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Vergessen kann man nur, was man zuvor erinnert hat.
Katja Wild, Hamburger Studienrätin, glaubt auf einem Foto der Wehrmachtsausstellung ihren Vater erkannt zu haben. Sie weiß, dass ihr Vater Soldat in Russland war. Inzwischen ist er 82 Jahre alt und verbringt seinen Lebensabend in einer Senioren-Residenz mit Elbblick. Der Oberstudienrat mit den Fächern Alte Geschichte, Griechisch und Latein galt seiner Familie, den Kollegen und Schülern als ein Humanist alten Schlages und Spezialist der Erinnerung. Ein Lehrer ohne Fehl und Tadel, ein vorbildlicher Vater. Nun, fast 60 Jahre nach Kriegsende,…mehr

Produktbeschreibung
Vergessen kann man nur, was man zuvor erinnert hat.

Katja Wild, Hamburger Studienrätin, glaubt auf einem Foto der Wehrmachtsausstellung ihren Vater erkannt zu haben. Sie weiß, dass ihr Vater Soldat in Russland war. Inzwischen ist er 82 Jahre alt und verbringt seinen Lebensabend in einer Senioren-Residenz mit Elbblick. Der Oberstudienrat mit den Fächern Alte Geschichte, Griechisch und Latein galt seiner Familie, den Kollegen und Schülern als ein Humanist alten Schlages und Spezialist der Erinnerung. Ein Lehrer ohne Fehl und Tadel, ein vorbildlicher Vater. Nun, fast 60 Jahre nach Kriegsende, sieht Katja dieses Foto. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um ihn nach seinen Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg zu befragen ... Eine schmerzliche Reise in die Vergangenheit beginnt.
Autorenporträt
Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Ihr lyrisches Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch« und 2014 »Spiel der Zeit«. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus. In »Unscharfe Bilder« setzt sie sich mit der NS-Zeit auseinander ¿ ein Thema, das all ihre Romane durchzieht.
Rezensionen
"Ein klug konstruiertes, notwendiges, sehr ernstes Buch." -- Frankfurter Allgemeine Zeitung

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit diesem "ambitionierten" Roman will die Autorin "hoch hinaus", bemerkt Martin Lüdke, den es deshalb nicht verwundert, dass das Unterfangen "in die Hose geht". Mit der Romanhandlung, in der eine Tochter den eigenen Vater auf einem Foto in der Wehrmachtsausstellung entdeckt haben will, das ihn bei der Erschießung von Geiseln zeigt, und den sie mit ihrer Entdeckung konfrontiert, will die Autorin nämlich demonstrieren, dass auch Täter ein "Recht auf Gerechtigkeit" haben, und "selbst Mörder noch gute Menschen sein" können, beschreibt der Rezensent die Intentionen Hahns. Er räumt ein, dass in den Passagen, in denen die Tochter den Vater dazu bringt, sich seiner verdrängten Kriegserlebnisse zu erinnern, der Roman dicht und anschaulich wird und - über die "dokumentarischen Genauigkeit" hinaus - an "Authentizität" gewinnt. Was die Konstruktion des Romans angeht, hört der Rezensent jedoch zu seinem Unwillen "das Konzeptpapier" rascheln. Denn in der fast ausschließlichen Beschränkung auf die beiden Figuren des Vaters und der Tochter entsteht für Lüdke die Atmosphäre eines "Strafprozesses", bei der sich Anklage und Verteidigung allzu ordentlich abwechseln. Ein Roman, so der Rezensent streng, "eignet sich nicht als Instrument der Beweisführung", und auch der Begriff der "Unschärfe", den Hahn nach einem Gedanken Wittgensteins in ihr Buch einbringt, führt nicht tieferen Erkenntnissen, sondern bringt die Autorin lediglich dazu, sich darin zu "verheddern", schreibt er.

© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2003

Warst Du das, Vater?
Lob des Beichtstuhls: Ulla Hahns Roman „Unscharfe Bilder”
„Kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?” fragt der Philosoph Ludwig Wittgenstein und liefert damit das Motto für Ulla Hahns neuen Roman „Unscharfe Bilder”. Dieses Motto ist allerdings eher das, was man in der Malerei etwas altmodisch einen „Vorwurf” nennen würde. Die „unscharfe Fotografie”, welche hier den (moralischen) „Vorwurf” bildet, hat Frau Dr. Katja Wild, Studienrätin in Hamburg, in der Ausstellung „Verbrechen im Osten” gesehen und darauf ihren Vater bei der Erschießung russischer Zivilisten erkannt.
Dieser Vater, Oberstudienrat a. D. Dr. Hans Musbach, lebt seit Jahren in einem Seniorenheim. Katja hat ein ungewöhnlich herzliches Verhältnis zu ihm, besucht ihn fast täglich. Das Foto versetzt ihr einen Schock. Sie zeigt dem Vater den Ausstellungskatalog, um ein Bekenntnis zu provozieren. Halb widerstrebend, halb gutwillig, lässt der alte Herr sich auf das Ansinnen der Tochter ein und erzählt von Russland. Den Vorwurf, der von Anfang an zwischen Tochter und Vater stand, formuliert er selber: „Ich war dagegen, aber eben auch dabei.”
Bei allem grundsätzlichen Einvernehmen baut sich zwischen Tochter und Vater eine Spannung auf, die für beide unerträglich wird (und den Leser fest in ihren Bann zieht): „Die Bilder hier, davon willst du nichts gewusst haben?” Als der Vater das geforderte Geständnis nicht liefert, gerät die Tochter in eine psychosomatische Krise. Auch der Vater leidet, hat einen Herzanfall, den er jedoch übersteht. „Wenn du versuchen willst, mich damals zu verstehen, sagte Musbach mit leiser Entschlossenheit, dann musst du auch meine Angst begreifen.”
Das Mosaik und seine Steine
Die Handlung des Romans spielt nur wenige Monate vor seinem Erscheinen: Hans Musbach, der bei Hitlers Machtergreifung „kaum 13 Jahre alt” war und „jetzt” 82 ist, besucht die Hammershøi-Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle, die von März bis Ende Juni 2003 zu sehen war. Aber der Roman will nicht dokumentarisch sein. Im Sommer 2003 gab es keine Ausstellung „Verbrechen im Osten”: die neue Version der Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944” wird erst im Winter 2004 nach Hamburg kommen. Die Gespräche zwischen Vater und Tochter und insbesondere die erinnerten Erlebnisse Musbachs sind natürlich fiktional. Trotzdem oder gerade wegen ihrer Fiktionalität beanspruchen sie einen Status historischer „Wahrheit”, sie wollen dazu beitragen, „das ganze Bild” zu zeigen: „Musste man aus dem Mosaik immer nur die Steine einer Farbe auswählen? Gab nicht erst das ganze Bild einen Sinn?”, räsoniert der Alte, und in diesem Bild ist er „ein Teil der deutschen Kriegsmaschine und ihr Opfer zugleich.” Katja formuliert dazu genau jene Fragen, welche die Nachkriegsgeneration mit Recht, aber auch mit wohlfeiler Selbstgerechtigkeit, unablässig gestellt hat. Zu einem solchen Gespräch ist es in den Millionen von Familien mit einem körperlich und seelisch angegriffenen Russlandheimkehrer freilich nur ganz selten gekommen.
Mit hohem emotionalen Aufwand gelingt es dem Alten, der Tochter dieses „immer dagegen, immer dabei” zu erklären. Aber er erzählt nun auch unter Qualen, dass er tatsächlich von einem SS-Scharführer zur Erschießung eines russischen Gefangenen gezwungen wurde, beim Abdrücken jedoch das Bewusstsein verlor. „Eine gnädige Ohnmacht”, sagt er selber. „Ich weiß ja nicht einmal, ob m e i n Schuss traf. Aber geschossen, geschossen habe ich!” Die Tochter akzeptiert jetzt, was sie in früheren Gesprächen immer als faule Ausrede verdächtigt hat: „Was blieb dir denn übrig?” Nun ist er es, der die Entschuldigung nicht gelten lässt und insistiert: „ein Mörder war ich auch.” Als noch dazu klar wird, dass das inkriminierte Bild gar nicht den Vater zeigt, versucht sie beinahe verzweifelt, ihn zu rechtfertigen: „Du bist es nicht gewesen! . . . Du warst es nicht. Du hast nicht geschossen!” Seine Antwort: „Ich bin es nicht auf diesem Foto? Spielt das denn eine Rolle. . . . Ein Foto oder keines. Verzeih mir – wenn du kannst.”
Immer dagegen, immer dabei
Musbach war wirklich „dagegen”, Musbach konnte den SS-Mann als seinen Feind identifizieren (und ihn mit dem Gewehrkolben erschlagen!), Musbach konnte unter russischen Partisanen überleben: Musbach ist gut erfunden. Nicht alle Deutschen lassen sich aber wie Musbach beschreiben. Die Autorin lässt diese anderen Deutschen im Roman am Rand erscheinen: der Onkel einer Freundin serviert die sattsam bekannten Sprüche („die Ordnung damals hatte auch ihr Gutes”) und erlaubt Katja, sich und ihren Vater deutlich davon zu distanzieren:„ Dieser Onkel, diese Leute, die wollten was sie sollten.”
Aber wir sind in diesem Buch nicht bei denen, die wollten, was sie sollten. Musbach personalisiert und individualisiert unter Krämpfen und Tränen, was er zuvor abwehrend „die historische Verantwortung der Deutschen” genannt hat. Für Katja (und die Nachkriegsgeneration) ist diese Schuldzuweisung zwar das, was sie schon lange hören wollte. Sie wird von der so erfolgreichen Anamnese sogar ermutigt, wieder Kontakt mit ihrem einst wortlos verabschiedeten Mann aufnehmen – aber uns macht diese Lösung nicht richtig froh. Wir spüren, dass dieses endlich geleistete Geständnis nichts erklärt, vielleicht gar einer Erklärung im Wege steht. Die entscheidende Frage ist ja nicht, warum man „immer dagegen und immer dabei” war, sondern warum man dafür sein konnte und damit auch noch Recht bekam.
Die Lösung des Romans ist moralisch, sie macht sich eine Überzeugung der christlich-katholischen Umwelt zunutze, die Ulla Hahn in ihrem stark autobiographischen Kindheitsroman „Das verborgene Wort” (2001) prägnant dargestellt hat: dass das Bekenntnis der Schuld die Schuld aufhebt. Das Modell für eine solche „Entschuldigung” ist jene ergreifende Episode, in der die kleine Hildegard eine blaue Vase fallen lässt. Nachdem sie es Schwester Aniana verraten hat (die geduldig auf das Geständnis wartete), fühlt sie sich leichter denn je und glaubt, „sekundenlang . . . in das Antlitz der Muttergottes . . . zu sehen.” Dieser Mechanismus funktioniert überzeugend bei Kindern, wenn die Schuld eindeutig und wenn der Schaden gering ist – eine Vase kann sogar Schwester Aniana verschmerzen. Der sichere Tod eines an die Feldgendarmen auszuliefernden Kameraden, der Tod des von wem auch immer erschossenen namenlos bleibenden Russen sind durch kein Schuldbekenntnis zu relativieren.
Moralische Kategorien – und das nimmt ihnen nichts von ihrem Ernst und ihrer Würde – haben nur für das Individuum einen Sinn, und Katja und Musbach ahnen vielleicht doch in allem Bekenntniseifer, dass der Begriff „Mord” für seine „Taten” so unscharf ist wie die Bilder, von denen der Verdacht ausgegangen war. Hat Musbach nicht gerade deswegen so lange geschwiegen? Vater und Tochter sind am Schluss in einem schmerzlichen Idyll vereint, als hätte der Kriegsgeneration nach 1945 nur ein Beichtvater gefehlt.
HANS-HERBERT RÄKEL
ULLA HAHN: Unscharfe Bilder. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 279 Seiten, 18,90 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003

Auf dem Ringfinger ein Stein von blutroter Farbe
Dagegen, aber auch dabei: Ulla Hahn hat einen klugen Roman über die Notwendigkeit des Erinnerns verfaßt / Von Ernst Osterkamp

Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Väter zu fragen, was sie im Krieg gemacht haben. Dr. Katja Wild, eine fünfzigjährige Studienrätin aus Hamburg, hat gewartet, bis ihr Vater 82 Jahre alt ist. Dann aber zwingt sie ein Bild - ein unscharfes Bild -, diese Frage zu stellen: 58 Jahre nach Kriegsende. Soeben ist ein neuer Krieg ausgebrochen, fern im Irak, und das gewährt zusätzliche Zeit, um mit dem Vater zu reden: "Kein Unterricht. Ausgefallen. Friedensdemo, du weißt schon. Haben wir gestern auf der Konferenz beschlossen." Hamburg im Frühjahr 2003, in der Kunsthalle ist eine Ausstellung mit den weltverloren-stillen Interieurs von Vilhelm Hammershøi zu sehen, aber auch eine Ausstellung zum Thema "Verbrechen im Osten" wird in der Stadt gezeigt. Diese hat sich Katja Wild genau angesehen, ihr Vater Hans Musbach hingegen versenkt sich lieber in die wunderbare Stille der Bilder des Dänen. Eine modellhafte Konstellation; man ahnt, was kommt. Und doch kommt es auch anders.

Dr. Hans Musbach, Oberstudienrat a.D., verbringt seinen Lebensabend auf komfortable Weise in einer Senioren-Residenz mit Elbblick, zu deren gesellschaftlichem Treiben er Distanz hält. Seine Fächer waren Alte Geschichte, Griechisch und Latein; er ist also ein Humanist alten Schlages und damit Spezialist für die Kultur der Erinnerung. Bei Generationen von Schülern war er berühmt dafür, daß er den Bogen von der Alten Geschichte zu den Verbrechen des "Dritten Reichs" zu schlagen wußte und dabei auf die besondere geschichtliche Verantwortung der Deutschen hinwies. Ein Lehrer ohne Fehl und Tadel, ein Vorbild auch für Tochter Katja, die ihn täglich besucht. Aber als Kenner der antiken Gedächtniskunst weiß Musbach, daß zu ihr auch eine Kunst des Vergessens gehört; dies hat er seinen Mitbewohnern in einem Vortrag erklärt: "Vergessen kann befreien." So spricht ein kultivierter Virtuose der humanistischen Erinnerung, der die Kunst des Vergessens auf eine entscheidende Phase seines Lebens angewandt hat. Entsprechend verärgert reagiert er, als ihm seine Tochter den Katalog der Ausstellung "Verbrechen im Osten" auf den Tisch legt: Darüber weiß er doch alles - nur seine eigene Rolle dabei hat er vergessen.

Die Erinnerung daran läßt sich nur in einem für Vater und Tochter höchst schmerzhaften Prozeß rekonstruieren, den die Tochter mit den Sätzen eröffnet: "Schau dir das Buch bitte an. Dein Bild wirst du da ja nicht drin finden." Musbach muß also das Bild, auf dem er zu sehen ist, in der eigenen Erinnerung finden. Am Ende dieses Prozesses tritt an die Stelle der Befreiung durch Vergessen eine Befreiung durch Erinnerung. Daß dabei eine Blutspur zutage tritt, weiß der Leser freilich spätestens, als er zum ersten Mal auf die Hände des Humanisten blickt: "auf dem Ringfinger der Linken ein antiker Stein von blutroter Farbe".

Ein Virtuose des Erinnerns und des Vergessens zugleich konnte der Oberstudienrat sein, weil er seine Erinnerung nach einem ganz einfachen Prinzip strukturierte: "Er hatte die Geschichte der Nazijahre als eine schreckliche Abfolge von Bildern betrachtet - auf denen es ihn nicht gab." Diese Auslöschung des eigenen Bildes im Gesamtbild gelang ihm, weil er, der kultivierte Humanist, immer gegen die Nazis war - ohne sich doch dem Zugriff ihrer Macht je zu entziehen: "Ich war dagegen, aber eben auch dabei. Immer." Deshalb läßt sich Musbachs Versuch, den Bildern des Katalogs, auf denen er nicht zu finden ist, die Bilder seiner Erinnerung entgegenzustellen - "sie sind unvollständig ohne meine Bilder" -, auf Dauer nicht durchhalten. Am Ende erinnert auch er sich an ein schreckliches Bild, auf dem er als Täter zu sehen ist. Dies Bild freilich bleibt unscharf.

Tag für Tag treibt die Tochter den Prozeß der Erinnerung auf staatsanwaltlich-inquisitorische Weise bei ihrem Vater voran, ohne Schonung für diesen und für sich selbst, mit den entsprechenden psychosomatischen Konsequenzen für beide. Den exemplarischen Charakter dieses notwendigen Erinnerungsgeschehens verdeutlicht Ulla Hahn dadurch, daß sie ihre beiden Protagonisten bevorzugt als "den Vater" und "die Tochter" reden läßt; dem wohnt eine Tendenz zur Typisierung inne. Dabei spielt die Tochter gegen den geliebten Vater immer wieder die Selbstgerechtigkeit derjenigen aus, die sich nie in einer existentiellen Entscheidungssituation befunden hat.

Ulla Hahn läßt Katja "bitter", "ungeduldig", "erbost" den Vater unterbrechen, "zischen", ja mit "drohendem Unterton" reagieren. Dem Leser wird es bewußt schwergemacht, diese Frau, die ein wenig zu stark auf das Klischee von der frustrierten Lehrerin hin stilisiert erscheint, zu mögen. Aber er erfährt erst am Schluß, was sie in Wahrheit antreibt: daß sie ihren Vater auf einem der ausgestellten Fotos, die nicht im Katalog abgedruckt sind, als Schützen bei einer Erschießung von Zivilisten erkannt zu haben glaubt. Und wie soll sie ihn weiter lieben, wenn er diese Erinnerung verleugnet?

Es gehört zu den großen Stärken von Ulla Hahns neuem Roman, mit welchem Bewußtsein für die sprachliche Problematik des Erinnerungsprozesses sie Musbachs Erzählung, die die Zeit des gesamten Rußland-Kriegs umfaßt, gestaltet: wie er zunächst erzählerisch ins Kollektivschicksal und ins Gemeinschaftserlebnis ausweicht, wie er immer wieder die Schrecken des Kriegs durch ihre Einbettung in Natur und Landschaft neutralisiert oder die Kriegserfahrung durch expressionistische Stereotype entpersonalisiert: "Alles schrie. Es schrien die Bäume, die Tiere, die Sträucher, die Farben der Morgendämmerung, die Farben der Erde schrien zum Himmel. Nur der war stumm."

Die Sprachgewalt des Oberstudienrats ist eben auch eine Form von Stummheit; kein Wunder, daß seine Tochter dagegen anzischt. Ulla Hahn hat ihren Roman jedenfalls mit genauem Gespür für die Gefahr verharmlosender Ästhetisierung geschrieben, die jeder erzählerischen Heraufbeschwörung des Grauens innewohnt. "Trüge nicht auch einer, der von diesen Gesprächen zwischen Vater und Tochter schriebe, dazu bei, das Leiden, den Schmerz, den Krieg selbst, erträglicher zu machen? Ist nicht alles Erzählen am Ende nur dazu da, das Erlebte für das Leben, für die Zukunft erträglich zu machen?"

Aber ist Ulla Hahns Roman selbst deshalb dieser Gefahr einer ästhetischen Harmonisierung des Schreckens auch entgangen? Am Ende hat die Tochter es geschafft: "Alle Dämme gegen das Erinnern weggespült." Vater und Tochter sitzen wieder nebeneinander, "einer des anderen Spiegelbild". Aber die Erinnerung, in der das Bild, das den Vater als Täter zeigt (wenn er es denn ist), seine Erklärung findet, verbindet sich nun mit einer Partisanengeschichte, kolportagehaft und bittersüß: Musbach erschlägt die SS-Bestie, die ihn an einer Erschießung von russischen Zivilisten teilzunehmen gezwungen hat, mit einem Gewehrkolben, während der SS-Mann in einer Scheune eine Partisanin vergewaltigt, flieht dann mit der Frau und schließt sich einer russischen Partisanengruppe an. Eine scheue Liebe entwickelt sich, aber eines Tages verschwindet die Partisanin Wera plötzlich für immer. "Der Vater aber lag angekleidet, nur die Fliege gelöst, auf dem Bett und träumte. Von einem einfachen Schlafzimmer träumte der Vater, vielleicht von einem Bett mit Eisenstäben und glatten Laken. Und seine Hand, langsam und schlaftrunken, fährt Weras Rücken hinauf und hinunter. . . . In der Morgendämmerung würden sie sich lieben und so den neuen Tag feiern. Nackt würde sie ans Fenster treten, es weit öffnen und einatmen, tief, mit ausgestreckten Armen." Dies ist Kitsch, fürchterlicher Kitsch, und wird auch nicht besser dadurch, daß der Vater für diese Träume mit einer Herzattacke bestraft wird. Ulla Hahn wäre besser beraten gewesen, ihr klug konstruiertes, notwendiges, sehr ernstes Buch nicht durch dergleichen in seiner Glaubwürdigkeit zu gefährden.

Ulla Hahn: "Unscharfe Bilder". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2003. 281 S., geb., 18,90 [Euro].

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