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Bereits im Sommer 1934 gab es einen Versuch von Kräften innerhalb des Regierungsapparates des Deutschen Reiches, das Hitler-Regime gewaltsam zu stürzen. Den Kern dieser Verschwörung bildeten der Münchener Schriftsteller Edgar Jung (Papens Redenschreiber), der Nachrichtendienstler Herbert von Bose (Papens Pressechef), Boses rechte Hand Wilhelm Freiherr von Ketteler, sowie der schlesische Gutsbesitzer Fritz Günther von Tschirschky (Papens Adjutant). Zusammen mit einigen Gleichgesinnten bauten diese das Ministerium Papens hinter dem Rücken ihres Chefs bis zum Frühjahr 1934 zu einer getarnten…mehr

Produktbeschreibung
Bereits im Sommer 1934 gab es einen Versuch von Kräften innerhalb des Regierungsapparates des Deutschen Reiches, das Hitler-Regime gewaltsam zu stürzen. Den Kern dieser Verschwörung bildeten der Münchener Schriftsteller Edgar Jung (Papens Redenschreiber), der Nachrichtendienstler Herbert von Bose (Papens Pressechef), Boses rechte Hand Wilhelm Freiherr von Ketteler, sowie der schlesische Gutsbesitzer Fritz Günther von Tschirschky (Papens Adjutant). Zusammen mit einigen Gleichgesinnten bauten diese das Ministerium Papens hinter dem Rücken ihres Chefs bis zum Frühjahr 1934 zu einer getarnten oppositionellen Zelle aus, die systematisch auf die Beseitigung der Regierung, deren hochgestellte Mitarbeiter sie offiziell waren, hinarbeitete. Die vorliegende Studie rekonstruiert und erzählt die Geschichte der Reichsvizekanzlei als einer obersten Reichsbehörde, der Oppositionsgruppe, die von diesem Standort aus operierte, sowie des von dieser Oppositionsgruppe vorbereiteten Umsturzversuches,der schließlich - unmittelbar vor seiner Umsetzung - im Schatten der Mordwelle vom 30. Juni 1934 von der Gestapo auf blutige Weise vereitelt wurde.
Autorenporträt
Rainer Orth wurde mit dieser Studie an der HU zu Berlin promoviert.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.2017

Vizekanzlei-Gruppe gegen Hitler
Unter Franz von Papen agierte 1933/34 ein weitverzweigtes oppositionelles Netzwerk

Gab es bereits 1933/34 und damit zehn Jahre vor dem "20. Juli" eine Verschwörergruppe, die auf den Sturz Hitlers hinarbeitete? Eine Gruppe, die mit Hilfe von Reichspräsident und Reichswehr den eskalierenden Konflikt zwischen Röhms renitenter SA und der Armee für einen Regimewechsel nutzen, den Ausnahmezustand ausrufen lassen, die braune Diktatur beenden und eine Übergangsregierung etablieren wollte, die wieder zu Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit ohne Rassenwahn und Rassenhass zurückkehren sollte? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt der monumentalen, von Michael Wildt betreuten Dissertation von Rainer Orth.

Der Autor beantwortet sie mit einem entschiedenen Ja. Seine Antwort, die zugleich einschließt, dass hier eine Gruppe von der zeitgeschichtlichen Forschung übersehen, mindestens aber stiefmütterlich behandelt worden ist, stützt sich auf eine akribische Materialsuche, die bis in die Sonderarchive nach Moskau führte - allein die Anmerkungen, bisweilen regelrechte Miniaturnovellen, umfassen rund 300 Seiten. Auch bei Orth stehen - wie schon bei Wildts "Generation des Unbedingten" - Biographien jener um 1900 Geborenen, von Krieg, Niederlage und Nachkriegswirren Gezeichneten, Aufgeladenen im Zentrum, verknüpft mit der Geschichte einer Institution. Nur geht es diesmal nicht um das Reichssicherheitshauptamt, sondern um das Vizekanzleramt unter Franz von Papen.

1933/34 war zum ersten und einzigen Mal in der deutschen Geschichte das Amt des Vizekanzlers mit einem eigenen Apparat, einer Art Ministerium mit rund fünfzig Mitarbeitern ausgestattet - und zwar als oberste Reichsbehörde. Wie es dazu kommt, ist bereits ein wichtiger Teil des ebenso dramatischen wie spannenden Geschehens, das Orth vor uns entfaltet und das nicht nur in den Eingangspassagen an einen Kriminalroman erinnert - die Brutalität, der wir begegnen, und das Blut, das hier fließt, sind allerdings echt. Um Leben und Tod geht es vom Anfang bis zum Schluss - und um politisches "Networking". Man sollte dabei nicht den Fehler machen, das Buch aus der Hand zu legen, wo es scheinbar endet, im Sommer 1934, sondern auch jene mit "Nachlese" überschriebenen Kapitel anschauen, wo der weitere Weg vieler Beteiligter skizziert wird. Man wird erschreckt feststellen: Nur wenige entkamen dem mörderischen Mahlstrom des "Dritten Reiches".

Ganz besonders gilt das für die engsten Mitarbeiter des Vizekanzlers. "Qui mange du Papen, en meurt" (Wer bei Papen speist, stirbt), sagten damals diplomatische Beobachter des Geschehens mit gutem Grund - drei seiner neun wichtigsten Mitarbeiter, um die es bei Orth vor allem geht, wurden von Gestapo und SD erschossen. Papen, dieser Anti-Midas ohne festen moralischen Kompass, der voller Opportunismus und Geltungssucht alles, was er politisch anfasste, verhunzte und verbockte, hielt ergreifende Totenreden und blieb doch weiter im Dienst der Mörder, als wäre nichts geschehen.

Aber immerhin, er hatte diese Mitarbeiter versammelt, hatte sie sich 1932 und Anfang 1933 anempfehlen lassen von seinen Beratern, dem "Jordans-Kreis", dem preußischen Herrenclub, Paul Reusch oder dem schlesischen Industriemagnaten Nikolaus von Ballestrem. Seine Mitarbeiter, fünf von Adel, vier großbürgerlich, waren wie ihre nationalsozialistischen Gegenspieler von SD und SS jung - um die dreißig. Die wichtigsten waren Herbert von Bose, der Ghostwriter Edgar Jung, Wilhelm von Ketteler und der persönliche Adjutant Fritz Günther von Tschirschky, die meisten nach der Weltkriegniederlage früh antirepublikanisch aufgeladen mit Erfahrung in Freikorps und Nachrichtendiensten. Bose hatte unter Hauptmann Papst in der Garde-Kavallerie-Schützen-Division gewirkt, ohne allerdings unmittelbar mit der Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht in Verbindung gebracht worden zu sein; Jung hatte bei einem politischen Attentat auf einen Separatistenführer einen Streifschuss abbekommen.

Zauberlehrlinge waren diese jungkonservativen Antidemokraten allesamt. Voll Verachtung für Massen, Wahlen, Demokratie - dass die Nationalsozialisten seit 1930 immer mehr Wähler anzogen, war ihnen nur eine Bestätigung -, hatten sie dem antidemokratischen Denken den Boden bereitet. Jung hatte 1927 sogar den Bestseller geschrieben, der der Zeit das Etikett aufdrückte: "Die Herrschaft der Minderwertigen". Die braunen Geister allerdings, die sie mit heraufbeschworen hatten, wollten sie 1933/34 so schnell wie möglich wieder loswerden - unter dem Eindruck der realen Diktatur wandelten sie sich zu Vernunftrepublikanern, öffneten sich sogar der verfolgten SPD.

"Wir sind mitverantwortlich, dass dieser Kerl an die Macht gekommen ist. Wir müssen Hitler wieder beseitigen", soll Jung schon im Frühjahr 1933 gesagt haben. Denn sie sahen die Verbrechen von Anfang an und sahen, wie ihr "Chef" von Hitler rasant ausgebootet wurde, wie Reichstagsbrand-Verordnung und Ermächtigungsgesetz als "informelle Grundgesetze" den Weg in die totale Diktatur ebneten. Papen sah das alles nicht. Doch er ließ sich nicht nur von Hitler manipulieren, sondern wohl auch von seinen Vertrauten. So gelang es der in der alten Bürokratie der Reichshauptstadt gut vernetzten Gruppe, die Etablierung der Vizekanzlei als Behörde durchzusetzen - mit kleinem, aber von Hitlers Reichskanzlei unabhängigem Etat. Die Gruppe machte die Vizekanzlei zur "Klagemauer des Dritten Reiches", half diskret Bedrängten und Verfolgten mit Hinweisen, Pässen, Geld, rettete zwischen 900 und 1600 Menschen aus Gestapo-Kellern und KZ.

Hinter dem Tarnmantel der Vizekanzlei begannen sie ein weitverzweigtes oppositionelles Netzwerk zu knüpfen, um potentielle Mitstreiter gegen Hitler zu gewinnen, das am Ende über 60 Personen in Militär, Verwaltung, Wirtschaft umfasste. Vor allem setzten sie auf den neu installierten Chef der Heeresleitung, Generaloberst von Fritsch, und auf Theodor Duesterbergs "Stahlhelm-Männer" (1,5 Millionen) als Gegengewicht zur Millionenmiliz der SA. Die Krise im Sommer 1934 heizte die Gruppe gezielt mit einer zwischen den Zeilen regimekritischen Rede Papens in Marburg an.

Doch das Momentum verstrich ungenutzt. Das Regime holte zum blutigen Gegenschlag aus - Edgar Jung und Herbert von Bose gehörten am 30. Juni beziehungsweise 1. Juli zu den Opfern der Staatsmorde im Zuge der Niederschlagung des angeblichen "Röhm-Putsches", während Papen unter Hausarrest stand, die Vizekanzlei von einer Abteilung der "Leibstandarte Adolf Hitler" besetzt und die meisten Mitarbeiter verhaftet worden waren. Ketteler fuhr, unglaublich mutig, nach Ostpreußen und brachte über Umwege den Reichspräsidenten von Hindenburg tatsächlich dazu, die Einstellung der Erschießungen anzuordnen - was Hitler befolgte. Noch am gleichen Tag wurden in Papens Dienstsitz - Boses Blutlache war noch sichtbar - unter Albert Speers Anleitung die Wände durchbrochen und der Anschluss an die Reichskanzlei hergestellt. Die Vizekanzlei gab es nicht mehr.

Die Gründe für das Scheitern der Gruppe sind vielfältig. Sie liegen auch an der Ungeschicklichkeit der Verschwörer. Sie konnten ihren Mund nicht halten, gaben sich sogar vor Hitler als Gegner des Nationalsozialismus zu erkennen, neigten zur Selbstüberschätzung. Jung sah sich als Nachfolger des Diktators und Retter Deutschlands. Hinzu kam die Hinfälligkeit Hindenburgs, der bereits im Juni und nicht erst im Juli nach Ostpreußen aufgebrochen war und in Berlin nicht mehr als potentieller Deus ex Machina zur Verfügung stand. Weiter spielte die Unfähigkeit Papens eine Rolle, der es nach seiner Marburger Rede unterließ, sofort Hindenburg gegen das Regime zu aktivieren - und Hitlers Geschick, ihm dies auszureden. Die geheime Kooperation zwischen Reichswehr und SS hatten die Verschwörer ebenso übersehen wie die mangelnde Bereitschaft ihrer angeblichen Verbündeten zum Aufstand gegen das NS-Regime, besonders von Militärs wie Fritsch.

Einen wesentlichen Punkt lässt Orth gänzlich außen vor: die Popularität Hitlers. Der "Führer-Mythos" hatte längst machtvoll zu wirken begonnen, und die allermeisten Deutschen waren bereit, über die als "Staatsnotwehr" dürftig verbrämten hundert Staatsmorde des Sommers 1934 hinwegzusehen. Carl Schmitts groteske Feststellung "Der Führer schützt das Recht" entsprach dem verbreiteten Meinungsbild. Papen ließ sich nach den Morden von Hitler überreden, als Botschafter nach Wien zu gehen, und nahm die gefährdeten Ketteler und Tschirschky mit. Letzterer flüchtete 1935 nach England, überlebte als einziger der Gruppe. Ketteler wurde 1938 gleich nach dem deutschen Einmarsch in Wien verschleppt und umgebracht. Papen hielt die Grabrede - und ging als Hitlers Botschafter in die Türkei. Als Leser fragt man sich am Ende bedrückt: Was wäre Deutschland und der Welt nicht alles erspart geblieben, hätte diese kleine Vorhut des späteren konservativen Widerstands 1934 Erfolg gehabt?

DANIEL KOERFER

Rainer Orth: "Der Amtssitz der Opposition"? Politik und Staatsumbaupläne im Büro des Stellvertreters des Reichskanzlers in den Jahren 1933-1934. Böhlau Verlag, Köln 2016. 1118 S., 90,- [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Daniel Koerfer erfährt aus der Dissertation von Rainer Orth, dass sich unter Franz von Papen 1933/34 eine gut verzweigte Opposition organisierte, also bereits zehn Jahre vor dem 20. Juli. Da sich der Autor auf akribisch zusammengestelltes Material stützt, wie Koerfer erklärt, die Biografien der um 1900 Geborenen geschickt mit der Geschichte des Vizekanzleramts verknüpft, einen riesigen Anmerkungsapparat hinterherschickt und dramatisch und spannend zu erzählen weiß, fällt es dem Rezensenten leicht, ihm zu folgen. Vor allem den Teil ab 1934 empfiehlt Koerfer dem geneigten Leser, da hier der weitere Weg einiger Beteiligter skizziert wird, wie er schreibt. Das Scheitern der Gruppe um Herbert von Bose, Edgar Jung, Wilhelm von Ketteler und Fritz Günther von Tschirschky kann der Autor dem Rezensenten nachvollziehbar darstellen: Die Verschwörer konnten ihren Mund nicht halten und neigten zur Selbstüberschätzung. Dass Orth allerdings die Popularität Hitlers bei seinen Überlegungen außer Acht lässt, kann Koerfer nicht begreifen.

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