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2 Kundenbewertungen

Über die Einsamkeit des Körpers und unsere Sprache der Liebe
Unsere Sprache der Liebe ist eine kannibalische Sprache. Wir sagen: Ich habe Dich zum Fressen gern. Ich will Dich auffressen. In seinem zweiten Roman erzählt Senthuran Varatharajah zwei Geschichten, die zu einer werden. Die Geschichte eines Jahres, nach einer Trennung, und die Geschichte eines Tages: vom 9. März 2001, an dem A in seinem Haus in Rotenburg B, wie zuvor vereinbart, tötet, zerteilt und Teile von ihm isst. Mit lyrischer Intensität und philosophischer Strenge erzählt »Rot (Hunger)« davon, dass der Mensch, den wir…mehr

Produktbeschreibung
Über die Einsamkeit des Körpers und unsere Sprache der Liebe

Unsere Sprache der Liebe ist eine kannibalische Sprache. Wir sagen: Ich habe Dich zum Fressen gern. Ich will Dich auffressen. In seinem zweiten Roman erzählt Senthuran Varatharajah zwei Geschichten, die zu einer werden. Die Geschichte eines Jahres, nach einer Trennung, und die Geschichte eines Tages: vom 9. März 2001, an dem A in seinem Haus in Rotenburg B, wie zuvor vereinbart, tötet, zerteilt und Teile von ihm isst. Mit lyrischer Intensität und philosophischer Strenge erzählt »Rot (Hunger)« davon, dass der Mensch, den wir lieben, immer zu weit entfernt ist. Und davon: dass er immer fehlt, auch wenn er vor uns steht. Das ist eine Liebesgeschichte. Mit diesem Satz beginnt der Roman.
Autorenporträt
Senthuran Varatharajah, geboren 1984 in Jaffna, Sri Lanka, studierte Philosophie, evangelische Theologie und vergleichende Religions- und Kulturwissenschaft in Marburg, Berlin und London. 2016 erschien sein erster Roman »Vor der Zunahme der Zeichen« im S. Fischer Verlag. Sein zweiter Roman »Rot (Hunger)« wurde 2022 veröffentlicht. Seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Varatharajah lebt in Berlin. Literaturpreise: - 3Sat-Preis bei den 38. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt - Kranichsteiner Literaturförderpreis 2016 - Bremer Literaturförderpreis 2017 - Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2017 - Rauriser Literaturpreis 2017
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Furchtlos und mit großer Ernsthaftigkeit nähert sich Rezensent Christian Metz diesem provokanten Roman, in dem der Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah den Kannibalismus-Fall von Rotenburg aufgreift. Dass und wie sich Varatharajah dabei ans Äußerste wagt, findet Metz bewundernswert und vor allem brillant: Liebes- und Todeskampf verschlingen sich hier ebenso ineinander wie Leid und Schuld. Dabei entspreche der unglückseligen menschlichen Mechanik eine "hochpräzise Mechanik des Erzählens", erkennt Metz, der betont, mit welcher Akribie Varatharajah vorgeht und wie er die Drastik in Poesie wandelt. Und dass der Roman am Ende doch auch eine Liebesgeschichte erzählt, erstaunt den Rezensenten nicht wirklich, beglückt ihn aber.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.02.2022

Alles ist
verwurstet
Senthuran Varatharajah hat aus der Geschichte
des „Kannibalen von Rotenburg“ einen
aphoristischen Liebesroman gemacht
VON BIRTHE MÜHLHOFF
Es empfiehlt sich, den Wikipedia-Artikel über Armin Meiwes zu lesen, bevor man den Roman beginnt. Der „Kannibale von Rotenburg“ schneidet im März 2001 einem Mann namens Jürgen Brandes den Penis ab, sie essen ihn gemeinsam oder versuchen es zumindest. Brandes hatte sich einen Monat zuvor auf eine Internetannonce von Meiwes gemeldet. Ende 2002 wird die zerteilte Leiche von Brandes (im Roman „B“ genannt) in einer Kühltruhe gefunden, Meiwes („A“ genannt) sitzt seit seiner Verurteilung in Haft.
In Rot (Hunger) darf man als Leser dabei sein, wie Senthuran Varatharajah eine musikalische Variation auf das Kannibalismus-Thema entwickelt. Der Refrain ist: Jeder Mensch ist eigentlich auf der Suche nach einem Gegenüber. In der Liebe, der Freundschaft und im Glauben. Und eigentlich will man dem Gegenüber am liebsten so nahe kommen, dass man eins wird mit ihm. „Wir spreche n von Vereinigung, von Verbindung, von: Verschmelzung. Wir sagen: ich h abe Dich zum Fressen gern.“
Aber nicht die Einverleibung ist das große Motiv in diesem Roman. Sondern – beinahe paradox – der Abstand. Schon beim ersten Blick ins Buch fallen die Abstände auf. Am Zeilenende brechen manche Worte mittendrin ohne Bindestrich ab, werden buchstäblich zerteilt, zerstückelt. Manche Worte sind auseinandergerissen, bilden riesige Abstände und Leerstellen mitten im Satz, sind über die ganze Seite verteilt.
Auch inhaltlich kreist der Anfang des Romans um Abstände aller Art: Der Abstand des Feuerzeugs zum Gesicht, wenn der Ich-Erzähler – der den Namen des Autors Senthuran Varatharajah trägt – sich eine Zigarette (Marlboro, Rot) anzündet und sich seine Wimpern versengt. Der Abstand des Ich-Erzählers zu dem Freund, mit dem er auf dem elterlichen Sofa liegt, und dessen Pullover einen Abdruck auf seinem Gesicht hinterlässt. Auf diesen ersten Seiten werden viele Spuren gelegt. Zigaretten werden angezündet, paarweise aus der Schachtel gezogen. Es gibt die beiden provisorischen Namen A und B und die Frage, was ein Name überhaupt bedeutet. Merkwürdig inhaltsleer wirken manche Sätze: „Am Ende der Sprache werden wir nur eine Erzählung sein.“ Bei anderen fragt man sich, ob sie sich im weiteren Verlauf noch mit Sinn füllen werden oder nicht: „Wir können uns keinen eigenen Namen geben. Aber wir können warte n , bis er uns genommen wird. Das ist keine Frage der Zeit.“
Anspruchsvolle Literatur bringt immer einen Abstand mit sich zwischen dem, was man liest und dem, was man dann erst später begreift, weil es sich erst im Gesamteindruck und im Konzept zu einer Einheit zusammenfügt. Diese Geduld muss man mitbringen. Varatharajah scheint sich damit sogar einen Spaß zu erlauben, wenn er auf den verwirrenden ersten Seiten seines Buches den Freund auf dem Sofa beim gemeinsamen Seriengucken auf „Skip Intro“ klicken lässt.
Der Roman schildert das Verbrechen minutiös und nüchtern, fast protokollartig. Der strenge Aufbau der stets gleich langen Kapitel vermittelt einen Eindruck von Unausweichlichkeit. Unterbrechungen bilden nur die Rückblenden des Ich-Erzählers auf seine Recherche vor Ort: Der Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe, der Ortsteil Wüstefeld von Rotenburg, und Essen, die Stadt, in der A aufwuchs. Doch diese Recherchen beschreibt er wie Ausflüge. Er ist mit Freunden unterwegs, er prostet ihnen in Essen mit einem Stauder zu, er schreibt auch ihre Gedanken auf. Er scheint reichlich von dem zu haben, wonach A sich sehnt: ein menschliches Gegenüber.
Varatharajah versucht nicht, die Tat zu verstehen oder verständlich zu machen. Dass A in schwierigen familiären Verhältnissen aufwuchs und B suizidgefährdet war, scheint so sonnenklar, dass das Buch dieses Narrativ weder hinterfragt noch groß ausbuchstabiert. Auch untersucht der Roman nicht die eigentlich doch ziemlich interessante Tatsache, dass durch das Internet heute möglich ist, was früher nur der Zufall geschafft hätte: dass zwei Menschen mit kompatiblen Pathologien einander suchen und finden können.
Der Roman will gar nichts untersuchen – diese Literatur ist wesentlich kannibalistisch. Die Wirklichkeit wird verwurstet. Zerlegt und tiefgefroren. Auf den Inhalt, ein Erkenntnisinteresse, kommt es gar nicht an. Es kommt auf die Aphorismen an, auf die Sätze, die man beim Lesen unterstreichen will, weil sie etwas Wesentliches zum Ausdruck bringen. Dass sich zwei Männer unter Pseudonym im Internet gefunden haben, ist nur der Aufhänger für Sätze wie: „Ein Name ist nur ein Name, wenn er hält, was er verspricht.“
Die True-Crime-Story ist nur der große Fleischerhaken für Gedanken. Es geht auch um Religion. Da fallen bemerkenswerte Sätze wie „Wenn ich bete, bete ich rückwärts. Ich denke an die Dinge, die ich vergessen habe, und an die, die ich vergessen haben werde.“ Es wird nicht ganz aufgeklärt, warum es um den christlichen Glauben geht – obwohl A ab und zu betet, liegt die Verbindung von A und B mit dem großen C nicht auf der Hand. Ist Christus der größte Abstand, das größte Gegenüber? Oder geht es hier um den alten, häufig für geistreich gehaltenen Einwurf, die christliche Feier des Abendmahls sei eine Art symbolischer Kannibalismus?
Evangelische Theologie hat Senthuran Varatharajah, geboren 1984, ebenso wie Philosophie und Kulturwissenschaften in Deutschland und England studiert. 2016 erschien sein Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“, der von der Kritik durchweg gelobt wurde, insbesondere für sein sprachliches Feingefühl. Die Sprache macht er selbst immer wieder zum Gegenstand von Reflexionen: Als Kind dachte er „dass Kabel die Abkürzung von Vokabel sei“, dort wo die Kabel enden, „würden die Vokabel liegen, die meinen Eltern fehlen.“ Auch die Rassismus-Erfahrung seiner Kindheit in der Sozialwohnung dreht der Ich-Erzähler durch den unbarmherzigen Fleischwolf der Sprache: „Wenn sie haut ab sagten, zog ich meine Haut ab, nachts, auf dem Bett, mit meinen Zähnen. Du weißt es.“ Der Ich-Erzähler im Buch wirkt nicht unbedingt sympathisch – oder was heißt sympathisch? Sein Leben erscheint übervoll und doch von Leere erfüllt. Viele Zigaretten, viel kosmopolitisches Herumgereise – mal ist er gerade zurück aus Paris, mal ist er in Tokio –, es gibt viele Lines vom Smartphone, viele Freunde und viele Freundinnen. Ob das nächste Buch von einem Burn-out handelt? Oder ob es sich um eine Anverwandlung handelt, ein Nachempfinden des suchenden, ruhelosen A? Schließlich fällt auch schon früh im Buch folgender Satz, gesprochen von dem unbestimmten Du, das vielleicht seine Freundin Leila ist, vielleicht Gott, vielleicht sogar der Mörder, mit dem der Ich-Erzähler bei seiner Recherche in Briefkontakt steht, vielleicht der Ich-Erzähler im Selbstgespräch: „Du musst auf den Abstand achten. Zwischen dir und dem Roman.“
Kann eine echte Beziehung nur bestehen, wenn ein Abstand gewahrt wird? Lauert da sonst der Wahnsinn in der Zuneigung? „Wir werden den Kehlkopf zerstören um den Kehlkopf zu erreichen.“ Dieser Satz kehrt immer wieder und dekliniert sämtliche Körperteile durch. Es ist, als spricht hier die Vielzahl der Dämonen in As Kopf, der B töten und aufessen wird, um ihn zu besitzen. Es ist eine Variation auf den berühmten, einem amerikanischen Offizier zugeschriebenen Ausspruch aus dem Vietnamkrieg: We had to destroy the village in order to save the village. Noch die besten Intentionen und die menschlichste Sehnsucht kippt in unmenschlichen Irrsinn um, wenn man den Bogen der Logik überspannt.
Und ist Abstand auch ein unterschätzter, großer Ermöglicher von politischer Solidarität? Auch diese Frage klingt in dem Buch an. Varatharajahs tamilische Familie floh in den Achtzigerjahren vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Leilas Familie ist kurdisch. Sind die Befreiungsbewegungen der Tamilen und der Kurden vielleicht „weit genug“ voneinander entfernt und haben „wenig genug“ miteinander zu tun, dass eine Solidarisierung vorbehaltlos möglich sein kann? Leilas Vater sagt: „Mein Sohn. Du bist Tamile. Wir sind Kurde n. Wir teilen eine Geschichte. Wir glauben an dieselbe Freiheit. Wir stoßen an.“
Es bleibt nicht aus, dass sich beim Lesen von ambitionierter und virtuos komponierter Literatur der Wunsch einstellt, auch die angerissenen philosophischen Ideen würden im Buch selbst eine Auseinandersetzung erfahren. Sie werden nur assoziativ aufgefächert. Alles ist verwurstet. Wir haben nichts in der Hand. Der Roman lässt uns vielleicht genauso frustriert zurück wie den Mörder A: Ein sehr fähiger Mensch verwendet viel Energie darauf, einen anderen Menschen zu sezieren. Aber wozu?
„Wenn sie haut ab sagten, zog ich
meine Haut ab, nachts, auf
dem Bett, mit meinen Zähnen.“
Kann eine echte Beziehung
nur bestehen, wenn
ein Abstand gewahrt wird?
Senthuran Varatharajah: Rot (Hunger).
Roman.
S. Fischer Verlag,
Frankfurt/Main 2022.
128 Seiten, 23 Euro.
Sein Debütroman „Vor der Zunahme der Zeichen“ wurde von der Kritik durchweg gelobt, vor allem für das sprachliche Feingefühl: der Schriftsteller Senthuran Varatharajah im Jahr 2019.
Foto: imago images / Horst Galuschka
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Ein Meisterwerk. Denis Scheck Lesenswert Quartett 20220413

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.07.2022

Wen man zum Fressen gern hat
Senthuran Varatharajahs provozierend brillanter Roman "Rot (Hunger)" über Liebe und Kannibalismus

Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthropophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen - das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.

Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: "Dies ist eine Liebesgeschichte". Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: "A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie - eine Geste." Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: "Sieh hin / Sieh genauer hin." Um echoartig zu wiederholen: "Sieh hin / Sieh genau hin." Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst abgebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.

Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum "Kannibalen von Rotenburg". Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.

So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal "menschliche Mechanik" genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen - so unentrinnbar wie die Schwerkraft - eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.

In dieser Maschinerie lässt Varatharajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten "Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst" endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten "du kanns/t es machen" und "ich bitte dich darum" setzt der zweite Teil ein.

Die fatale, mitunter kaum zu ertragende "menschliche Mechanik" geht bei Varatharajah mit einer hochpräzisen Mechanik des Erzählens einher. In diesem Roman herrscht größtmögliche und zudem symmetrische Ordnung. Aus zwei Hälften (A und B) besteht die Erzählung, in jeweils vierzehn Kapitel unterteilt, jedes exakt vier Druckseiten lang. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Fein ausbalancierte, kühle erzählerische Akribie, wie sie einst Goethe in "Die Wahlverwandtschaften" zum Maßstab seines Liebesexperiments machte. Nur dass man bei Varatharajah mit abermaligem Erschrecken erkennen muss, dass es sich bei der Präzision eben auch um das kalte Handwerk des Sezierens handelt.

Tatsächlich heißt "Rot" im Russischen "Mund". Jüngst hat die Dichterin Uljana Wolf im Zuge ihrer Übersetzungen von Eugene Ostashevskys Lyrik mithilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "Rot" einen poetischen Zwischenraum eröffnet. Es wirkt befremdlich, wie fern und doch zugleich nah das Poetische Varatharajahs Sprachexperiment steht: Der extreme Detaillismus lässt die Sprache von der Drastik in die Poesie wechseln und umgekehrt. Als wären beide nur um eine Haaresbreite voneinander entfernt. Als könnte die eine Sprachform sich die andere einverleiben.

Präzise Satzperioden erklingen: "Lass mich der Schatten Deiner Hand sein. Öffne meine Lippen." Aber Varatharajah ertrinkt nicht etwa in der eigenen Sprachglückseligkeit. Vielmehr stellt er die Schönheit in harten Kontrast zu Trivialitäten wie dem mechanischen Vergehen der Zeit. Auf die poetische Sentenz folgt die schlichte Angabe "Es ist Mittwoch". Um direkt wieder das Register zu wechseln: "Das Licht halbiert meinen linken Unterschenkel. Ich vergesse immer in denselben Wörtern. Einmal war ich ein Kind und betete auf einem gebrochenen Knie weil Gottes Hunger mich kannte."

Solche Fügungen wären wie das Zerreißen einzelner Wörter am Seitenrand vielleicht nur extrem gut gearbeiteter Manierismus, wenn Varatharajah nicht noch ein Kunststück gelingen würde: Mit derselben Genauigkeit und drastischen Gnadenlosigkeit entfaltet er noch eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von einem weit reisenden Schriftsteller - auf dessen Identifikation mit dem Autor des Romans legt es der Text mit einigem Aufwand an -, der schreibt und liest und letztlich vergeblich liebt. Höchstauflösung herrscht auch hier. Und die ständige Gefahr der Beziehung, in Gewalt zu kippen. Gerade weil das Paar sich schließlich getrennt hat, tritt der wiederkehrende Gedanke, sich den anderen einzuverleiben, in abermaliger Dringlichkeit auf.

Oder hat sich die geliebte Person längst in einen selbst einverleibt, weil sich die eigenen Gedanken einfach nicht mehr von ihr lösen können. Trotz aller räumlichen Distanz im Banne des anderen bleiben? Ja, dieser Roman ermächtigt sich des Denkens und Fühlens seiner Leser, als müsste er einfach nur beherzt zugreifen. Er ist aber zugleich bereit, die Wunden, die er schlägt, sorgsam zu behandeln. Als Leser sollte man sich dieses literarische Extrem in keinem Fall entgehen lassen. CHRISTIAN METZ

Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 120 S., geb., 23,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Wen man zum Fressen gern hat
Senthuran Varatharajahs provozierend brillanter Roman "Rot (Hunger)" über Liebe und Kannibalismus

Dieser Roman setzt aufs Äußerste. Wobei die Extreme sich in Senthuran Varatharajahs "Rot (Hunger)" ineinander verschlingen, als wären sie ihrerseits von unstillbarem Hunger geplagt. Oder sind sie statt im Todes- doch im Liebeskampf verschlungen? Am provokantesten an diesem Roman ist sicherlich, von der Anthropophagie zu erzählen: Eins werden durch Einverleibung des anderen - das gehört gleichermaßen zu den Sehnsuchtsfiguren der Liebe wie zu den grausamsten Angstphantasien. Ihre Faszination strahlen sie seit den antiken Erzählungen vom Verspeisen der eigenen Kinder aus (von Kronos bis Thyestes). Sie schlug sich aber zum Beispiel auch in den Vorstellungswelten brasilianischer Kolonialisten nieder.

Varatharajahs Roman betont mit seinem Untertitel die Liebesseite: "Dies ist eine Liebesgeschichte". Warum extra betont werden muss, dass es sich darum handelt? Weil der theoretisch versierte Religionswissenschaftler Senthuran Varatharajah nichts davon hält, die Anthropophagie nur als Metapher zu verstehen. Hier wird tatsächlich mit Haut und Haar verzehrt: "A legt das Messer neben sein Gesicht. / A wartet. / A betet / A setzt noch einmal die Klinge oben / an Bs Hals an über seinem / Kehlkopf wie - eine Geste." Und dann der Schnitt. Zu nah dran? Zu viel Information? Zu große Datendichte? Zu hohe Auflösung? Das ist das zweite Extrem dieses Romans. Er wagt sich vor in das Feld erzählerischer Drastik. Für den Drastiker gilt angesichts der Grausamkeit: "Sieh hin / Sieh genauer hin." Um echoartig zu wiederholen: "Sieh hin / Sieh genau hin." Noch dorthin schauen, wo andere Erzählungen längst abgebrochen haben, den Vorhang des Schweigens herunterreißen, hinter dem sich das Explizite verbirgt.

Doch es geht noch extremer: Wie bei der Beschwörungsformel des genauen Hinsehens, so handelt es sich auch bei zahlreichen weiteren eingespielten Sätzen um (bearbeitete) Zitate aus dem originalen Schriftverkehr zwischen Armin Meiwes und Bernd Jürgen Brandes. Ersteren ernannte die Boulevard-Presse ehedem zum "Kannibalen von Rotenburg". Der Dokumentarismus lädt die Lektüre des Romans mit zusätzlicher Intensität auf.

So blutig, so bestialisch, so rotten die Ereignisse auch gewirkt haben mögen; Varatharajah erzählt diese Geschichte des Verschlingens mit einem tiefen Verständnis für das, was Simone Weil einmal "menschliche Mechanik" genannt hat: Wer leidet, sucht sein Leiden mitzuteilen. Und hier kommen zwei an sich und der Welt Leidende zusammen, die plötzlich die Chance sehen, sich gemeinsam in ihrem Leid (mit)zuteilen und davon zu befreien. In Gang setzt sich mit dem Aufeinandertreffen - so unentrinnbar wie die Schwerkraft - eine Mechanik, dem Leiden zu entkommen, sich in ihm aufzuheben. Eine außerordentliche, religiösem Denken vertraute Vorstellung, die zugleich ein Gegengewicht einschließt: Die Art, wie sich hier zwei Extreme verschränken, weist die Kühle eines mechanischen Ablaufs auf.

In dieser Maschinerie lässt Varatharajah erzählerisch die Zuweisungen von Täter- und Opferrollen verschwimmen. Ist derjenige, der mit der Schuld des Verzehrens weiterlebt, der alleinige Täter? Oder ist er das Opfer desjenigen, der sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllte, von einem anderen einverleibt zu werden? Mit B.s Worten "Fahr mich zurück. Ich will, dass du mich zurückführst" endet der erste Teil des Romans. Mit der Umkehr vom Bahnhof, das Ticket nach Berlin ist schon gekauft, und den Worten "du kanns/t es machen" und "ich bitte dich darum" setzt der zweite Teil ein.

Die fatale, mitunter kaum zu ertragende "menschliche Mechanik" geht bei Varatharajah mit einer hochpräzisen Mechanik des Erzählens einher. In diesem Roman herrscht größtmögliche und zudem symmetrische Ordnung. Aus zwei Hälften (A und B) besteht die Erzählung, in jeweils vierzehn Kapitel unterteilt, jedes exakt vier Druckseiten lang. Keine Zeile zu viel, keine zu wenig. Fein ausbalancierte, kühle erzählerische Akribie, wie sie einst Goethe in "Die Wahlverwandtschaften" zum Maßstab seines Liebesexperiments machte. Nur dass man bei Varatharajah mit abermaligem Erschrecken erkennen muss, dass es sich bei der Präzision eben auch um das kalte Handwerk des Sezierens handelt.

Tatsächlich heißt "Rot" im Russischen "Mund". Jüngst hat die Dichterin Uljana Wolf im Zuge ihrer Übersetzungen von Eugene Ostashevskys Lyrik mithilfe der Vieldeutigkeit des Wortes "Rot" einen poetischen Zwischenraum eröffnet. Es wirkt befremdlich, wie fern und doch zugleich nah das Poetische Varatharajahs Sprachexperiment steht: Der extreme Detaillismus lässt die Sprache von der Drastik in die Poesie wechseln und umgekehrt. Als wären beide nur um eine Haaresbreite voneinander entfernt. Als könnte die eine Sprachform sich die andere einverleiben.

Präzise Satzperioden erklingen: "Lass mich der Schatten Deiner Hand sein. Öffne meine Lippen." Aber Varatharajah ertrinkt nicht etwa in der eigenen Sprachglückseligkeit. Vielmehr stellt er die Schönheit in harten Kontrast zu Trivialitäten wie dem mechanischen Vergehen der Zeit. Auf die poetische Sentenz folgt die schlichte Angabe "Es ist Mittwoch". Um direkt wieder das Register zu wechseln: "Das Licht halbiert meinen linken Unterschenkel. Ich vergesse immer in denselben Wörtern. Einmal war ich ein Kind und betete auf einem gebrochenen Knie weil Gottes Hunger mich kannte."

Solche Fügungen wären wie das Zerreißen einzelner Wörter am Seitenrand vielleicht nur extrem gut gearbeiteter Manierismus, wenn Varatharajah nicht noch ein Kunststück gelingen würde: Mit derselben Genauigkeit und drastischen Gnadenlosigkeit entfaltet er noch eine Liebesgeschichte. Sie erzählt von einem weit reisenden Schriftsteller - auf dessen Identifikation mit dem Autor des Romans legt es der Text mit einigem Aufwand an -, der schreibt und liest und letztlich vergeblich liebt. Höchstauflösung herrscht auch hier. Und die ständige Gefahr der Beziehung, in Gewalt zu kippen. Gerade weil das Paar sich schließlich getrennt hat, tritt der wiederkehrende Gedanke, sich den anderen einzuverleiben, in abermaliger Dringlichkeit auf.

Oder hat sich die geliebte Person längst in einen selbst einverleibt, weil sich die eigenen Gedanken einfach nicht mehr von ihr lösen können. Trotz aller räumlichen Distanz im Banne des anderen bleiben? Ja, dieser Roman ermächtigt sich des Denkens und Fühlens seiner Leser, als müsste er einfach nur beherzt zugreifen. Er ist aber zugleich bereit, die Wunden, die er schlägt, sorgsam zu behandeln. Als Leser sollte man sich dieses literarische Extrem in keinem Fall entgehen lassen. CHRISTIAN METZ

Senthuran Varatharajah: "Rot (Hunger)". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2022. 120 S., geb., 23,- Euro.

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