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In dieser rabenschwarzen Satire führt Elsner eine Gruppe von Kindern vor, die in den Trümmerlandschaften, die die Bombenangriffe in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges hinterlassen haben, regelrecht aufblühen. Im Gegensatz zu den Erwachsenen begrüßen die Kinder die Bombenangriffe, verschaffen diese ihnen doch immer neue Abenteuerspielplätze. In ihren Spielen imitieren die Kinder auf makabere Weise die Prinzipien und Strukturen des NS-Staates. Sie bezichtigen ihre Eltern der Feigheit, wobei sie selbst "hart wie Leder, zäh wie Kruppstahl" sein wollen. Doch bald bemerken die Kinder, dass…mehr

Produktbeschreibung
In dieser rabenschwarzen Satire führt Elsner eine Gruppe von Kindern vor, die in den Trümmerlandschaften, die die Bombenangriffe in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges hinterlassen haben, regelrecht aufblühen. Im Gegensatz zu den Erwachsenen begrüßen die Kinder die Bombenangriffe, verschaffen diese ihnen doch immer neue Abenteuerspielplätze. In ihren Spielen imitieren die Kinder auf makabere Weise die Prinzipien und Strukturen des NS-Staates. Sie bezichtigen ihre Eltern der Feigheit, wobei sie selbst "hart wie Leder, zäh wie Kruppstahl" sein wollen. Doch bald bemerken die Kinder, dass ihnen für das authentische Nachstellen der NS-Zeit noch etwas Entscheidendes fehlt: ein KZ und ein "Jude". FLIEGERALARM ist der letzte zu Lebzeiten erschienene Roman von Gisela Elsner, die damit bereits 1989 einen Beitrag zu der erst zehn Jahre später einsetzenden Debatte um den Bombenkrieg in der deutschsprachigen Literatur leistete. Nach zwanzig Jahren erscheint dieser bedeutende Text, der bei seinem Erscheinen 1989 gänzlich missverstanden und fehlinterpretiert wurde, erstmals wieder im Rahmen der Gisela-Elsner-Werkausgabe. Die Herausgeberin Christine Künzel hat den Text auf der Grundlage des Typoskriptes letzter Hand überprüft.
Autorenporträt
GISELA ELSNER wurde 1937 in Nürnberg geboren, 1992 nahm sie sich das Leben. Für ihr Werk erhielt sie etliche internationale Auszeichnungen, darunter den Prix Formentor für ihren ersten Roman Die Riesenzwerge. Sie veröffentlichte acht Romane (u.a. Abseits, Der Nachwuchs, Der Punktsieg, Das Windei), Erzählungen, Aufsätze, Hörspiele und das Opernlibretto Friedenssaison. Seit 2002 erscheint eine von Christine Künzel betreute Werkschau im Verbrecher Verlag Berlin. Im Verbrecher Verlag erschienen: Das Berührungsverbot, Roman (2006) Die Zähmung, Roman (2002) Heilig Blut, Roman (2007) Otto, der Großaktionär, Roman (2008)
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.02.2010

Was die Bombensplitter säten

Psychodynamik des Totalitarismus: Gisela Elsners nun wiederveröffentlichte Moritat "Fliegeralarm", entstanden wenige Jahre vor ihrem Tod, lädt zu einer Neubewertung ein.

Gisela Elsner hat das Buch "Fliegeralarm" in nur acht Tagen und Nächten geschrieben. Dabei rührte sie an einen autobiographischen Punkt, den selbst diese in der Selbstzerfleischung unvergleichliche Autorin nach einer Pause womöglich nicht wiedergefunden hätte. So entstand eine wie in Stein gehauene Groteske, eine stilistisch atemberaubende und in ihrer Konsequenz erschütternde Fratze vom Treiben einer Kindergruppe, die in der letzten Phase des Zweiten Weltkriegs, zur Zeit der Luftangriffe auf Nürnberg, ein anderes Kind seelenruhig zu Tode quält.

Mit ihrem zarten Alter unterbieten die Kinder selbst Gottfried Kellers Marli und Vrenchen, die in "Romeo und Julia auf dem Dorfe" wissbegierig eine Puppe auseinandernehmen. Dass Elsners Protagonisten einen Menschen und keine Puppe in der Gewalt haben, führt zwar zu Albträumen, dringt aber kaum in ihr Bewusstsein vor. Im Krieg geboren und seine Geschöpfe, nutzen die nach der Autorin benannte Ich-Erzählerin Lisa Welsner, ihre Freundin Gaby, ihr "Mann" und dessen fünf "SS-Männer" die Freiheit des Vorschulalters, um eine phantasmagorische Parallelwelt aufzubauen. Mit einer unheimlichen Mischung aus Frühreife und Naivität nehmen sie die NS-Ideologie beim Wort, bespitzeln ihre Eltern und inszenieren in den Trümmern ausgebombter Siedlungshäuser den totalen Staat. Elsner konzipiert sie als sinnlich stumpfe, durch Radio und Wochenschau geformte Wesen, die von den heroischen Parolen des Nürnberger Parteitags und der Frontberichterstattung restlos berauscht sind.

Trotz unbedingter Identifikation mit den Riten und dem dämonischen Weltbild des NS-Regimes zeichnet die Kinder ihr Wissensdurst aus. Obwohl sie nicht herausfinden können, was ein Konzentrationslager ist, beschließen sie, eines zu gründen, und durchforsten zu diesem Zweck ihre Siedlung nach optisch eindeutigen "Untermenschen". Schließlich fallen sie über Rudi Tründel, den Sohn eines deportierten Kommunisten, her, der sich der herrschenden Logik gemäß automatisch als Jude und KZ-Insasse qualifiziert. Verblüffung erzeugt zunächst nicht nur sein arisches Aussehen, sondern auch sein detailliertes Wissen über die Zustände in NS-Lagern. Als ihm dabei Ausdrücke wie "Hure", "Zuhälter" und "Sittlichkeitsverbrecher" locker von der Zunge gehen, vergisst die selbsternannte "Gestapo" zeitweise ihre Absichten und fragt ihn Löcher in den Bauch. Doch während für Freud hinter allem kindlichen Fragen noch das weite Reich der sexuellen Neugier stand, ist es hier auf puren Sadismus reduziert. Die Doktorspiele der Bande sind geradezu klinisch davon besessen, endlich den Untermenschen in ihrem Opfer aufzuspüren. Wo immer bei Elsner der Trieb aufflackert, tritt er in den Dienst des vivisezierenden Experiments.

So wenig Empathie die Kinder für den gleichaltrigen Rudi aufbringen, so emotionslos verhalten sie sich auch gegenüber ihren Eltern, die in groben Zügen als Sadisten, Zyniker, skrupellose Geschäftemacher oder jämmerliche Angsthasen gezeichnet sind. Doch in ihrer Gefühlskälte ist die Kinderbande auch ein Zerrbild der Entstehungszeit von "Fliegeralarm". Das langjährige KPD-Mitglied Gisela Elsner reflektiert die achtziger Jahre in der routinierten Kapitalisierung aller Verhältnisse: Lisa und ihre Gefährten treiben lebhaften Handel mit Hustensaft, hölzernen Beinprothesen und russischen Kugeln, die Gabys Vater frontversehrten Soldaten aus dem Fleisch operiert hat. Selbst die wechselseitigen Ruinenbesuche lassen die Kinder sich in Form ihrer Bombensplitterwährung bezahlen. Herrschaftswissen und Kapital sind die Mächte, um die sich für die Vier- und Fünfjährigen alles dreht. Dabei wirkt die Unerschütterlichkeit, mit der sie nicht nur andere, sondern auch sich selbst im Namen von Führer und Endkampf misshandeln, als wäre sie schon von den virtuellen Heldenleben geprägt, die sich dem Netznutzer heute eröffnen. Die Identifikation mit dem Wahnkonstrukt ist so vollkommen, dass Schmerzen keine Rolle spielen und alle Selbsterhaltungsinstinkte versagen. Bei Elsner allerdings ist das hypnotische Medium noch keine Cyberwelt, sondern die Sprache, der litaneihafte Erzählton, in dem Lisa unermüdlich die ideologischen Klischees herbetet, durch die sie ihre Rolle verortet.

Als nur bedingt programmierbar erweist sich allein ihr kleiner Bruder Kicki, den der Konflikt zwischen Mitleid und geltender Untermenschenlehre fast zerreißt. Er berichtet seiner Mutter vom Aufenthaltsort und Zustand des vermissten Kindes, das die Älteren nie Rudi, sondern nur "unseren Juden" nennen. Doch der Mutter fehlen die nötige Geistesgegenwart, Phantasie und Zivilcourage, um dem "Märchen" nachzugehen. Wäre Kicki nicht, so müsste man Elsners Kinder als reine Buchstabenwesen aus dem Register der Übermenschenphilosophie bezeichnen. Durch ihn hält der Schmerz darüber Einzug ins Buch, dass Buchstaben und Worte nicht nur sehr lebendig werden, sondern auch schnell töten können. Gisela Elsner machte sechs Jahre nach diesem weitgehend an ihrer Kindheit orientierten Prosamanifest ihrem Leben ein Ende.

So ziemlich alles, was über die Psychodynamik des Totalitarismus ans Licht gekommen war, ging auf die eine oder andere Weise in ihre Moritat ein. Die Protagonisten sind im mythologischen Sinn die Frucht der Bombensplitter. Dass ihre Eltern, die es noch besser wissen konnten, diese Saat aufgehen lassen und kultivieren, hat Elsner zum Gegenstand all ihrer Bücher gemacht. Als "Fliegeralarm" 1989 erstmals erschien, wurde dieses ungeheure und schwer erträgliche Werk im Geiste von Musil, Weiss, Köppen, Bernhard und Jelinek allerseits verrissen. Nun hat der Verbrecher Verlag den Text ohne die vormaligen Druckfehler gemäß dem Manuskript letzter Hand neu aufgelegt. Damals hat das exzentrische Auftreten der Autorin der Rezeption von "Fliegeralarm" eher im Wege gestanden; heute ist man vielleicht eher bereit, das schriftstellerische Werk nicht als Teil ihrer Theatralik, sondern die Theatralik als Teil ihres Werkes zu sehen.

INGEBORG HARMS

Gisela Elsner: "Fliegeralarm". Roman. Hrsg. von Christine Künzel. Verbrecher Verlag, Berlin 2009. 282 S., geb., 14,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ingeborg Harms findet es an der Zeit, die Romangroteske "Fliegeralarm" von Gisela Elsner, die bei ihrem Erscheinen 1989 von der Kritik einstimmig verrissen wurde und nun vom Verbrecher Verlag neu aufgelegt worden ist, einer neuen Begutachtung zu unterziehen. Die Autorin lässt darin eine Gruppe von 4- bis 5-Jährigen in den letzten Jahren des Zweiten Weltkrieges einen Gleichaltrigen umbringen. Begründet ist das äußerst sadistische und mitleidslose Vorgehen der Bande mit der von den Kindern absolut internalisierten Nazi-Ideologie, erklärt die Rezensentin, die hier eine beeindruckende und beklemmende Darstellung der "Psychodynamik des Totalitarismus" bewundert. Zugleich aber lasse Elsner - sie war langjähriges Mitglied der KPD und nahm sich 1992 das Leben- Erfahrungen der Entstehungszeit des Romans einfließen, indem sie die "routinierte Kapitalisierung", die sie an ihrer Gegenwart beklagte, auch in der Kinderbande thematisiert, so die Rezensentin. Harms hofft, dass die Neuauflage, die die Druckfehler der Erstausgabe getilgt und sich eng an die Fassung des Manuskripts gehalten hat, es Lesern ermöglicht, nicht mehr durch das zu Lebzeiten "exzentrische Auftreten" Elsners abgelenkt, zu einer unvoreingenommeneren Beurteilung dieses Werks zu gelangen.

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