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Edward Gibbon (1737 1794) war der größte Historiker seines Jahrhunderts. Seine zwischen 1776 und 1788 erschienene History of the Decline and Fall of the Roman Empire ist von Anfang an und bis in unsere Zeit als epochales Werk aufgenommen worden. Sie galt als triumphale Einlösung dessen, was das Zeitalter der Aufklärung unter Geschichtsschreibung verstand nämlich historische Wissenschaft, aktuelle Philosophie und schöne Literatur zugleich zu sein. Auch im deutschen Sprachraum setzte unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes der Geschichte vom Verfall und Untergang des römischen Imperiums…mehr

Produktbeschreibung
Edward Gibbon (1737 1794) war der größte Historiker seines Jahrhunderts. Seine zwischen 1776 und 1788 erschienene History of the Decline and Fall of the Roman Empire ist von Anfang an und bis in unsere Zeit als epochales Werk aufgenommen worden. Sie galt als triumphale Einlösung dessen, was das Zeitalter der Aufklärung unter Geschichtsschreibung verstand nämlich historische Wissenschaft, aktuelle Philosophie und schöne Literatur zugleich zu sein. Auch im deutschen Sprachraum setzte unmittelbar nach Erscheinen des ersten Bandes der Geschichte vom Verfall und Untergang des römischen Imperiums eine intensive Gibbon-Rezeption ein, die den disziplinären Rahmen der einzelnen Wissensgebiete sprengt. Die Vielfalt der Einflüsse Gibbons bei deutschsprachigen Wissenschaftlern, Philosophen, Juristen und Dichtern wird in diesem Sammelband erstmals umfassend und interdisziplinär dokumentiert. 18 Aufsätze vermessen die Translations- und Transferprozesse der Gibbon-Aneignung von den ersten deutschen Übersetzungen bis heute.
Autorenporträt
Till Kinzel, geb. 1968 in Berlin, ist ein deutscher Literaturwissenschaftler und Historiker. 2005 habilitierte er sich für Neuere Englische und Amerikanische Literaturwissenschaft. Er ist dozent an der TU Braunschweig.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.05.2015

Er machte Lust auf Untergang
Klassiker werden nicht gelesen, sie werden geplündert: Ein Band über das Nachleben des Historikers Edward Gibbon

Die europäische Aufklärung war ein tintenklecksendes Säkulum und ein Kommunikationsvulkan - unendlich viel wurde geschrieben, übersetzt, erwidert, kritisiert. Bücher konnten sentimentale Verzückung oder höchste Empörung auslösen. Doch wenige Autoren trafen den Nerv der Zeit so wie Edward Gibbon (1737 bis 1794) mit seinen zunächst drei, am Ende sechs Bänden "Decline and Fall of the Roman Empire", erörterte das Werk doch in monumentaler, zugleich ironisch gebrochener Prosa eine der wenigen wirklichen Hauptfragen der Weltgeschichte.

Verhandelt wurden in ihm nicht weniger als das Unbehagen in der Kultur, die historische Rolle der christlichen Religion, die komplexe Verschränkung von Fortschritt, Zivilisation und Barbarei, der angemessene Stil von Geschichtsschreibung und vieles mehr. Gute Gründe also, seine Wirkung im deutschen Sprachraum näher zu untersuchen.

Rezeptionsgeschichte in der hier präsentierten Form ist attraktiv. Sie macht das nirgends endende Gewebe des Geistigen in der Breite und Tiefe der Zeit sichtbar; sie erlaubt es, intelligente Texte zu verfassen, ohne vom Gegenstand des Ausgangsautors, dem spätrömischen Reich und der nachantiken Welt im Osten des Mittelmeerraumes, vertiefte Kunde haben zu müssen, sie gestattet disziplinübergreifendes Arbeiten auf der Basis einer Minimalhermeneutik, sie ist der ideale fächerübergreifende Tagungsgegenstand. Evident Irriges wird selten produziert; die Gretchenfrage zielt eher auf die Relevanz des Erhobenen, und die kann leicht als ungehörig zurückgewiesen werden.

Doch in der Tat ergeben die Tiefbohrungen zu den einzelnen Autoren oft genug, wie dünn der Faden sein konnte. "Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch wird ihn jeder lesen? Nein. Wir wollen weniger erhoben und fleißiger gelesen sein." Was Lessing über ein dichterisches Werk befand, gilt noch mehr für "Decline and Fall": Sich auf die einundsiebzig Kapitel, gut dreitausend Druckseiten, wirklich einzulassen erfordert sehr viel Lese- und damit Lebenszeit; die Gibbon-Lektüre war daher seit jeher anfällig für Reduktionismen aller Art.

Für die Althistoriker degenerierte Gibbon zu einem im doppelten Wortsinn unbefragten Klassiker oder erhielt, schlimmer, im Lichte der kanonischen Gründungserzählung vom Aufbruch zur echten Wissenschaft erst um 1800 einen Nischenplatz in der Vorhalle. Schon die zeitgenössische Diskussion reduzierte das kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution vollendete Werk nicht selten auf die scheinbare Verdammung des Christentums im fünfzehnten und sechzehnten Kapitel. Immerhin, Gibbons vorzügliche Übersicht des Römischen Rechts im vierundvierzigsten Kapitel erschien schon 1789 in einer kommentierten deutschen Separatausgabe und konnte so auf das Narrativ der juristischen Romanistik einwirken, wie Ingo Reichard erläutert - eine gelungene Teilrezeption, in ihrer "zeitlosen Modernität ungeheuer anregend und begeisternd".

Andreas Urs Sommer hingegen ertappt Nietzsche bei einer Gibbon-Kenntnis im Modus Schavan: Nicht das Original hatte der eilige Jungstar gelesen, sondern ideengeschichtliche Überblickswerke, mit deren Destillaten er dann sehr freihändig umging. Die Rede von der Spätantike als Dekadenz nennt Sommer "Restgibbonianismus"; im Original liest sich der Sachverhalt viel differenzierter. Aber Originallektüre verhindert Zuspitzungen - der radikale Christenfeind und Verfallsdenker Nietzsche vollzog im "Antichrist" eine "Re-Gibbonianisierung ohne Gibbon".

Rezeption als Kette von zufälligen Begegnungen, interessegeleiteten Rosinenpickereien, mehr oder minder produktiven Missverständnissen, das ist der kaum überraschende Befund in den meisten Beiträgen zu einzelnen Autoren, von der Weimarer Klassik über Wagner und Dahn bis Dilthey. Der institutionelle Rahmen der Aufklärung, zumal Übersetzungen und Zeitschriften, kommt zu seinem Recht, ebenso der Geniekult um den Autor. Schiller und Goethe blieben indes reserviert, Börne zufolge war Gibbon "reich, fett, glücklich und wußte die Religiosität der armen Teufel nicht zu schätzen". Es gab viele Gründe für das neunzehnte Jahrhundert, Gibbon so oder so zu beurteilen, ohne ihn wirklich zur Kenntnis zu nehmen.

Anregender lesen sich die Beiträge, die Gibbon über seine späteren Exegeten oder Rivalen für unsere Zeit wieder aufschließen und dabei Fortschrittsannahmen unterminieren. So legte Michael Bernays schon vor über hundert Jahren die scheinbare Eindeutigkeit von Gibbons auktorialem Erzähltext als ein Spiel dar, das nur verstehen kann, wer auch die Fußnoten als gleichberechtigtes Textelement ernst nimmt. Karl Gutzkow (gestorben 1879) brachte Gibbon mit guten Argumenten gegen die Konsistenz verheißenden Geschichtsmodelle des deutschen Idealismus und der Romantik in Stellung.

Und Patrick Bahners zeigt, wie Jacob Burckhardts Bild der Kaiser Diokletian und Konstantin als Nur-Machtmenschen, die aus einer rein rational-agnostischen Position agierten, hinter Gibbons komplexe Diskussion historischer Handlungsbedingungen und religionspsychologischer Momente zurückfällt; des Baslers "Programmatik der Profanierung schmeckt viel stärker nach dem achtzehnten Jahrhundert als alle blasphemischen Spitzen bei Gibbon". Die "Entdeckung der Vielsinnigkeit oder Widersprüchlichkeit historischer Vorgänge und Gestalten", wie Gibbon sie an Julian entfaltet, zeige, so Roman Lach, wie der Autor überhaupt erst im Schreiben die Geschichte entdeckte.

Der Mitherausgeber Till Kinzel spricht realistisch von einer schleichenden Entkanonisierung Gibbons nicht nur in der englischen Literaturgeschichtsschreibung. Einen der schon genannten Gründe wandelt der gebeutelte Philologe listig in eine therapeutische Pointe um: "Decline and Fall" zu lesen wirke entschleunigend. Im "Zeitalter der Collage und des Fragments, der Medienwechsel und vielfältigen Appropriationen alles möglichen Kulturguts dürfte auch das Potential Gibbons noch bei weitem nicht ausgeschöpft sein". Wenn da nur nicht der nächste zu schreibende Antrag für Tagungsmittel und Druckkostenzuschüsse bei der Thyssen-Stiftung dazwischenkommt!

UWE WALTER.

Cord-Friedrich Berghahn, Till Kinzel (Hrsg.): "Edward Gibbon im deutschen Sprachraum". Bausteine einer Rezeptionsgeschichte.

Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2015. 409 S., br., 45,- [Euro].

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