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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Sascha Reh bringt Chaos auf die Romanbühne
So einen wie Lothar Lotmann dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben, seit die Theaterrabauken vom Schlage eines Klaus Kinski ausgestorben sind. Auch ihm selbst, dem einst so erfolgreichen Schauspieler und Regisseur, schwant, dass sein persönliches Drama mit dem Theater der Gegenwart nicht mehr kompatibel ist. Nicht nur, weil das Alter ihn plagt, er durch Krebs impotent geworden ist, das Saufen tiefe Spuren hinterlassen hat und seine Frau sich scheiden lassen will. Sondern vor allem, weil er der Welt noch immer lautstark entgegengrölt, dass man "sich nicht verbiegen lassen" dürfe. Weil alle Zeichen auf Abgang stehen, will Lotmann noch einmal den "Tasso" inszenieren, quasi als letzten Triumph über einen Betrieb, der ihn ganz offensichtlich nicht mehr braucht.
Doch es geht nicht nur um Lothar Lotmann in Sascha Rehs beeindruckendem Romanerstling "Falscher Frühling". Zwar hinterlässt der alte Kraftprotz die stärkste Duftnote im Roman des 1974 geborenen Autors und Therapeuten, doch sind Lotmanns Frau, die Bühnenbildnerin Emilie, und seine Tochter, die etwas orientierungslose Franziska, in gleicher Weise an dieser literarischen Familienaufstellung beteiligt. In ihr prallen während einer Nacht des trügerischen Frühlingserwachens die Wünsche und Lebensentwürfe mehrerer Personen dramatisch aufeinander.
Zunächst brüskiert Lotmann eine TV-Talkrunde, er wird von seiner Vollzeitgeliebten für immer verabschiedet, streitet mit einem jungen Schwulen über Sinn und Unsinn des Theaters und verwickelt sich immer rettungsloser in sein habituelles Alphatiergehabe. Just in dieser Nacht macht sich seine Frau Emilie auf zu einem langersehnten Rendezvous mit ihrem alten Studienkollegen, dem Therapeuten Philipp, das unweigerlich seiner Erfüllung in einem Hotelzimmer entgegenzuschummern scheint. Ihre gemeinsame Tochter Franziska hingegen, vernachlässigtes Theaterkind und nebenbei Programmiererin für das Internetspiel "Second Life", begegnet dem abgebrochenen Studenten Ruben, der zwar ein empfindsamer Beobachter ist, aber ebenso wie sie keine Dramaturgie für sein Leben zuwege bringt. Während sich die Ereignisse für die Hauptfiguren zuspitzen, schweifen die Erinnerungen zurück in die siebziger Jahre, als Lothar und Emilie mit einem klapprigen Ford Taunus nach Italien fuhren, um ein Konzept für "Emilia Galotti" zu entwickeln, und bei der Rückkehr erfuhren, dass "das Kollektiv" am Theater lieber Brecht spielen wollte. Gemeinsame und individuelle Erfolge und Niederlagen wechselten einander ab. Im Hintergrund der Bühnenhandlung fanden die Attentate der RAF statt. "Schleyer und Stammheim und Mogadischu" verhagelten Lothar sogar eine Theaterpremiere, ebendie des "Kaukasischen Kreidekreises".
Jeder Charakter in diesem Roman ist für sich überzeugend: der jähzornige Lothar, die stille Emilie, die unsichere Franziska, der sanfte Philipp und nicht zuletzt Lothars Antipode Dankwart. An ihm arbeitet sich Lothar beharrlich mit seiner Idee vom "Tasso" ab. Denn der so viel erfolgreichere Dankwart, auch er ein Freund aus alten Tagen, ist sich zu schade dafür, in der Inszenierung die Rolle des "Machtmenschen" Antonio zu übernehmen, die ihm Lothar verachtungsvoll auch im wirklichen Leben zuschreibt. Sascha Reh schafft es mit viel psychologischem Fingerspitzengefühl, die menschlichen Verfilzungen seines Milieus zu schildern, ohne eine einzige seiner Figuren bloßzustellen. Dabei bilden die von den Protagonisten inszenierten Theaterstücke einen vielschichtigen Resonanzboden für die Handlung.
Rehs Roman ist ein leidenschaftliches und humorvolles Plädoyer für die Lebendigkeit des Theaters - und ein Beweis für die suggestive Kraft der erzählenden Literatur.
JUDITH LEISTER
Sascha Reh: "Falscher Frühling". Roman. Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2010. 368 S., geb., 19,95 [Euro].
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Judith Leister, FAZ