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Der junge Schriftsteller Jean D. hat sich sein erstes Romanmanuskript ans Handgelenk gekettet, damit es ihm nicht gestohlen wird. Da er sich in der eigenen Wohnung nicht mehr sicher fühlt, haust er mit seiner Schauspielerfreundin Dominique in deren Theaterloge. Seine Mutter, eine geldgierige Boulevardschauspielerin, und ihr Liebhaber, ein bösartiger Kritiker, stellen dem jungen Schriftsteller nach. Nobelpreisträger Patrick Modiano verwandelt diese Jugendepisode in ein geistreiches Spiegelkabinett voller Humor und bringt dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig auf die Bühne. Er…mehr

Produktbeschreibung
Der junge Schriftsteller Jean D. hat sich sein erstes Romanmanuskript ans Handgelenk gekettet, damit es ihm nicht gestohlen wird. Da er sich in der eigenen Wohnung nicht mehr sicher fühlt, haust er mit seiner Schauspielerfreundin Dominique in deren Theaterloge. Seine Mutter, eine geldgierige Boulevardschauspielerin, und ihr Liebhaber, ein bösartiger Kritiker, stellen dem jungen Schriftsteller nach. Nobelpreisträger Patrick Modiano verwandelt diese Jugendepisode in ein geistreiches Spiegelkabinett voller Humor und bringt dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig auf die Bühne. Er versteht sein Theaterstück als Pendant zu seinem Roman "Schlafende Erinnerungen".
Autorenporträt
Patrick Modiano, 1945 in Boulogne-Billancourt bei Paris geboren, ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der Gegenwart. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den großen Romanpreis der Académie française, den Prix Goncourt, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur und 2014 den Nobelpreis für Literatur. Bei Hanser erschienen unter anderem die Romane Place de l'Étoile (2010), Im Café der verlorenen Jugend (2012), Der Horizont (2013), Gräser der Nacht (2014), Damit du dich im Viertel nicht verirrst (2015), der Prosatext Schlafende Erinnerungen (2018), das Theaterstück Unsere Anfänge im Leben (2018) sowie zuletzt die Romane Unsichtbare Tinte (2021) und Unterwegs nach Chevreuse (2022).

Elisabeth Edl, 1956 geboren, lehrte als Germanistin und Romanistin an der Universität Poitiers und arbeitet heute als Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin in München. Sie wurde u. a. mit dem Celan-Preis, Petrarca-Preis, Voß-Preis, dem Österreichischen Staatspreis, dem Romain Rolland-Preis und dem Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres der Republik Frankreich.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.08.2018

Wiederfinden, wer man gewesen ist
Der Sound von Modiano: Der Literaturnobelpreisträger hat einen neuen Prosaband und erstmals auch ein Theaterstück geschrieben

Zu den schönen Nebenwirkungen, wenn man ein neues Buch von Patrick Modiano liest, gehören die Linien und Querverbindungen, die sich dann immer wieder zu den vergangenen Büchern ergeben, bis ein kleines Raster entsteht: Straßen, von denen man schon gehört hat, Personen, deren Namen gefallen sind, Orte, die einem bekannt vorkommen. Und manchmal gerät man dabei sogar in die eigenen Erinnerungen, weil ein Bild auf einmal ein anderes freisetzt.

In Modianos neuem, schmalem Prosaband "Schlafende Erinnerungen", dem ersten, seit er 2014 den Literaturnobelpreis bekam, spricht Jean, der Ich-Erzähler, der nicht Modiano ist, es aber in vielerlei Hinsicht sein könnte, von der Pariser Metro, er erwähnt "all die Punkte auf dem Netzplan, die aufleuchteten, wenn man die Knöpfe für eine Verbindung drückte". Wenn man diese Pläne als Kind noch selber gesehen hat, ist beim Lesen sofort die Faszination wieder da, die einen packte, wenn man davorstand. Auf der Armatur neben dem Fahrkartenschalter gab es für jede Station einen Knopf, und sobald zwei gedrückt waren, leuchtete auf der großen Karte eine farbige Linie quer durch Paris, gerade, diagonal, kurz abbrechend, mehrfarbig, wenn ein Umsteigen in eine andere Linie nötig war, um ans gewünschte Ziel zu kommen. Man hätte stundenlang davorstehen wollen.

Keine Ahnung, wann diese wunderbare Orientierungshilfe abgeschafft wurde, die einem heute wie ein analoger Vorschein von GPS vorkommt. Modiano würde das sicher wissen. Als Metapher für die Topographie seiner Romane und Geschichten hat dieser Netzplan einen unwiderstehlichen Reiz. Man könnte, nur zum Beispiel, in den "Schlafenden Erinnerungen" lesen, die Namen von Straßen und Plätzen notieren, sie auf einem Pariser Stadtplan suchen und einfach schauen, was für ein Muster dabei herauskommt: quer durch die Arrondissements, von der Wohnung am Boulevard Sérurier zur "Buchhandlung für okkulte Wissenschaften" in der Rue Geoffroy-Saint-Hilaire und von dort zur Avenue Rodin, in der eines Tages, im Salon einer Wohnung im Haus Nr. 2, Ludo F. tot auf dem Teppich lag.

Man wird nun nicht, wie Jorge Luis Borges sich das ausmalte, in einem solchen "geduldigen Labyrinth der Linien das Bild seines eigenen Gesichts" wiedererkennen, aber man hat ein Netz, das quer durch die Zeiten reicht, das Episoden verknüpft, ohne dass man hinter die Regeln der Verknüpfung käme, die einen vergangenen Sommer auf einmal mit dem 1. Februar 2017 verbindet.

Modiano ist von der ersten Seite an in seiner Welt, nach zwei, drei Noten schon ist da die vertraute Melodie. Jean ist 1965 zwanzig Jahre alt, er streunt durchs Leben, ist einsam, die Eltern sind schemenhafte Gestalten; über die Leute, mit denen er zu tun hat, weiß er nicht viel. Und weil Erinnerung bei Modiano nie geordnet oder linear ist, weil sie nicht etwas ist, in das man eintaucht und worin man versinkt, beginnen bald die kleinen Überblendungen.

Über die Erinnerung an einen Mann, den Jean damals kannte, legt sich das Bild einer zufälligen Begegnung mit ihm in den siebziger Jahren. Und wenn er von Geneviève Dalame erzählt, mit der er befreundet war und das Interesse am Okkulten teilte, an deren zwielichtigen Bruder er sich so gut erinnert, weil der einen Blouson aus Leopardenfellimitat trug, dann lässt er sofort auch den Abstand eines halben Jahrhunderts spüren. "Zufällig war ich sogar erst vor vierzehn Tagen dort", heißt es über einen Ort, an dem er sich vor fünfzig Jahren mit Gleichgesinnten traf. "Ich war überzeugt, wieder in der Vergangenheit angekommen zu sein."

Das ist der Rhythmus von Modianos Erzählen, daraus entsteht dieser unnachahmliche Sog. Es sind immer nur Fetzen, Partikel, Episoden, die einem zufliegen, die sich festhalten lassen, ohne die Hoffnung, jemals eine komplette Ansicht zu bekommen. Die Teleologie eines Puzzles, in dem irgendwann alles passen muss, ist Modiano fremd. Deswegen kann es auch keinen Plot, keine fortschreitende Handlung in seinen Büchern geben. Der tote Ludo F., die Frau, die ihn "aus Versehen" umbrachte und der Jean dabei half, für eine Weile abzutauchen, das ergibt keinen Kriminalfall. Höchstens dessen Andeutung.

Modiano variiert in "Schlafende Erinnerungen" seine vertrauten Motive: die schlafwandlerische Bewegung durch Paris, die unvollständigen Listen mit Namen, Telefonnummern oder Straßen, die es nicht mehr gibt. Die Vergangenheit kann dabei auch zur Sinnestäuschung werden, wie eine Fata Morgana, dann erscheint der Montmartre im Sommer 1965 "mir plötzlich als eingebildeter Montmartre". Jean, darin ganz Modiano, hört deswegen nicht auf, nach den "Geheimnissen von Paris" zu suchen, im Bewusstsein, dass er sie nie ganz enthüllen wird.

Er hat sich dabei etwas bewahrt, worin man Rudimente okkulter Neigungen erkennen könnte, wenn Jean davon erzählt, wie er beschloss, einzelne Passagen aus alten Notizen zum Fall Ludo F. "unter die Seiten eines Romans zu mischen, wie ich es vor dreißig Jahren getan habe": in der Hoffnung, durch diesen Transfer werde die Linie zwischen Wirklichkeit und Traum unsichtbar. Wen das interessiert: 1987, dreißig Jahren vor Erscheinen der "Schlafenden Erinnerungen" auf Französisch, hat Modiano nichts veröffentlicht.

Neu und überraschend ist nun, dass die "Schlafenden Erinnerungen" nicht einfach für sich allein stehen sollen. Modiano hat ein Theaterstück geschrieben, das "Unsere Anfänge im Leben" heißt und das er als Pendant zu den "Schlafenden Erinnerungen" versteht. Einmal ist auch in dem Prosaband die Rede von "unseren Anfängen im Leben". Überraschend ist das, weil Modiano ja schon Drehbücher geschrieben hat und weil sich sein Erzählen nun mal am treffendsten beschreiben lässt mit Vergleichen, die aus der Welt des Kinos stammen, ob das nun die Doppelbelichtung ist oder die Überblendung, die Montage oder die Rückblende.

Erstaunlich an dem Theaterstück ist die Selbstverständlichkeit, mit der Modianos Erzählweise die andere Gattung von der ersten Szene an durchdringt. Jean taucht anfangs als Silhouette auf, er spricht ein paar Sätze, doch sobald die Bühne hell wird, ist man in der Vergangenheit, an die er sich erinnert. Diese Übergänge lesen sich zauberhaft leicht, die Zeiten verlaufen ineinander wie Wasserfarben. In dem Theaterraum, der auch der Schauplatz des Stücks ist, wird Tschechows "Möwe" geprobt, deren Figurenkonstellation der von Modianos Stück oberflächlich gleicht.

Ob solche Wirkungen sich nun auch in einer deutschen Stadttheateraufführung einstellen werden, wird man sehen - wenn man es sich denn ansehen will. Das Stück jedenfalls ist kurz und kompakt. Es gibt fünf Rollen: den jungen Jean, ein Schauspielersohn und angehender Schriftsteller; seine Freundin Dominique, eine junge Schauspielerin, beide 20 Jahre alt; dazu Jeans bitter gewordene Mutter Elvire, deren unsympathischen Lebensgefährten Caveux und Bob, den Bühnenmeister. Jean trägt sein Romanmanuskript in einer Schulmappe mit sich herum, die er sich mit einer Art Handschelle am Handgelenk befestigt hat. Frostig ist das Klima zwischen Jung und Alt, voller Eifersucht und voller Vorwürfe.

Dennoch sind auch hier ein paar der Modiano-Motive unübersehbar: die gespenstergleiche Existenz der Mutter und ihres Lebensgefährten, die Präsenz des Vergangenen, die im Theater sprechend ist: "Diese Wände, die Bühne und die Balkone sind erfüllt von den Stimmen all jener, die hier gespielt haben." Und natürlich ist auch dieses Stück eine große, fragmentarische Erinnerung an die sechziger Jahre, an die verschollene Liebe zu Dominique, die Jean aus den Augen verloren hat. Ihm fällt ein, wie und wo sie einander kennenlernten, in einem Café an der Place Blanche, vor fünfzig Jahren. Allein auf der leeren Bühne stehend, sagt er nur: "Seit jenem Herbst gehen wir die Steigung der Rue Blanche hinauf bis ans Ende der Zeiten."

Wie der Prosaband mit dem Stück verschränkt ist, so das Stück mit dem Buch. Er müsse das alles aufschreiben, in einem Roman, sagt Dominique, und Jean entgegnet: "Nein. Eher in einem Theaterstück." Man kann auch darin eine kleine alchimistische Reaktion sehen: Die Überführung von etwas wirklich Geschehenem in einen Roman oder ein Stück soll das Faktum in Fiktion verwandeln und womöglich auch Spuren verwischen. So lässt sich vielleicht die Macht der Tatsache brechen; oder der leise Schmerz um Verlorenes lindern. "Und doch", sagt Jean am Schluss, "in manchen Vierteln findet man plötzlich wieder den, der man gewesen ist."

Den einmaligen Flow der Prosa hat das Stück nicht. Man liest es, weil es von Modiano ist: ein neuer Ort in der großen Landschaft des Erinnerns, im Paris der vielen Jahrzehnte, über das sich Modianos Prosa wie ein Netz aus Namen, Orten, Straßen gelegt hat. Und die vielen Punkte werden, wie auf dem Netzplan, von farbigen, leuchtenden Linien verbunden. Man kann an diesen Linien auch ablesen, was Patrick Modiano von dem anderen großen erinnerungsbesessenen Zeitreisenden unterscheidet; von dem, was bei Marcel Proust die "wiedergefundene Zeit" heißt.

In "Schlafende Erinnerungen" gibt es eine sehr schöne Passage, die das wie nebenbei erklärt: "Wenn man in denselben Stunden, an denselben Orten und unter denselben Umständen noch einmal erleben könnte, was man bereits erlebt hat, es aber viel besser erleben würde als beim ersten Mal, ohne die Fehler, Hindernisse und Leerläufe . . . das wäre so, wie ein Manuskript voller Streichungen ins Reine schreiben . . ."

PETER KÖRTE

Patrick Modiano: "Schlafende Erinnerungen". Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, 112 Seiten, 16 Euro

Ders.: "Unsere Anfänge im Leben". Theaterstück. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser, 110 Seiten, 16 Euro

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2018

Der Stummerzähler
Nach dem Nobelpreis: Patrick Modiano setzt mit zwei neuen Büchern seine Erkundungen der Zwischenwelt des Erinnerns fort
Bis vor Kurzem gab es in der Pariser Métro elektrische Netzplantafeln, auf denen per Knopfdruck mehrfarbig die Lämpchen des Wegs bis zum Zielbahnhof aufleuchteten. So eine Orientierungshilfe hätte sich auch Modianos Erzählfigur für die Irrfahrten durch die Nacht ihrer Erinnerungen gewünscht. Unermüdlich notiert der Erzähler von „Schlafende Erinnerungen“ Namen und sonstige Details aus der Halbvergessenheit seiner Streifzüge durch Paris und stellt sich vor, dass während dieser Arbeit, „bei der man im Ungewissen tappt, manche Namen zeitweise aufblinken wie Signale, die vielleicht hinführen zu einem verborgenen Weg“.
Den Modiano-Lesern ist dieses Herumtappen in der Ruhlosigkeit der Erinnerungen vertraut. Den anderen mag das Buch als neue Einstiegsmöglichkeit ins Werk des Autors dienen. Es ist die erste Publikation seit dem Nobelpreis vor vier Jahren. Dargestellt wird die Suche eines Mannes nach Erinnerungen an fünf oder sechs Frauen, denen er in seiner Jugend begegnet ist und die er aus den Augen verloren hat. Mit dem autobiografischen Text „Ein Stammbaum“ hatte Modiano 2005 in Form von Kindheitserinnerungen einige Grundmuster seiner Erzählwelt vorgelegt. Mit diesem Buch haben wir ein eher reflektierendes Pendant dazu. Und mit „Die Anfänge unseres Lebens“ kommt gleichzeitig ein Theaterstück von ihm heraus, eine Seltenheit bei diesem Autor.
Modianos Medium ist eine permanent ins Heute herüberlappende Vergangenheit der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Trotz der genauen Ortsangaben entfaltet sich die Erinnerung bei ihm nicht in einem geografisch erfassbaren Raum. Sie ist tiefenlos, ein ständiges Flimmern individueller und historischer Ereignisse, Atmosphären, Begegnungen, Ängste und Erwartungen. Grelle Lichter schimmern hinter der Scheibe einer nachts geöffneten Bar. Nachmittägliche Zeitstille zerdehnt sich beim Herumsitzen in einer fremden Wohnung. Gespenstische Leere lauert auf den hochsommerlichen Straßen von Montmartre. Die Situationen verharren, wenn der Erzähler im Geist die Orte abschreitet, in der Schwebe zwischen Fremdheit und Alltäglichkeit. Selbst, wenn es darum geht, nach dem mysteriösen Tod eines gewissen Ludo F. den Revolver unter dem nächstbesten Schachtdeckel verschwinden zu lassen, flimmert die Spannung wie hinter einem Schleier aus Unwirklichkeit.
In keinem anderen Buch bisher ist so deutlich geworden, wie weit die Dunstschwaden der Erinnerung bei Modiano vom spontanen Aufblitzen der „mémoire involontaire“ bei Proust entfernt sind. Entspringen Prousts Erinnerungsschnipsel stets aus bestimmten Blickwinkeln, Gegenständen, Landschaften, Klängen oder Geschmacksnuancen, so bewegt sich die Erinnerung bei Modiano in einem Kontinuum der Raum- und Zeitlosigkeit. Sein Erzähler lebt in einem ständigen Déjà-vu. Wenn er, wie hier, nach sechs Jahren zufällig eine aus den Augen verlorene Jugendfreundin trifft, mit einem Kleinkind an der Hand, kommt ihm diese Begegnung wie eine bloße Variante der ersten vor: nun eben mit Kind. Und es werde noch andere Begegnungen mit ihr geben, sagt er sich, „in derselben Straße, wie bei den Zeigern einer Uhr, die jeden Tag zu Mittag und um Mitternacht aufs neue zusammenkommen“.
Die Begebenheiten tanzen bei Modiano im Grenzraum zwischen Realität und Vorstellung vollkommen unvorhersehbar, jedoch mit der Zuverlässigkeit einer Uhrenmechanik umeinander. Und nicht einmal das Ticken ist hörbar. Alles scheint lautlos abzulaufen. Geräusche kommen bei diesem Autor praktisch nicht vor, als wäre das Geschehen bloß eine Vision. Wenn es in der Literatur so etwas wie Stummfilme gäbe, wäre Modiano ein Meister dieses Genres. Ein Stummerzähler.
Damit hängt zusammen, dass die von Vergangenheit durchtränkten Ereignisse nie so etwas wie Nostalgie aufkommen lassen. Mögen sie gestern, vor zehn oder fünfzig Jahren passiert sein, sie schwimmen im selben Zeitbad. Die besagte Freundin wohnte, als der Erzähler sie in den Sechzigerjahren kennenlernte, statt in einer Wohnung in einem Hotel, wie es damals in Paris häufig vorkam. „Die alte Welt verhielt zu jener Zeit ein letztes Mal den Atem, bevor sie zusammenstürzte“, bemerkt der Erzähler dazu. Seiner Generation sei es gegeben worden, noch ein paar Momente lang in den alten Kulissen zu leben.
Statt diese Kulissen aus der Erinnerung nostalgisch einzufärben, rückt Modiano sie in unsere Gegenwart vor und schickt uns auf den Spuren seines Erzählers auf Irrfahrt durch ein halb fantastisches, halb reales Paris, das „übersät ist mit neuralgischen Punkten und den vielfältigen Formen, die unser Leben auch hätte annehmen können“. Das Ambiente ist bei diesem Autor Mitträger des nicht ausgelebten Lebenspotenzials der Protagonisten. Und ähnlich verhält es sich auch mit dem Theaterstück „Unsere Anfänge im Leben“, das im letzten Jahr parallel zu den „Schlafenden Erinnerungen“ herauskam. Handlungsort ist da ein Theater, in dem Tschechows „Möwe“ geprobt wird. Ein junger Schriftsteller namens Jean verbündet sich mit der Darstellerin Ninas aus dem Tschechow-Stück gegen seine Mutter, die ebenfalls Schauspielerin ist – eine Situation, die an Modianos eigene Kindheit erinnert. Es wäre erstaunlich gewesen, würde in diesem Stück nicht auch der Theaterraum zu sprechen anfangen.
„Wände, Bühne und Balkone sind erfüllt von den Stimmen all jener, die hier gespielt haben“, raunt Jean seiner Freundin zu, mit der er sich nachts im Theater verbarrikadiert hat. Und nicht nur die früheren Schauspieler, auch die Zuschauer von einst sind wieder da und nehmen an einer Art „ewiger Wiederkehr“ teil. Diese Formulierung taucht in „Schlafende Erinnerungen“ ebenfalls mehrmals auf. Das bisher unaufgeführte Theaterstück wirkt eher wie ein Lesestück. Die beiden Texte sind gleichzeitig nebeneinander entstanden. Nach dem Wirbel um den Nobelpreis hat der öffentlichkeitsscheue Autor die straffe Rede-Antwort-Form des Theaters dazu benützt, seinen Schreibrhythmus wiederzufinden. Wir dürfen beruhigt sein, es ist der alte Modiano-Sound, der in der Erzählung wie im direkten Wortwechsel weiterhin tonlos aus dem Vollen spricht. Und die gestandene Modiano-Übersetzerin hat für beide Texte das richtige Parlando gefunden.
JOSEPH HANIMANN
Patrick Modiano: Schlafende Erinnerungen. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München, 2018. 112 Seiten. 16 Euro.
Patrick Modiano: Unsere Anfänge im Leben. Theaterstück. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München, 2018. 110 Seiten. 16 Euro.
Geräusche kommen bei diesem
Autor kaum vor, als wäre
das Geschehen nur eine Vision
Patrick Modiano, geboren 1945 in Boulogne-Billancourt.
Foto: Tierry Dudoit / Laif
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