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Baukastenformat
Wäis Kianis kaum überzeugendes
Romandebüt „Hinter dem Mond“
Die Reise könnte weit führen. Die Neunjährige, die da auf dem harten Rücksitz eines nagelneuen Volvo 144 sitzt und seit fast einer Woche schon in den Nacken ihrer Eltern starrt, Vater am Steuer, Mutter nebenan, ist unterwegs in eine ihr fremde Welt. Jugoslawien, Bulgarien, dann die türkischen Dörfer: Die Eltern haben beschlossen, aus Ostfriesland in den Iran, ihr Herkunftsland, zurückzukehren. Wir sind im Jahr 1974. Die kleine Lilly findet das gar nicht toll. Tatsächlich kommt sie dann in Teheran mit dem Druck der orientalischen Familienkonvention, mit dem Vorzeigen des Reichtums, mit den neuen Lehrern, den Leuten überhaupt und mit dem Stadtleben zwischen Prunk und Misere schwer zurecht.
Die in Deutschland Geborene hätte aber der einen oder anderen Person begegnen können, die bei ihr neue Denkprozesse auslöst, sie hätte in der Reibung zwischen den Kulturen auch ein paar positive Erfahrungen machen können. Wir erwarten heute ja keine Bildungsromane mehr, doch ein paar Entwicklungsansätze einer Heranwachsenden sind nicht verboten. Nichts dergleichen in diesem Roman. Die Heldin, die am Schluss des Romans mit dem Vater nach Deutschland zurückkehrt, ist sieben Jahre älter geworden, ist aber immer noch Bravo-Leserin und führt weiter ihre „Hey, Mann!“-Floskeln im Mund.
Der Schah ist inzwischen gestürzt, die islamische Revolution hat begonnen, Lilly musste mit ihrer Mutter ins Billigwarenhaus zum Tschador-Einkaufen, an der Schule ist mit Fahrradständern die Absperrung zwischen Jungen und Mädchen markiert worden. Das alles sind aber nur Randereignisse, die dem Mädchen ein paar zusätzliche „Was für ’n Scheiß“-Flüche entlocken. Wir bleiben auf Augenhöhe zu einer Teenagerin mit ihrem Rotznasensound. Hinter dem Mond ist hinter dem Mond, ob nun unter dem Schah oder unter Chomeini. Schon vor dem Regimewechsel sind die Gebetsrufe über der Stadt für die Kleine nichts als penetrantes Alla-oh-Akbar-Gejaule.
Abgesehen davon stören auch gar keine einheimischen Geräusche, keine Gerüche, keine Bilder, keine besonderen Verhaltensweisen der Schulkameraden diesen Roman. Er kommt aus mit dem Wahrnehmungshorizont der Heldin, mit dem Komfort der Elternvilla, den aus London oder von sonstigen Urlaubsreisen mitgebrachten T-Shirts und Musikkassetten.
Auch interessante Figuren gibt es keine in diesem Buch. Lillys Mutter ist eine Schablone aus Unterordnung, Gehässigkeit und missglückten Befreiungsversuchen. Der Vater, ein Kinderarzt, wechselt zwischen Abwesenheit, Gleichgültigkeit und plötzlichem Herumschreien. Großeltern, Onkel, Tanten oder die mitunter auftauchenden Lehrer bleiben Kulisse, die Mitschüler sind Entlehnungen aus der gängigen Jugendliteratur.
Verkleistert wird das alles mit Anekdoten aus lebendigen oder gerade verendeten Küken, einem ins Monumentale gewachsenen Zwergkaninchen, mit zu klein gewordenen BHs, Schülerstreichen, ersten Schmusereien und einem in die Hose gegangenen Selbstmordversuch. Den Takt dazu schlagen die wiederholten Zeitangaben „nach den Sommerferien“, „zwei Tage später“, „Ende Oktober“, „am nächsten Morgen“.
Bei der Rückkehr nach Deutschland betrachtet die Heldin im Anflug auf Frankfurt unter sich die sauber angeordneten Häuser, Straßen, Parkplätze, Laternen: „eine perfekte Märklin-Landschaft“. Da will sie sein, da ist sie zu Hause, nicht im zermürbenden Chaos Teherans. Sollte durch diesen Schluss in der Figur doch noch ein ironischer Knick sichtbar werden? Er wäre durch fast vierhundert Seiten Anekdote flachgedrückt.
Eine „Rebellin“ verheißt der Klappentext des Buchs. Mag sein: eine im Baukastenformat. Die Autorin, die hier ihre eigene Jugend verarbeitet hat, mag als Journalistin anregende Kolumnen und Reportagen schreiben. Eine Romanautorin ist sie, diesem Debüt nach zu schließen, offensichtlich nicht.
JOSEPH HANIMANN
Wäis Kiani: Hinter dem Mond. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg, 2012. 383 Seiten, 22,99 Euro.
Eine Heldin, die sich jeder
Erfahrung verweigert, weckt
wenig Interesse beim Leser
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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