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Goethe meinte, es »würde einer freieren Weltsicht sehr zustatten kommen«, wenn jemand das »wahrhaft poetische Verdienst zu würdigen unternähme, welches deutsche Dichter in der lateinischen Sprache an den Tag gegeben«. Der vorliegende Band gewährt diesen »freieren« Blick. Wer sich um die späteren, oft mißverstandenen Parolen der Geniebewegung und um die fragwürdigen Kriterien von 'Volkstümlichkeit' nicht kümmert, wird hier Wege durch den Kontinent einer Literatur gebahnt finden, die lange vor 'Weimar' das große Formenprogramm der Antike in Deutschland einbürgerte. Zwanzig Autoren sind hiermit…mehr

Produktbeschreibung
Goethe meinte, es »würde einer freieren Weltsicht sehr zustatten kommen«, wenn jemand das »wahrhaft poetische Verdienst zu würdigen unternähme, welches deutsche Dichter in der lateinischen Sprache an den Tag gegeben«. Der vorliegende Band gewährt diesen »freieren« Blick. Wer sich um die späteren, oft mißverstandenen Parolen der Geniebewegung und um die fragwürdigen Kriterien von 'Volkstümlichkeit' nicht kümmert, wird hier Wege durch den Kontinent einer Literatur gebahnt finden, die lange vor 'Weimar' das große Formenprogramm der Antike in Deutschland einbürgerte. Zwanzig Autoren sind hiermit bedeutsamen Werkausschnitten versammelt - von der vorreformatorischen Zeit über die Ära der reformatorischen Kämpfe bis hin zum Späthumanismus der vorbarocken Jahrhundertwende. Die Texte sind in einer kritisch gesicherten Fassung abgedruckt und werden synoptisch von einer Übersetzung begleitet, die gerade dem Leser entgegenkommt, der mit dem Lateinischen seine Probleme hat. Besonderer Wert wurde auf einen ausführlichen, in dieser Art einzigartigen Überblicks- und Stellenkommentar gelegt. Bibliographische Hinweise dokumentieren den Stand der Forschung und laden zum Weiterlesen ein. Insofern versteht sich der Band zugleich als Anthologie und als wissenschaftliches Kompendium.
Autorenporträt
Wilhelm Kühlmann, geb. 1946, seit 1987 Prof. für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Heidelberg. Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Zahlreiche Publikationen zur deutschen Literatur des 16. bis 20. Jahrhunderts.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.1998

So ediert man Äpfelchen
Enthemmt: Humanistische Lyrik des sechzehnten Jahrhunderts

"Nil nobis peregre est difficile", auf deutsch: "Nichts, was aus der Fremde kommt, ist für uns schwierig", behauptet stolz der "Erzhumanist" Konrad Celtis. Am 18. April 1487 hatte ihn Kaiser Friedrich der Dritte in Nürnberg als ersten Deutschen mit dem Lorbeerkranz zum Dichter gekrönt; und da es mit dem poetischen Ruhm unserer Landsleute damals ganz schlecht bestellt war, beeilte der Bekränzte sich seinerseits, diesen neuen Ruhm zu rühmen, indem er eine Ode darüber verfaßte, die erste in seiner Sammlung von vier Büchern und auch die erste in diesem über eintausendfünfhundert Dünndruckseiten umfassenden "Querschnitt durch die lateinische Dichtung deutscher Autoren des sechzehnten Jahrhunderts".

Das vermessene Selbstvertrauen des Zeitalters schlägt da gleich den richtigen Ton an. Zwar hat der "poeta laureatus" auch diesen Ton von Horaz abkupfern können, aber darin besteht gerade die ausgeprägte Gegenwartshörigkeit des Humanismus: Alles, was er aus der Antike heraufholt, ist ihm nur gut als Schemel, der ihm endlich (und ihm zuerst!) einen Blick in die Weite erlaubt. Unter dem Habsburger Friedrich dem Dritten "kehrt das Goldene Zeitalter wieder", von Leben strotzend und zukunftssicher. Der es bedichtet, ist ein neuer Horaz, nicht tot seit eintausendfünfhundert Jahren, sondern gerade 28 Jahre alt! Bei der "translatio artium", dem Import der Künste und Wissenschaften aus Griechenland und Rom nach Deutschland, geht es nicht um musealen Besitz oder Nachlaßverwaltung, sondern um Rentabilisierung, denn was Griechen und Römer und die "Anwohner des Nils" und die "Bewohner des Zweistromlands" erforscht haben, tritt erst jetzt wirklich "ans Licht durch die Kunst der Deutschen, die lehrte, mit gedruckten Lettern zu schreiben" - "In lucem veniunt arte alemanica / Quae pressis docuit scribere litteris". Die Medienrevolution nicht als Bedrohung der Schreibkunst, als Inflation geistiger Werte, als Untergang der Kultur zu erleben, sondern als Entdeckung, welche die Deutschen mit einem Schlag auf das kulturelle Niveau der antiken Vorbilder (und ihrer überheblichen welschen Direkterben) katapultiert, zeigt einen tiefen Wesenszug der Epoche.

Dieser fünfte Band in der Abteilung "Literatur im Zeitalter des Humanismus und der Reformation" wird dem hohen Anspruch gerecht, eine "Annäherung an das literarische Leben einer fernen Epoche zu ermöglichen". In der Tat ist die Epoche fern, sie liegt ein halbes Jahrtausend zurück, und wenn sie uns trotz allem noch nahesteht, dann vor allem deshalb, weil sie den Schritt vom Lateinischen zum Deutschen gemacht hat, nicht nur in Luthers Bibelübersetzung, sondern auch in der publizistischen Literatur, zum Beispiel bei Ulrich von Hutten: "Latein ich vor geschriben hab: das war eim yeden nit bekanndt." Doch wie ungeschickt sind die deutschen Versuche der gelehrten Dichter! Welche Opfer sie bringen mußten, läßt sich erst richtig ermessen, wenn man liest, mit welcher Eleganz, welchem Reichtum der Sprache, welcher Tiefe der literarischen Tradition sie Latein schrieben.

Wilhelm Kühlmann und Hermann Wiegand haben bei ihrer Auswahl eine außerordentlich glückliche Hand bewiesen und tatsächlich einen chronologisch, thematisch und formal begründeten Querschnitt geboten, der nur in einer Hinsicht nicht repräsentativ ist: Die ausgewählten Texte besitzen durchweg eher überdurchschnittliche dichterische Qualität und Originalität. Drei große Autoren um das Jahr 1500 machen den Anfang: Konrad Celtis, Heinrich Bebel und Ulrich von Hutten; es folgt eine Gruppe von sechs Autoren um Melanchthon, welche die Reformation und den Bauernkrieg bewußt erlebt haben; weitere neun Autoren lebten hauptsächlich nach jenen großen Unruhen und zum Teil bis gegen Ende des Jahrhunderts, unter ihnen Paul Schede-Melissus, von Ferdinand dem Ersten gekrönt. Daß unter den zwanzig Auserwählten auch berühmte Namen fehlen, vermerken die Herausgeber selber. Vielleicht hätten sie dem Leser einen Gefallen erwiesen, wenn sie der Tendenz zum "Handbuch" noch einen Schritt weiter gefolgt wären und weitere zehn bis fünfzehn Namen bedeutenderer Autoren, wie zum Beispiel Sebastian Brant oder Herrmann von dem Busche oder Joachim von Watt, kurz vorgestellt und eingeordnet hätten, ohne Proben aus ihrem Werk zu geben.

Die biographischen Skizzen und die Sacherklärungen zu den einzelnen Texten sowie die reichhaltige und geschickte bibliographische Auswahl vor allem der jüngsten Literatur sind unentbehrliche Begleiter der Lektüre und eine besondere Stärke des Bandes. In ihrer kurzen Einführung wehren die Herausgeber einige traditionelle Vorwürfe gegen die humanistische und neulateinische Poesie ab. Das ist heute leichter geworden, denn was man unlängst noch als epigonal gebrandmarkt hätte, darf sich nun seiner Intertextualität erfreuen. So läßt sich wohl etwas steif, aber zu Recht behaupten, diese Poesie sei auch "Hervorbringung der ihre eigene Identität im Akt des Schreibens gewinnenden modernen Persönlichkeit". Sie sorgt sich vor allem um ihre Nachwelt: Helius Eobanus Hessus widmet ihr ein Gedicht und erzwingt schon damit seine Rolle in ihr; Celtis schreibt, gar nicht bescheiden, an Reuchlin: "durch meine lyrischen Verse wirst du für alle Zeit einen Namen haben".

Aber wenn sie sich auch oft antik gebärden, so sind diese Poeten doch keine Heiden. In Melanchthons Umkreis war die literarische Bildung in den Dienst der Frömmigkeit gestellt worden, einer litterata pietas. Georg Fabricius (1516 bis 1571), der langjährige Rektor von St. Afra in Meißen, setzt sein ganzes Talent daran, die spätantike Tradition für den lutherischen Protestantismus fruchtbar zu machen. Trotz ihrer unbezweifelbaren Frömmigkeit pflegen die Dichter Umgang mit den "Göttern." Petrus Lotichius Secundus beklagt den bevorstehenden Tod seiner Geliebten in Montpellier ganz ohne christlichen Trost, wünscht er ihr doch nicht etwa das ewige Leben, sondern: "In Frieden möge deine Asche ruhen . . . und als Wächterin möge an deinem Grabmal Venus sitzen!"

Diese Venus hält einen besonders bemerkenswerten Einzug ins christliche Abendland: Wenn denn nichts Fremdes für uns schwierig ist, dann auch nicht die Schlüpfrigkeiten eines Catull! Der Erzhumanist Celtis warnt zwar mit groben Worten vor den üblen welschen pädophilen Sexualpraktiken, um dann um so entflammter davon zu schwärmen, wie er Hasilinas zarte Äpfelchen umfaßte und sich bald in ihren lieblichen Schoß versenkte. Noch zugreifender ist Simon Lemnius aus dem Münstertal in seiner zweiten Elegie an Flavia. Mit Begeisterung gibt er der Obsession nach Wiederholung des Glücks dichterisch nach, und wir verdanken ihm die gar nicht zimperliche Beschreibung einer Art von Proto-Striptease. Das Lateinische hatte hier wohl eine besonders enthemmende Wirkung - hätte dieses Bündner Bauernkind so etwas in seiner Muttersprache sagen können oder zu sagen gewagt?

Diese Frage stellt sich aus anderen Gründen allerdings grundsätzlich bei vielen der hier versammelten Texte. Wenn man sich nach ein paar Dutzend Seiten auf die eigene Weltperspektive dieser jungen Epoche eingestellt hat, dann ist man immer wieder überrascht, mit welchem Scharfsinn und mit welcher Klarsicht, aber auch mit welcher Parteilichkeit und unter welcher Last von Tradition hier unter dem Vorwand poetischer Muße die Realität eines Zeitalters erarbeitet wird. Konrad Celtis träumt den Traum vom kaiserlichen Frieden, der "aetas aurea Austriaca", und geißelt das böse hussitische Ketzertum, er zeichnet Landschaften, Städte und Flüsse, den Besuch in einem berühmten polnischen Salzbergwerk, er stopft seine Beschreibung Lapplands mit Lesefrüchten aus der gerade von ihm selber herausgegebenen "Germania" des Tacitus und macht sich als ein früher Jules Verne zu einer Seefahrt nach Thule auf. Einen besonderen Blick in die Wirklichkeit erlauben die vielen Nachrufe auf berühmte verstorbene Zeitgenossen: Durch die Gemeinplätze hindurch sehen wir Menschen. Eobanus Hessus erhebt in seinem langen Nachruf auf Dürer, am Tage nach dessen Tod geschrieben, den Zeitgenossen über den antiken Apelles und behauptet von ihm, daß er Seelen malen konnte (Animos quoque pinxit): "Nicht stirbt, wer Denkmäler seines Geistes zurückläßt und das Lob der Nachwelt erntet."

Die humanistische Dichtung in lateinischer Sprache fand auch schon zur Zeit der Blüte des sogenannten humanistischen Gymnasiums nur wenige Leser. Heute darf man davon ausgehen, daß so gut wie niemand mehr lateinische Poesie lesen kann, wenn er nicht beruflich damit umzugehen gelernt hat. Die Übersetzung dieser Literatur ist darum für die meisten der einzige Weg zu ihr. Die hier vorgelegten durchweg neu erarbeiteten Übersetzungen "sollen dem elementaren Verständnis des lateinischen Wortlauts dienen und erheben keinen künstlerischen Anspruch", schreiben die Herausgeber, aber schon nach wenigen Seiten empfindet man Bewunderung für diese einzigartige Leistung, Genauigkeit mit Eleganz zu verbinden. Besonders hervorzuheben ist die feine Rücksicht auf persönliche, thematische und gattungsgebundene Eigenschaften der Gedichte. Man merkt es den Übertragungen an, daß sie das Ergebnis sorgfältiger und geduldiger Zusammenarbeit sind. HANS-HERBERT RÄKEL

"Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts". Lateinisch und deutsch. Hrsg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1997. 1590 S., geb., 198,- DM.

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