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Fünfzig Jahre sind vergangen, seit er als Kind mit seiner Familie nach Dresden gezogen ist, das er 1985 wieder verlassen hat. Nun kehrt Kurt Drawert als Stadtschreiber nach Dresden zurück, wo die Mutter lebt, eine Stadt, die ihm vertraut und doch ganz unvertraut ist. Er ist auf der Suche nach etwas, von dem nur er weiß, dass es ihm fehlt. Die Schönheit und die Wunden dieser Stadt, die Risse in der Familie und in der eigenen Biografie, das schwierige Verhältnis zum Vater und den Brüdern, die politisch aufgeladene Stimmung in Dresden, die offenen Fragen nach Tätern und Opfern, in der großen wie…mehr

Produktbeschreibung
Fünfzig Jahre sind vergangen, seit er als Kind mit seiner Familie nach Dresden gezogen ist, das er 1985 wieder verlassen hat. Nun kehrt Kurt Drawert als Stadtschreiber nach Dresden zurück, wo die Mutter lebt, eine Stadt, die ihm vertraut und doch ganz unvertraut ist. Er ist auf der Suche nach etwas, von dem nur er weiß, dass es ihm fehlt. Die Schönheit und die Wunden dieser Stadt, die Risse in der Familie und in der eigenen Biografie, das schwierige Verhältnis zum Vater und den Brüdern, die politisch aufgeladene Stimmung in Dresden, die offenen Fragen nach Tätern und Opfern, in der großen wie in der persönlichen Geschichte, und die Suche nach einer Sprache dafür, sind Themen und Motive in diesem dichten, autobiografischen Roman.
Mit Witz und Feingefühl, mit einem Gespür für die einschneidenden Augenblicke und prägenden Konflikte im Familienleben, einem scharfen Blick für das Detail, mit bissig-analytischem Verstand, unvergesslichen Erinnerungsbildern und großer Sprachkraft erzählt Kurt Drawert von Verwerfungen und Sehnsucht, Wünschen und Brüchen im eigenen Leben und ihrer Verortung in dieser Stadt.
Autorenporträt
Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf bei Berlin, lebt als Autor von Lyrik, Prosa, Dramatik und Essays in Darmstadt, wo er auch das Zentrum für junge Literatur leitet. Für seine Prosa wurde Drawert ausgezeichnet u. a. mit dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Uwe-Johnson-Preis, dem Ingeborg-Bachmann-Preis und dem Werner-Bergengruen-Preis, für seine Lyrik u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis, dem Lyrikpreis Meran, dem Nikolaus-Lenau-Preis, dem Rainer- Malkowski-Preis, zuletzt mit dem Robert-Gernhardt- Preis 2014. 2017 erhielt er den Lessingpreis des Freistaates Sachsen und war 2018 Dresdner Stadtschreiber.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Jörg Magenau erkennt in Kurt Drawerts neuem Buch ein Dokument des Schmerzes und der Schuld, einen Text über den Zusammenhang von Körper, Sprache und Geschichte. Gewaltig erscheint ihm, wie Drawert, als Stadtschreiber aus dem Westen zurückgekehrt nach Dresden, die eigene Familiengeschichte mit der DDR-Geschichte und einer Betrachtung ostdeutscher Verhältnisse heute zu einem essayistischen Bericht von allgemeiner Gültigkeit vereint. Dass der Autor nicht von außen spricht, sondern als einer, dem die Kategorien Ost und West fragwürdig geworden sind, verbucht Magenau als Gewinn für den Leser. Genauigkeit der Beobachtung, Belesenheit sowie der Verzicht auf einfache Einsichten prägen das Buch, verspricht Magenau.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2020

Die Maschine arbeitet immer noch

Wiedervorlage der Erinnerung: Kurt Drawert kehrt mit seinem Buch "Dresden - Die zweite Zeit" in die eigene Vergangenheit zurück.

Kennzeichen DA statt DD, das kann teuer werden. Man steht, als Dresdner Stadtschreiber, Hauptwohnsitz Darmstadt, mit seinem Auto in einer Reihe falsch parkender Wagen - und ist der Einzige, dessen Verfehlung mit einem Knöllchen geahndet wird. Kann das Zufall sein? Dazu eine höllisch nervende Klimaanlage in der Stadtschreiberwohnung und all die Präsenz-, Repräsentations- und Bekenntniserwartungen, die das Amt mit sich bringt: "Der Anrufbeantworter blinkt Alarm, als hätte ich Dienst in der Notfallseelsorge." Kein Zweifel, der Ich-Erzähler fremdelt, ein "Zurück-in-der-Heimat-sein-Wollen" würde er entschieden bestreiten, notfalls mit einem Zitat aus seinem Roman "Spiegelland - Ein deutscher Monolog", einem schmalen Bändchen der Edition Suhrkamp, das 1992 für jede Menge "Aufregung, Zorn und Zerwürfnis" sorgte: "Man muss seine Herkunft verlassen", steht da.

Warum also 2017 zurückkehren? Der Erzähler hat noch eine Rechnung offen mit der Stadt, in die er 1967, da war er eben zwölf, mit seiner Familie aus dem Brandenburgischen zog. Die Mutter lebt noch hier; gemeinsam verbrachte Sonntage voller Erinnerungen werden für die Zeit des Aufenthalts zum gern gepflegten Ritual. Nicht ohne Gespür für tragikomische Momente der Beziehung; der mütterliche Putzwahn und ihr Erstes Hausordnungsgesetz - Schuhe aus vor Betreten der Wohnung! - haben sich dem Sohn derartig eingebrannt, dass er sich noch heute unversehens in Socken auf fremden blanken Dielen wiederfinden kann. Doch weitaus grundsätzlicher als solche amüsanten Details gerät die Auseinandersetzung mit dem einst ebenso gefürchteten wie gehassten, inzwischen verstorbenen Vater, einem systemtreuen Kriminalbeamten.

Das zweite große Thema, über die Vaterfigur mit dem ersten verbunden, ist der Versuch, das Phänomen Pegida (und deren "siamesischen Zwilling" AfD) nicht durch mediale Vermittlung, sondern lebendige Anschauung zu begreifen. Dresden ist ein dankbares Pflaster für solcherart teilnehmende Beobachtung; hier, so die Vermutung, zeigt sich die "aufgebrochene Oberfläche einer in sich selbst gespaltenen Gesellschaft" wie in einem Brennglas. Die Stadt wird so auch zum Ort eines Selbstversuchs, zu einem Lackmustest für die schriftstellerische Potenz des Erzählers: "Ich möchte wissen, was mein Schreiben bedeutet, was es erfüllt, wohin es, wenn es stattfindet, will."

"Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen", schrieb einst William Faulkner - ein Satz, den Christa Wolf an den Anfang ihres Erinnerungsromans "Kindheitsmuster" stellte. Bei Kurt Drawert klingt er ein bisschen anders: "Ein System ist auf der Ebene der Instanzen und Institutionen schnell abgewickelt. Seine Kultur aber, jener tiefe innere Text, der die Gewohnheiten und Codes einer kollektiven Verständigung prägte, wirkt fort, solange die Menschen, die sie verinnerlicht haben, noch leben." Meinen jene, die jetzt im Osten auf die Politik einschlagen, in einem Affekt nachgeholten Mutes nicht eher die Bonzen der SED? Der abgrundtiefe Hass etwa auf Angela Merkel ziehe "einen anderen Hass nach sich, der seine Ursprünge im verpassten Vatermord hat: der D.D.R. nicht widersprochen zu haben, als es an der Zeit gewesen wäre".

Die Scham über das eigene Mittun, das Weggucken, die Indifferenz und Leichtgläubigkeit, so hat die Historikerin Ute Frevert kürzlich festgestellt, ist auf Dauer schwer auszuhalten. Narrative wie jenes von der flächendeckenden Demütigung des Ostens durch den Westen entfalten da ihre ganz eigene Macht. Dass Kurt Drawert zwischen Sommer 1990 und Herbst 1991, im Moment des Zusammenbruchs des real existierenden Sozialismus, über Vater und Großvater schreiben musste, war kein Zufall. Der Riss, der durch die Familie ging, war nicht nur ein privater Konflikt, sondern quasi systemimmanent: "Spiegelland" war Drawerts Vatermord, verpackt zwischen Buchdeckel.

Der Erzähler liest sich fest im eigenen, fast dreißig Jahre alten Text, zitiert Lacan, Julia Kristeva und Zygmunt Bauman, er begegnet Jugendfreundschaften, sieht sich mit verdrängten, doch nie verwundenen Demütigungen und eigener Schuld konfrontiert, etwa jener, nichts für den drangsalierten und viel zu früh gestorbenen jüngeren Bruder getan zu haben. Dazu schießen bizarre Träume ein. Eine lineare Erzählung lässt der Prozess des Erinnerns nicht zu. Dresden, das wird im Fortgang des Romans immer deutlicher, ist für Drawert keine Stadt, sondern "ein familiärer Topos, ein Kraftfeld der Zeiten und Ereignisse, ein System der Kränkungen und Enttäuschungen", wie es ihn bis zu seinem Weggang nach Leipzig 1985 und von dort in den Westen begleitet hat. "Und diese Maschine arbeitet, sobald ich die Fabrik betrete, in der sie immer noch steht. Ich bin es, der Dresden nicht zulässt, die Bilder sind es, die sich hinter den Bildern der Gegenwart öffnen und durch die hindurch sich jedes Erlebnis verfärbt."

Drawert, der Schmerzensmann, schont sich nicht. Schreibblockaden, Versagensscham, eine kaputte Schulter als Metapher dafür, all das Leiden der Welt nicht mehr (er-)tragen zu können. Natürlich geht die OP schief. Das ganze Programm, darunter tut er es nicht. Nach zwei Dritteln des Romans diagnostiziert er für sich, sehr hellsichtig, eine "Begabung zur apokalyptischen Fantasie" - die Kehrseite immerhin "eines Vermögens zur Reflexion, zur Analyse, zur produktiven Empfindsamkeit". Zwischen diesen beiden Polen oszilliert Kurt Drawerts sprachgewaltiger Rundumschlag, der uns eindrücklich vor Augen führt, warum die "politische Reaktionsmaschine" im Osten noch immer in anderer Richtung und Geschwindigkeit läuft als im Westen. "Spiegelland" war ein Buch der Verletzung. "Auch dieser erneute Versuch zu verstehen, Spuren zu folgen, die ins Innere der Verhältnisse führen", ahnt der Autor, "wird Verletzung erzeugen."

NILS KAHLEFENDT

Kurt Drawert: "Dresden - Die zweite Zeit". Roman.

Verlag C. H. Beck, München 2020. 294 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2020

Rückkehr in die Fremde
Kurt Drawert erkundet eine zerrissene Stadt, das Schreiben und einen in sich verkapselten
Narzissmus. „Dresden. Die zweite Zeit“ ist ein großes Dokument des Ringens ums Verstehen
VON JÖRG MAGENAU
Es gibt kein einziges Bild von der Familie. Jedenfalls nicht im Besitz des Erzählers, der sich mal in Kafka-Tradition als „K.“ abkürzt, mal „Karl“ nennt. Das ist aber auch schon die einzige Differenz zum Autor Kurt Drawert, der allerdings nicht einfach ein Ich abbildet, sondern genau weiß, dass der, der da „ich“ sagt, im Text und aus dem Schreiben heraus entsteht. Wer schreibt denn überhaupt?, fragt er, immer wieder aufs Neue überrascht, was die Sprache ihm alles erlaubt.
Er besitzt Bilder von der Mutter allein, von sich zusammen mit dem Vater, von den Brüdern André und Ludwig, doch die Familie als Ganzes zeigte sich noch nicht einmal bei seiner Hochzeit mit 18, die ja auch vor allem dazu diente, dieser DDR-Familie zu entrinnen. Meistens fehlte die Mutter, weil sie es nicht aushielt, oder weil sie putzen musste, sodass Kurt Drawert den Zusammenhang der Familie und des DDR-Staates, für den die Familie stand und der in die Familie hineinwirkte, jetzt im Nachhinein rekonstruieren muss.
Mit seinem Prosadebüt „Spiegelland“ hat er 1992 schon einmal ähnliches unternommen. Damals ging es hauptsächlich um den Vater, Polizeikommissar und Parteigänger der SED, und um die väterliche Gewalt. „Dresden. Die zweite Zeit“ ist eine späte Antwort, Weiterführung, Revision dieser zornigen Abrechnung des damals 37-Jährigen, und auch wenn das neue Buch der Mutter gewidmet ist, steht erneut der Vater im Mittelpunkt.
Jetzt aber gibt es zum repressiven Staatscharakter noch eine zweite, traurige Nach-Wende-Figur: der Vater als alter, müder Mann, der sich mit sudetendeutschen Landsmannschaften und Militaria befasst und an dem nichts mehr an den stramm uniformierten Kommunisten erinnert, der er bis 1989 gewesen ist. Er wird auch bald dement und stirbt. Mitleid muss man mit ihm nicht haben, vermutlich ist der geistige Verfall die konsequente Weiterführung der früheren Engstirnigkeit. Von der Sprachlosigkeit des Vaters hat sich der Sohn denkbar weit entfernt, indem er sich für ein Dasein in der Sprache und ein Leben als Schriftsteller entschieden hat. Auch davon erzählt er nun.
Es gehört nicht unbedingt zum originellsten Genre, wenn Schriftsteller ihren Stipendienaufenthalt zum Gegenstand ihres nächsten Buches machen. Bei Kurt Drawert ist das anders. 2017 nahm er das Angebot an, Stadtschreiber von Dresden zu werden, obwohl ihm die damit verbundenen Verpflichtungen – Interviews, freundliche Artikel und Elbspaziergänge im Abendlicht für die Lokalpresse – zutiefst zuwider waren und es Beklemmungsgefühle in ihm auslöste, welche Kollegen vor ihm die Stadtschreiberwohnung bewohnt und im selben Bett geschlafen haben. Das Körperliche – Gerüche, Geräusche, Sichtverhältnisse – spielt überhaupt in allen Büchern Drawerts ein große Rolle. Er ist ein Schüler Lacans, der die Welt mit dem Leib erkundet. Weil ihm das Stadtschreiberamt nun aber Gelegenheit bot, nach 50 Jahren in die Stadt zurückzukehren, in der er 1967, zwölf Jahre alt, mit seiner Familie angekommen war und wo er die 70er- und 80er-Jahre verbracht hatte und weil seine alte Mutter noch dort lebte, nahm er an.
„Dresden. Die zweite Zeit“ ist ein essayistischer, autobiografisch-erzählerischer Bericht. Er handelt von einer Rückkehr in die Fremde. Er verknüpft auf eindrucksvolle Weise die eigene Biografie mit der Geschichte und Gegenwart der DDR, was über die Figur des Vaters sowieso zusammenfällt. Doch auch die Mutter mit ihrem Putzwahn und der tief verinnerlichten allgemeinen Pflicht, beim Betreten der Wohnung die Schuhe auszuziehen, hat ihren Anteil daran. Auf diesem Boden, wo das Historische sich in den eigenen Leib eingeschrieben hat, konfrontiert Drawert sich mit der politischen Bizarrerie der Montagsdemonstrationen, Pegida und AfD, und versucht zu begreifen, was fünfzigjährige Frauen dazu bringt, sich mit der Sachsenfahne zu schmücken und „Fotze Merkel!“ zu brüllen.
Drawert, der Lacan, Marx, Julia Kristeva, Zygmunt Bauman, Annie Ernaux und vor allem sein eigenes Buch „Spiegelland“ im Gepäck hat, ist viel zu schlau, um sich mit einfachen Einsichten zu begnügen. Eine der möglichen Antworten besteht jedoch darin, dass das große Nein zur Gegenwart, das auf den Straßen so voller Hass zelebriert wird, ein verschobenes, nachträgliches Nein des einst versäumten Nein zur DDR sein könnte. Oder er wundert sich darüber, warum die Kunstaktion des deutsch-syrischen Künstlers Manaf Halbouni, der zum Jahrestag der Zerstörung Dresdens 2017 zwei zerstörte Busse aus Aleppo aufstellte, so viel Empörung hervorrief, weil damit angeblich das Gedenken an die Opfer Dresdens entwürdigt und entweiht werde. Warum gibt es in Dresden einen Monopolanspruch auf Schmerz? Warum wurde Dresden zum Synonym der Zerstörung und nicht Hamburg, Nürnberg oder Darmstadt? Warum kann die Stadt ihre Trauer nicht mit der Welt teilen? Drawert erkennt in den Affekten von rechts außen einen in sich verkapselten Narzissmus, der das kleine Eigene so herrlich findet, dass alles Fremde nur feindlich sein kann.
Das Großartige an dieser erzählerischen Reflexion besteht jedoch darin, dass er selbst als Fremd-Zugehöriger nicht bloß von außen spricht, als der Westler, zu dem er geworden sein mag, sondern als einer, dem die Kategorien Ost und West fragwürdig geworden sind.
Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert er sehr genau, weil er ihre Gewalt am eigenen Leib erfahren hat – über den Vater und die Familie ebenso wie über die Schule und die Fabrikarbeit, zu der er einst degradiert worden ist. Was Drawert über den Fabrikalltag der DDR berichtet, lässt von den Romantizismen über die Arbeiterklasse und ihr Selbstbewusstsein nichts übrig. Da wurden ihm einmal nur so zum Spaß die langen Haare angezündet, ein Weiheritual, eine Taufe. Wenig später kam ein Kollege ums Leben, dem ein anderer von hinten den Pressluftschlauch an den Hintern hielt.
Ergreifend auch die Geschichte des Bruders Ludwig, der „wie durch einen Fluch belastet alles Unglück dieser Welt auf sich und seinen Körper zog“. Schon zu DDR-Zeiten ein Außenseiter, der auf die Sonderschule abgeschoben wurde, bekam er nach der Wende überhaupt nichts mehr auf die Reihe, taumelte von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten Arbeitslosigkeit, bis er früh starb. Ein dramatischer Höhepunkt ist der Tag, an dem er noch als Kind beim Spiel im Aufzugschacht des Elternhauses mit einem Bein zwischen Wand und Aufzug geriet, vor Schmerz schreiend zwischen den Stockwerken stecken blieb und von der Feuerwehr befreit werden musste.
Es gibt viele blutige, demütigende Geschichten in diesem Buch, das mehr und mehr zu einer Geschichte des Schmerzes und der Schuld wird. Alles war schuldbehaftet in der DDR, alles zielte auf die Vernichtung der Person, und schon die Ankunft in Dresden glich einer Flucht, nachdem „Karl“ im Brandenburgischen Hohen Neuendorf, wo die Familie zuvor lebte, beim Nazi-und-Partisan-Spiel einem Freund mit Pfeil und Bogen ein Auge ausgeschossen, ihm aber verboten hatte, zu verraten, wer es war. Seither lebte er in der Angst, es könnte herauskommen. Noch in Dresden sah er den Vater des Freundes, einen strengen Schulleiter, an jeder Ecke auf sich zukommen.
Es ist mehr als bloß symptomatisch, dass der Stadtschreiber dann beim Kuchenkaufen für den Mutterbesuch auf Blitzeis ausrutscht, sich die Schultersehnen reißt und von da an auch körperlich ein Schmerzensmann ist, der kaum noch die Kaffeetasse zum Mund führen kann, aber trotzdem weiter schreibt und denkt. Es scheint so, als schärfe sich sein Denken am und im Schmerz, sodass er den Schmerz kultiviert und kapitellang zögert, ob er die Operation wagen soll oder nicht – eine Operation, die dann, als er sie endlich durchführen lässt, schiefgeht, als läge darin eine tiefere Absicht.
„Dresden. Die zweite Zeit“ ist ein Buch über den Zusammenhang von Körper und Sprache und Geschichte, ein gewaltiges, großes Dokument eines ums Verstehen ringenden Blicks auf die eigene Zerrissenheit und die der Stadt und des immer noch geteilten Landes.
Kurt Drawert: Dresden. Die zweite Zeit. Roman. Verlag C. H. Beck, München 2020. 294 Seiten, 22 Euro.
Der Autor, Jahrgang 1956, wuchs
in Dresden auf, erfuhr die Gewalt
der DDR am eigenen Leib
Das Buch wird mehr und mehr
zu einer Geschichte des Schmerzes
und der Schuld
Das subkutane Weiterwirken der DDR registriert Kurt Drawert sehr genau. Dresden, Straße der Befreiung, 1986.
Foto: imago stock & people
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