählt, ist der Kern des von Eike Schönfeld einschließlich aller Sprachspiele und Manierismen virtuos übersetzten Buches. Einer der Hauptstränge handelt davon, wie man böse Träume entweder im Vorhinein vermeidet oder, wenn man von ihnen heimgesucht wurde, wie man ihnen den Schrecken nimmt, indem man sie umerzählt. So dem Albtraum von der schaurigen Mönchsleiche auf dem Friedhof der Kathedrale, aber auch den Schreckensbildern, die aus einem Video oder Kinofilm hängenbleiben, obwohl man sie lieber schnell loswürde. Denn Nory ist nicht nur begeisterte Anhängerin von Werbespots. Ihre Übungen in der Kunst, im Erzählen Distanz zu allem möglichen Angstmachenden zu gewinnen, findet in einer Welt der friedlichen Koexistenz der Medien statt. Die Totenuhren, die in der alten Kathedrale das Gebälk porös machen, gehören darin keiner anderen Ordnung an als die Muster auf den Bildschirmschonern der Computer. Weil die Geschichten das Leben einhüllen wie eine Schutzschicht, schreibt Nory gerne "Fortsetzung folgt" unter alle angefangenen Erzählungen, auch wenn sie sie nie zu Ende bringt.

Die lebensweltliche Logik, die in diesem Buch stets vor der mathematisch-grammatikalischen Vorrang hat, erlaubt es dem Superlativ "beste Freundin" nicht an eine Person gebunden zu sein. Auch nicht an die schreibfaule Debbie, die in Amerika geblieben ist, von wo in krausen Erinnerungen die Bilder eifriger schulischer Sicherheitsübungen in England auftauchen. Baker hat sich nicht gescheut, seinem Roman das schlichte Muster einer moralischen Erzählung zugrunde zu legen: Sie handelt davon, wie Nory, der ihr Fremdsein in England nicht zum Bösen ausschlägt, der ständig schikanierten Mitschülerin Pamela gegen alle Nachstellungen beisteht.

Die Apologie des heiteren Erzählens, die er damit auf die Spitze treibt, ist dennoch genau so raffiniert wie in den pornographischen Büchern. Aber nicht in der Art von Lewis Carroll, sondern in der Art von A. A. Milne, der in seinem "Winnie-the-Pooh" (1927) das Grundbuch des neueren untragischen Erzählens von der Kindheit geschrieben hat. Carrolls Alice hat in Nicholson Bakers Nory eine entfernte Verwandte, Milnes Christopher Robin aber eine literarische Schwester erhalten. Sie ist die Heldin in einem aufgeweckten Buch, das beim Einschlafen helfen kann. Letzte Sicherheit gibt es aber naturgemäß auch hier nicht: "Im Grunde müsste man sich selbst die beste Chance geben, keinen bösen Traum zu haben, indem man über etwas Comicartigem und Fröhlichem eindöst. Aber sogar dann kann sich im Kopf noch ein böser Traum in Gang setzen."

Nicholson Baker: "Norys Storys". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Eike Schönfeld. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000. 320 S., geb., 42, - DM.

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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Etwas "ungemein Schwieriges", findet die Kritikerin Ina Hartwig, hat Nicholson Baker versucht: nämlich den Blick des Erwachsenen "nicht auf, sondern ins Innere der Kinderwelt" zu werfen. Die Entscheidung, ob dies gelungen ist, möchte Ina Hartwig noch etwas aufschieben. Da sie ihre Kritik trotzdem schreiben musste, führt sie einigermaßen umständlich in die Handlung ein. Erzählt von der Hauptfigur, dem Mädchen Nory und ihren Freundinnen und von Norys Verpflanzung aus Kalifornien nach England. Norys literarische Verwandtschaft mit Lewis Carolls Alice wird knapp beleuchtet und Bakers Affinitäten zu Nabokov. Bei allem wirkt die Rezensentin sehr bemüht, weder dem Autor noch dem Roman selbst, den Eike Schönfeld "äußerst gelenkig" ins Deutsche übersetzt habe, je zu nahe zu treten. Doch man ahnt: Baker hat schon bessere Bücher geschrieben.

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