9,49 €
inkl. MwSt.

Sofort lieferbar
payback
5 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Hefte aus Kriegszeiten hat Marguerite Duras die vier dichtbeschriebenen Schulhefte genannt, die sie lange Zeit in ihrem legendären "blauen Schrank" aufbewahrte. Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1943 bis 1949, vom Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn, sind von ganz eigenem Reiz. Hier finden sich bereits die zentralen Themen ihres Lebens und späteren Werks: Kindheit und Jugend in Indochina; die ambivalente Beziehung zur Mutter und zu den beiden Brüdern; die Beziehung zu einem Vietnamesen, die sie später in ihrem berühmtesten Roman, Der Liebhaber, gestaltet. Marguerite Duras protokolliert…mehr

Produktbeschreibung
Hefte aus Kriegszeiten hat Marguerite Duras die vier dichtbeschriebenen Schulhefte genannt, die sie lange Zeit in ihrem legendären "blauen Schrank" aufbewahrte. Die Aufzeichnungen aus den Jahren 1943 bis 1949, vom Beginn ihrer schriftstellerischen Laufbahn, sind von ganz eigenem Reiz. Hier finden sich bereits die zentralen Themen ihres Lebens und späteren Werks: Kindheit und Jugend in Indochina; die ambivalente Beziehung zur Mutter und zu den beiden Brüdern; die Beziehung zu einem Vietnamesen, die sie später in ihrem berühmtesten Roman, Der Liebhaber, gestaltet. Marguerite Duras protokolliert das qualvolle Warten auf ihren in Buchenwald internierten Mann, Robert Antelme, dessen Rückkehr, die Trennung von ihm, erzählt von ihrem Engagement in der Résistance, vom Tod ihres ersten Kindes, der Geburt des Sohnes Jean.
Autorenporträt
Marguerite Duras wurde am 4. April 1914 in der ehemaligen französischen Kolonie Gia Dinh, dem heutigen Vietnam als Marguerite Donnadieu geboren und starb am 3. März 1996 in Paris. Sie besuchte das Lycée Français in Saigon und machte 1931 Abitur. Ein Jahr später siedelte die Familie nach Paris um, wo sie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Paris und an der École des Sciences Politiques studierte. Von 1935 bis 1941 arbeitete sie als Sekretärin im Ministère des Colonies. 1939 heiratete sie Robert Antelme. Beide waren ab 1940 in der Résistance aktiv. Antelme wurde später ins Konzentrationslager Dachau deportiert. 1943 erschien ihr Debütroman Les Impudents (Die Schamlosen) unter dem Pseudonym Marguerite Duras, welchem keine besondere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zuteil kam. Mit Un Barrage contre le Pacifique (Heiße Küste), das 1950 erschien, hatte Duras größeren Erfolg. Sie schrieb nicht nur Romane, sondern verfasste auch Theaterstücke und trat als Filmregisseurin in Erscheinung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.09.2007

Ihr Geheimnis
Die "Hefte aus Kriegszeiten" sind die Urszenen aus Marguerite Duras' Werk

Sie sprach, als sie schon sehr alt war, von sich selbst nur noch in der dritten Person. Sie sagte nicht mehr "ich", sondern immer nur "die Duras", als meinte sie eine andere, die sie mit der größten Selbstverständlichkeit allerdings für genial hielt. Ihr Narzissmus war grenzenlos: "die Duras, die man anbetet", "die Duras, Freundin des Präsidenten Mitterrand". Im Kult um die eigene Person verschwammen ihr Leben und ihr Werk, bis sie sie selbst nicht mehr voneinander trennen konnte. "Die Geschichte meines Lebens", sagte sie, "gibt es nicht. Ich schreibe nicht, um meine Geschichte zu erzählen. Das Schreiben hat mir weggenommen, was mir noch vom Leben blieb, hat mich entleert, und ich kann nicht mehr auseinanderhalten, was ich über mein Leben geschrieben habe und was ich wirklich erlebt habe, was wahr ist."

Die Leser von Marguerite Duras sind immer wieder in die biographische Falle gelaufen. Als der französische Regisseur Jean-Jacques Annaud Anfang der neunziger Jahre ihr wohl bekanntestes und erfolgreichstes Buch "Der Liebhaber" verfilmte, hielt er den Roman für eine Autobiographie, stellte polizeiliche Nachforschungen über sie und den Liebhaber ihrer Jugend in Indochina an, drehte in Vietnam vor rekonstruierter Kulisse, um die Orte nachzustellen, an denen Marguerite mit ihrer Mutter und ihren zwei Brüdern aufgewachsen war. Annaud arbeitete am Mythos. Denn "Der Liebhaber" war keine Autobiographie. Oder besser: Wie immer in der Literatur war alles an ihm autobiographisch und zugleich nichts.

Marguerite Duras' Werk ist wie eine Lektion, die genau diese paradoxe Formel zu verstehen gibt. Ein Paradox, das man vor allem dann begreift, wenn man die Texte liest, die, in ihrem Nachlass erhalten, letztes Jahr von Sophie Bogaert und Olivier Corpet in Frankreich herausgegeben wurden und nun bei Suhrkamp erscheinen: "Hefte aus Kriegszeiten". Es sind Schlüsseltexte. Nicht deshalb, weil sie wahrer wären als die anderen. Sondern weil sie den Blick auf genau das wilde, undurchdringliche Dickicht freilegen, in dem bei ihr Wirklichkeit und Fiktion ineinander verstrickt sind. Mit den "Heften aus Kriegszeiten" beginnt das große Abenteuer der Marguerite Donnadieu, die sich, nach einem französischen Landstrich, aus dem ihr Vater stammte, später Marguerite Duras, dann "die Duras" nannte.

Der Chinese im Auto

Sie hatte einen blauen Schrank in ihrem Landhaus. In diesem Schrank fand sie, da war sie Ende sechzig, Schulhefte, die sie, 1943 bis 1949, während des Kriegs und kurz danach, vollgeschrieben hatte und von denen sie behauptete, dass sie sie völlig vergessen habe. Aufgeregt rief sie einen Verlegerfreund an: "Komm, ich habe etwas Großartiges gefunden!" Sie war völlig außer sich. Das hier waren die Urszenen: Erinnerungen an die Jugend in Indochina; an den, der der "Liebhaber" werden sollte; die Totgeburt ihres ersten Kindes; der Tod ihres Bruders; die Aktivitäten in der Résistance; die Deportation und Rückkehr ihres Ehemanns Robert Antelme; die Geburt ihres Sohnes Jean. Lauter Fragmente, Entwürfe, zum Teil ganze Erzählungen.

Schon das erste, im Original rosa geäderte Heft bringt einen durcheinander und damit auf die Spur "der Duras": Das Mädchen, das hier "ich" sagt, lernt auf dem Weg nach Saigon einen perfekt französisch sprechenden Chinesen mit einem tollen Auto kennen. Er lässt nicht von ihr ab. Wenn sie zur Schule geht, wartet er unten in einem Anzug aus roher Tussorseide, an die Tür seines Wagens gelehnt, auf sie, nachdem er vorher schon fünfunddreißig Mal laut hupend am Haus vorbeigefahren ist. Der Liebhaber - denkt man reflexartig, hat sofort seine weichen Züge vor Augen, die erotische Angelegenheit im Kopf.

Aber dieser Chinese hier ist hässlich: "Léo war die Lächerlichkeit in Person, und ich litt sehr darunter. Er hatte ein lächerliches Aussehen, weil er dermaßen mager war und klein und herabfallende Schultern hatte. Dabei hielt er sich für gut aussehend. Im Auto konnte man sich mit ihm sehen lassen, weil man da nicht seine Körpergröße, sondern nur sein Gesicht sah, das zwar hässlich war, aber immerhin eine gewisse Vornehmheit besaß. Nie bin ich bereit gewesen, hundert Meter auf der Straße neben ihm zu gehen. Falls die Scham-Kapazität eines Menschen erschöpft werden könnte, hätte ich meine mit Léo erschöpft."

Léo ist hässlich, aber er hat Geld. Und wenn auf diese Weise beide ein Tauschgeschäft eingehen, ist die eifrigste Geschäftsfrau in diesem Deal die finanziell ruinierte Mutter der Erzählerin, die das Verhältnis ausdrücklich billigt, solange der Chinese nicht mit ihrer Tochter schläft, und die davon profitiert. Zu Hause wird die Tochter brutal geschlagen, von der Mutter und dem älteren Bruder, die im Wettstreit ihrer Erniedrigungsmethoden sich gegenseitig überbieten. Nur wenn die Tochter Geld mit nach Hause bringt, hat sie Macht. Um aus der Familie herauszukommen, braucht sie Léo.

Man findet die Geschichte mit dem Chinesen in Duras' Werk in immer neuen Versionen: in ihrem Roman "Heiße Küste" und in "Der Liebhaber" oder "Der Liebhaber aus Nordchina", die sie erst nach der Wiederentdeckung der Hefte schrieb. Diese erste Version ist die grausamste. Sie ist, der Duras-Biographie Laure Adlers zufolge, dem gelebten Leben am nächsten: Erinnerungsmaterial, "aus einem Ausgrabungsinstinkt heraus aufgeschrieben"; eine erste Schicht, über die Marguerite Duras neue legt, verzerrt, verdichtet, streicht. Die "Hefte" geben einen außergewöhnlichen Einblick in die durassche Schreibwerkstatt.

Doch ist Indochina nicht alles. In den Aufzeichnungen folgt dann, was einen aus der Fassung bringt: Texte über die Résistance, die Rückkehr Roberts aus dem Konzentrationslager, die Folterung von Denunzianten durch die Mitglieder des Widerstands. Marguerite Duras hat sie 1985 überarbeitet in ihrem Buch "Der Schmerz" veröffentlicht. Es ist ihr bestes. In den Heften trägt Robert Antelme noch seinen tatsächlichen Namen; der Mann, der während der Widerstandaktivitäten (daher auch die frühe Bekanntschaft Marguerite Duras' mit François Mitterrand) denunziert und nach Buchenwald, später Dachau deportiert wurde.

Warten und überleben

Die Lager werden befreit. Sie wartet auf Robert. Andere kommen zurück. Er nicht. Das Warten hört nicht auf: "Immer noch auf dem Sofa in der Nähe des Telefons. Es ist Sonntag. Heute wird Berlin eingenommen werden. Es ist wirklich das Ende. Die Zeitungen sagen, wie wir es erfahren werden. (. . .) Plötzlich die Gewissheit, die Gewissheit, die Gewissheit. Er ist tot. Tot. Tot. Tot. Es ist der siebenundzwanzigste April, es ist der siebenundzwanzigste April, es ist der siebenundzwanzigste April. (. . .) Ich kann nicht mehr. Ich sage mir: es wird etwas geschehen, das gibt es doch nicht. Ich müsste von diesem Warten erzählen, indem ich von mir in der 3. Person spreche. Es gibt mich nicht mehr in diesem Warten."

Die Freunde finden Robert. Sie erkennen ihn nicht. Er erkennt sie. Aus der Erinnerung beschreibt Marguerite Duras, wie sie ihn, zu Hause in Paris, am Leben halten, eine fremde Gestalt, an der alles unmenschlich geworden ist, selbst die Ausscheidungen. Es gehört zum Radikalsten, was sie geschrieben hat: "Er machte also seine Scheiße. Es war eine klebrige, dunkelgrüne, schäumende Scheiße. Siebzehn Tage lang sah diese Scheiße gleich aus. Diese Scheiße und seine Art, sie zu machen, waren unmenschlich. Sie trennte ihn mehr von uns als das Fieber, mehr als die Magerkeit, die nagellosen Finger, die Spuren von Schlägen. Obwohl wir ihm nur Brei gaben, blieb sie dunkelgrün. Vielleicht war es die Milz, die aus seinem Körper austrat, oder sein Herz. Denn was war es? Diejenigen, die das Gesicht verziehen, wenn sie dies hier lesen, diejenigen, denen das Übelkeit verursacht, auf die scheiße ich, ich wünsche ihnen, sie mögen eines Tages auf ihrem Weg einem Menschen begegnen, dessen Körper sich auf diese Weise über seinen Anus entleert, und ich wünsche ihnen, dieser Mensch möge das Schönste und Geliebteste und Begehrenswerteste sein, was sie haben. Ihr Liebhaber. Ich wünsche ihnen ein Unglück dieser Art."

Als sie den "Schmerz" veröffentlichte, behauptete Marguerite Duras, sie habe die wiedergefundenen Hefte "nicht anzutasten gewagt" und den Text deshalb unverändert übernommen. Aber man darf ihr nicht einfach glauben, "der Duras" am allerwenigsten. Natürlich hat sie alles minutiös überarbeitet. Mit der Edition der "Hefte aus Kriegszeiten" lässt sich das jetzt nachvollziehen. Vor allem hat sie dem "Schmerz" aus der späten Erinnerung einen Text hinzugefügt, "Monsieur X, hier Pierre Rabier genannt", der von der Begegnung mit einem Kollaborateur erzählt, mit dem sie sich immer wieder zum Essen trifft, allein weil er wissen könnte, wohin die Gestapo Robert nach seiner Verhaftung gebracht hat. Für Robert trifft sie sich mit ihm. Es ist ein schmaler Grat, auf dem sie sich bewegt. Die Aktivisten des Widerstands sind bei ihr, nicht zuletzt durch die durch sie begangenen Folterungen, unweigerlich immer auch Täter.

Wer war Marguerite Duras? Man wird es nicht wissen. Aber was ihre Texte sind, das weiß man. Es ist gut, eine Weile lang die Tür zuzumachen und sich zurückzuziehen mit den "Heften", dem "Schmerz" und dem "Liebhaber". Als eine andere kehrt man anschließend wieder zurück ins Leben.

JULIA ENCKE

Marguerite Duras: "Hefte aus Kriegszeiten". Aus dem Französischen von Anne Weber. Suhrkamp-Verlag. 450 Seiten, 24,80 Euro. Erscheint am 1. Oktober.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2007

Ein Ekel zwar, aber motorisiert
In den „Heften aus Kriegszeiten” der französischen Schriftstellerin Marguerite Duras kann man die Urformen all jener Motive finden, die ihr späteres Werk ausmachenVon Maike Albath
Es ist ein bisschen so, als schaue man ihr beim Anziehen zu: in Marguerite Duras’ frühen „Heften aus Kriegszeiten” werden Erzählhaltungen wie Kleidungsstücke übergestreift und vor dem Spiegel anprobiert, wieder ausgezogen, gewechselt und anders kombiniert, noch ist alles provisorisch und nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Der Band ist eine Art Arbeitsjournal. In vier verschiedenen Heften hält die damals Dreißigjährige Erinnerungen, Erlebnisse und Ideen fest; manches ist stark autobiographisch gefärbt, anderes wird fiktional überhöht, Alltagseindrücke mischen sich mit Skizzen für Erzählungen. Wie in ihrem gesamten Werk schließen sich literarisch große Momente und Belanglosigkeiten nicht aus. Auf eher banale Selbstbeschreibungen oder politisch hanebüchene Aussagen über de Gaulle folgen eindringliche Schilderungen der Résistance und Pariser Genrebilder über eine Concierge in der Rue Saint-Benoit. Scharf gestochene Porträts wechseln mit atmosphärisch dichten Szenen ihrer Kindheit in Indochina, etliches ist schon perfekt ausgearbeitet und wird später in ihre Romane einfließen.
Die Schriftstellerin selbst hat die größtenteils während des Krieges entstandenen Hefte „Cahier de la guerre” genannt, sie in einen Umschlag gesteckt und in einem Schrank ihres Landhauses vergessen. Von dem Akt der Verdrängung war schon 1985 in ihrem berühmt gewordenen Vorwort zu dem schmalen Kriegsroman „Der Schmerz” über die Rückkehr ihres Mannes Robert Antelme aus Buchenwald die Rede gewesen. Damals bezweifelte man die Existenz dieser Hefte aus den allzu mythisch scheinenden „blauen Schränken von Neauphle-le-Chateau” und vermutete eine geschickte Selbstinszenierung der stets auf ihre Wirkung bedachten Autorin. Aber das stimmte nicht: Die rosa geäderten oder beigefarbenen und zum Teil arg zerfledderten Notizbücher gibt es wirklich. Vor ihrem Tod 1995 übergab Duras das Material dem Institut Mémoires de l’édition contemporaine und befürwortete damit indirekt eine Veröffentlichung. Obwohl es sich mitnichten um ein Tagebuch handelt, haftet den Heften ein Hauch von Privatsphäre an. Vielleicht deshalb, weil wir in der Tat Zeugen eines intimen Prozesses werden: wie die sich unbeirrbar vorantastende Duras einen Ton findet und Stoffe resümiert, die den Grundstein ihres künstlerischen Schaffens legen sollten. „Aus keinem anderen Grund schreibe ich (diese Erinnerungen) auf als aus diesem Ausgrabungsinstinkt heraus”, sagt sie gleich zu Beginn.
Marguerite Duras hat offensichtlich schubweise geschrieben, getrieben von einem starken inneren Drang, den sie aber ästhetisch von Anfang an in Schach hielt. Faszinierend ist die stilistische Geschlossenheit der verschiedenen Textstücke. Durch die chronologische Anordnung bekommt man einen Eindruck von der Entwicklung der Autorin und ihrer Arbeitsweise. Auf den beigegebenen Faksimiles ist kaum etwas ausgestrichen oder verbessert, und der vierteilige Band wirkt wie aus einem Guss. Er wurde von Sophie Bogaert und Olivier Corpet sorgfältig ediert, mit einem aufschlussreichen Vorwort, einer nützlichen Namensliste und Hinweisen zu den Quellen und Bearbeitungen versehen. Die Texte sind zwischen 1943 und 1949 entstanden und haben mit leichten Variationen dieselben Lebensphasen zum Gegenstand.
Dennoch ist es verblüffend, wie sehr die späte Marguerite Duras bereits gegenwärtig ist. Schon hier verwebt sie autobiographische Erlebnisse mit erfundenen Elementen, macht Verletzungen und erlittenen Schmerz zum Ausgangspunkt literarischer Recherchen, arbeitet mit assoziativen Verknüpfungen und elliptischen Satzgebilden, kleidet eher sparsam als wortgewaltig die Szenerien aus. Ihr wildes Leben, mittlerweile von ihren Biographen Fréderique Lebelley und Laure Adler gründlich erforscht, ist in Ansätzen zu ahnen: mit brutaler Offenheit erzählt Duras von ihrem gewalttätigen älteren Bruder und der gefühlskalten Mutter, der Totgeburt ihres ersten Sohnes und ihren unbändigen Liebeswünschen. Wer das Werk der Schriftstellerin kennt, trifft auf viel Bekanntes und kann Aufschluss gewinnen über die Urform bestimmter Motive. Die Keimzelle für den späteren Welterfolg „Der Liebhaber” von 1984 taucht auf, ebenso die erste Fassung von „Der Schmerz”, die, anders als von der Autorin behauptet, allerdings noch bearbeitet wurde, außerdem Entwürfe oder frühe Varianten von „Heiße Küste” (1950), „Der Matrose von Gibraltar” (1952) und „Madame Dodin” (1954).
An manchen Stellen ertappt man sich, dass einem zumindest einige Figuren prägnanter erscheinen als ihre späteren Nachfolger. So hat Léo, der Vorläufer des Geliebten aus „Der Liebhaber”, etwas von einem unbehauenen Stein. Er ist unmittelbarer als der elegante chinesische Verführer aus dem vierzig Jahre später entstandenen Roman. In dieser Urfassung hat es die fünfzehnjährige Marguerite nämlich mit einem pockennarbigen Einheimischen zu tun, dessen Äußeres sie trotz seines rohseidenen Anzugs und der ausgesuchten Manieren abstößt. Seine erotische Anziehungskraft beruht ausschließlich auf seinem Auto, von entgleisenden sexuellen Begegnungen, wie sie den „Liebhaber” durchziehen, keine Spur. In einer der stärksten Szenen versucht Léo, von den Brüdern nur „der Fötus” genannt, seine Freundin auf den Mund zu küssen. Die Erzählerin ist so von Abscheu überwältigt, dass sie stundenlang ausspucken muss: „Ich fühlte mich bis in die Seele hinein vergewaltigt”. Als Tochter einer finanziell ruinierten, verwitweten Lehrerin steht das Mädchen auf der untersten Stufe der Kolonialgesellschaft. Der reiche Léo scheint einen bescheidenen Aufstieg zu versprechen – von nun an führt er die Freundin, deren Brüder und die Mutter in die Nachtbars von Saigon –, sorgt aber zugleich wegen seiner Herkunft für die Ächtung der Familie. Schon in dieser Version wird das gespenstische Einverständnis der Mutter mit der Verbindung ihrer Tochter deutlich. Bedrängende Intensität entsteht auch in den Beschreibungen der Gewaltausbrüche: Züchtigungen der Tochter durch die Mutter und den älteren Bruder sind an der Tagesordnung, was diese mit einer Mischung aus Hass und Fatalismus hinnimmt.
Eng mit der Mutter verwandt ist eine weitere Frauenfigur, die durch die „Hefte aus Kriegszeiten” geistert, es allerdings nie zu einer veritablen Romanheldin gebracht hat und nur in ein, zwei Fragmenten vorhanden ist: die überzeugte Kommunistin Théodora. Théodoras aufrechte politische Haltung ist von einer gnadenlosen Härte und Unnahbarkeit. Quälend genau wird ihre Befehlshabe bei der Folterung eines Kollaborateurs beschrieben. In die rauschhafte Gewalt schleicht sich ein Lustmoment ein: Es sind diese Übergänge, die Duras so entlarvend auszuleuchten weiß.
Ein starker déjà-vu-Effekt stellt sich im zweiten und dritten Heft ein: hier finden sich die wortwörtlich übernommenen Kernstücke aus „Der Schmerz”, die durch die knappe, gehetzte Erzählweise und präzisen Bilder schon hier eine große Spannkraft entfalten. Der Krieg erscheint als eine gigantische Verschlingungsmaschinerie: an den zermürbenden Tagen des Wartens wird die Ich-Erzählerin immer wieder heimgesucht von Phantasien ihres verhungernden Mannes. Ein Kanten Brot bleibt ihr im Halse stecken. Als Robert Antelme schließlich aus dem Konzentrationslager zurückkehrt, ist er auf seinen Verdauungsapparat reduziert, der ihn aufzuzehren droht.
Ein kleiner Höhepunkt der frühen Aufzeichnungen ist ein kurzer Text über den Tod des Vaters, den die Mutter sterbenskrank in Frankreich zurück lässt. Das Ausmaß der Einsamkeit, die Duras’ Kindheit überwölbt und möglicherweise zum Auslöser ihres Schreibens wurde, wird in dieser sanft-lapidaren Beschreibung auf einen Schlag deutlich. Insgesamt ist der Band trotz einiger Längen nicht nur für Duras-Exegeten ein Gewinn, sondern bietet auch denjenigen, die der französischen Schriftstellerin zum ersten Mal begegnen, einen umfassenden Eindruck. Dass die „Hefte aus Kriegszeiten” trotz aller Verknüpfungen mit späteren Romanen und Erzählungen wie ein eigenständiges Werk wirken, ist auch der Übersetzerin Anne Weber zu verdanken. Die deutsche Schriftstellerin versteht es, der älteren Kollegin einen abwechselnd spröden, tastenden und plötzlich glasklaren Stil auf den Leib zu schreiben.
Marguerite Duras
Hefte aus Kriegszeiten
Aus dem Französischen von Anne
Weber. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 397 Seiten. 24, 80 Euro.
Ein Höhepunkt der frühen Aufzeichnungen ist der kurze Text über den Tod des Vaters
„Ich schreibe diese Erinnerungen aus keinem anderen Grund als aus einem Ausgrabungsinstinkt heraus.” Marguerite Duras (1914-1996) in Paris im Jahr 1955 Foto: Roger Viollet
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Thomas Laux zeigt sich von dieser Publikation mit Marguerite Duras' frühen Schriften freudig überrascht. Nicht nur, dass die nach verschiedenen Farben unterschiedenen Hefte ein Licht auf die bisher weitgehend im Dunklen liegende Kindheit und Jugend der französischen Autorin im damaligen Indochina werfen, die Schriften enthalten auch frühe Entwürfe der berühmten Romane, die bereits ihre ganze Meisterschaft demonstrieren, so der Rezensent beeindruckt. Insofern sei die Bezeichnung 'Entwurf' ohnehin missverständlich, denn es zeige sich, dass Duras in diesen Texten bereits die Stilsicherheit und Vielschichtigkeit an den Tag lege, die dann in den späteren Romanen so faszinierten, preist Laux. Dass diese Qualitäten so klar auch aus der deutschen Fassung sprechen, rechnet der begeisterte Rezensent der Übersetzerin Anne Weber hoch an. So präsentiert sich in diesem Textkonvolut nicht etwa eine sich erst entwickelnde Schriftstellerin, sondern die "ganze Duras", betont der beeindruckte Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH