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Und gegretelt: Sibylle Berg schreibt ein Märchen für uns alle
Als sich eine Frau mittleren Alters einmal so richtig austobte und den Leuten sagte, was ihr alles nicht gefiel, die Sonntagnachmittage nicht und das Elend und die Männer schon gar nicht und auch nicht die Art, wie bei uns die Leute über die Straße gehen, da stutzte sie auf einmal und dachte: "Wenn man ein Buch nur über die schlechten Seiten des Lebens schreibt, dann wird es irgendwann ein bißchen langweilig, und traurig wird es auch." Und so gab sie ihrem Buch den Titel "Ende gut" und erfand einen schönen Schluß, in dem eine Frau mit einem untersetzten Prinzen zufrieden am Rande der Welt lebt. Die Leser wunderten sich: "Das stimmt doch gar nicht. Man kann nicht einfach wegfahren und glücklich werden." Aber die vorher so mißgelaunte Frau Berg hatte Gefallen an ihrer Idee gefunden, und als sie daranging, ein neues Buch zu schreiben, dachte sie bei sich: "Ich will den Leuten eine Freude machen und ein Märchen erzählen."
Und so begann sie von zwei Kindern zu erzählen: Anna und Max, die beide nur Vater oder Mutter hatten und auch von diesen nicht besonders gemocht wurden. Annas Mutter dachte immer nur an ihren Alkohol, und der Vater von Max wollte nicht mit ihm sprechen. Niemand kümmerte sich um die Kinder, die eigentlich gar keine richtigen Kinder mehr waren, sondern groß genug, um sich über das graue Land, in dem sie lebten, Gedanken zu machen. Anna wünschte sich, daß es einmal richtig warm in ihrer Wohnung würde und die Geschäfte bunte Kleider in den Auslagen hätten, und sie fand es komisch, daß eine Mauer um ihr Land gezogen war. Max dachte über sich selber nach, wie seltsam es sich anfühlte, erwachsen zu werden, und wie traurig das Leben ohne einen Freund war.
Als sich aber Anna und Max eines Tages begegneten, freuten sie sich von Herzen und beschlossen, zusammen wegzulaufen. Sie wollten vor ihren Eltern fliehen, aus dem grauen Land und aus dem dummen, engen Leben. Da sie aber fast noch Kinder waren und Kinder eigentlich nicht alleine durch die Welt reisen, mußten sie gut aufpassen. Ein Lastwagenfahrer schmuggelte sie über die Grenze. Eine alte Frau und ihr dicker Mann lockten die beiden in ihr Haus. Sie sperrten sie dort ein, gaben ihnen mächtig zu essen und ließen sie hart arbeiten. Aber die Kinder waren schlau und befreiten sich, wann immer sie eingefangen wurden. Nur mutig mußten sie sein und ganz fest zusammenhalten. Aber das war nicht so leicht, denn sie trafen auf ihrem Weg einen wunderschönen Jungen, der Anna mit seinen großen Augen ansah, und je länger sie zurücksah, desto trauriger wurde Max. Sie kamen durch eine glitzernde Stadt, aber sie wollten weiter, immer weiter bis ans Meer.
Frau Berg hatte bei sich gedacht: "Ich schreibe ein modernes Märchen. Ich lasse Anna und Max ihre Geschichte selbst erzählen, flapsig sollen sie reden und sich immer abwechseln." Aber es ist natürlich nicht leicht, sich in ein Kind zu verwandeln, und noch schwieriger ist es, wie zwei verschiedene Kinder zu sprechen. Deshalb merkt man auch, daß eigentlich immer dieselbe Frau erzählt. Auch weiß sie viele Sachen über die längst versunkenen Länder und darüber, wie es ist, wenn man langsam erwachsen wird, lauter Sachen, die Kindern meistens gar nicht auffallen. Aber das macht nichts. Man hört ihr trotzdem gerne zu. Denn sie erzählt immer noch von der bösen, schrecklichen Welt, aber auch davon, wie man mit ein bißchen Glück und Verstand den Gefahren trotzt. Und warum soll man nicht hoffen dürfen, wenigstens auf das gute Ende einer kleinen Geschichte?
SANDRA KERSCHBAUMER
Sibylle Berg: "Habe ich dir eigentlich schon erzählt . . . Ein Märchen für alle". Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 174 S., br., 7,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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