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Weniger umfangreich, aber ebenso kontinuierlich wie Gedichte schrieb Heiner Müller von Beginn der fünfziger Jahre an bis kurz vor seinem Tod auch Prosa. Unter diesem Begriff werden hier alle Texte des Autors versammelt, die ihrer Form nach als Genres erzählenden, beschreibend emblematischen oder berichtenden Charakters definiert werden können. Formen wie Essays, Reden, Aufsätze, publizistische Beiträge werden in einem späteren Band folgen, auch wenn freilich Müllers Schreiben weit eher einem Zusammenschluß als einer formal behaupteten Abgrenzung unterschiedlicher ästhetischer…mehr

Produktbeschreibung
Weniger umfangreich, aber ebenso kontinuierlich wie Gedichte schrieb Heiner Müller von Beginn der fünfziger Jahre an bis kurz vor seinem Tod auch Prosa. Unter diesem Begriff werden hier alle Texte des Autors versammelt, die ihrer Form nach als Genres erzählenden, beschreibend emblematischen oder berichtenden Charakters definiert werden können. Formen wie Essays, Reden, Aufsätze, publizistische Beiträge werden in einem späteren Band folgen, auch wenn freilich Müllers Schreiben weit eher einem Zusammenschluß als einer formal behaupteten Abgrenzung unterschiedlicher ästhetischer Darstellungsweisen zuarbeitet. Neben schon zu Lebzeiten veröffentlichten Arbeiten, die allerdings oft an entlegenen Orten und zumeist nicht in Buchform oder doch wenigstens nicht in einem gattungsspezifischen Zusammenhang erschienen sind, präsentiert dieser Band 2 der Werkausgabe zahlreiche unbekannte, als Typoskript im Nachlaß aufgefundene Prosatexte Heiner Müllers.
Autorenporträt
Müller, HeinerHeiner Müller, geboren am 9. Januar 1929 in Eppendorf, Sachsen, war einer der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zudem war er Lyriker, Prosa-Autor und Essayist sowie Präsident der Akademie der Künste Berlin (Ost). Er ist am 30. Dezember 1995 in Berlin verstorben.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.03.1999

Im Land des Lächelns
Heiner Müller dekonstruiert das menschliche Antlitz des Sozialismus / Von Lorenz Jäger

Ist der Freund ein Feind? Zwei Männer, so beginnt eine Parabel Heiner Müllers aus dem Jahr 1951, wanderten in der Schneewüste. Der eine, vom langen Marsch schneeblind geworden, geht nichtsahnend auf eine Gletscherspalte zu. Der andere aber ist im Besitz einer Schneebrille, die ihm die Erkenntnis des drohenden Unheils ermöglicht. Seine Warnungen werden von dem mißtrauischen Blinden ausgeschlagen: "Aber der zweite war freundlich und boxte ihn und trat ihn in die Seite, bis er den richtigen Weg einschlug. Ich weiche der Gewalt, sagte der Getretene." Müllers Parabel erzählt von einer Erziehungsdiktatur. Die zweideutige Freundlichkeit, die sie schildert, war das menschliche Antlitz des realen Sozialismus. Freundliche Gewalt bestimmte die Ikonographie der östlichen Herrscherbilder, das verkniffene Lächeln von Ulbricht über Sindermann bis Honecker.

Kaum etwas hat Heiner Müller so sehr beschäftigt wie dieses politische Mienenspiel des "richtigen Weges". 1951 schien er dem Dichter noch klar. Die Frage nach Freund und Feind, von Carl Schmitt als Grundlage der politischen Entscheidung definiert, hatte ihre Gestalt gewandelt. Wer sich, wie Müller, mit der jungen DDR identifizieren wollte, mußte sich auf Zweideutigkeiten und dialektische Spiele einstellen, mehr noch: er mußte sie als unausweichlich behaupten. Der Freund konnte in der Gestalt des Feindes erscheinen, der Feind aber lächeln: Das war die Zumutung, die die Erziehungsdiktatur stellte. Aber zugleich galt auch die Umkehrung: Der Stalinismus, dessen Terrorsystem Müller nicht verborgen geblieben war, trat als Besatzungmacht auf und zugleich mit dem Anspruch des epochalen Befreiers. Wer die Frage stellte, ob der Freund ein Feind sein kann, bewegte sich auf dem schmalen Grat von Propaganda und Subversion.

Als Müller seine Parabel schrieb, war mit dem Koreakrieg auch in Europa der Kalte Krieg der Systeme in eine dramatische Phase getreten. Die Kommunisten feierten die Romantik der Dritten Welt, auch Müller beteiligte sich 1951 mit der Übersetzung eines Lobgesangs auf Kim Ilsung ("Eure Erde voll Blut und voll Schweiß,/ eure Saaten und Städte und Fahnen/ schützt sie gut vor dem Dollargeschmeiß"). Und sie hofften auf den Klassenkampf im Westen. Die Erzählung "Das Volk ist in Bewegung", erschienen im Winter 1951 und aus ungenannten Gründen nicht in die Edition der Prosa aufgenommen, entwirft holzschnitthaft ein westdeutsches Streikszenario mit kommunistisch sympathisierenden, friedensfreundlichen Arbeitern und einer bestochenen Konzernleitung ("Im roten Cadillac fährt er vor - der Wagen ist ein Geschenk amerikanischer Freunde"). Man muß den Ost-West-Konflikt kennen, um auch die visionären Texte beurteilen zu können, die Müller damals verfaßte. "Der Bankrott des großen Sargverkäufers", eingereicht bei einem Kurzgeschichtenwettbewerb der FDJ, verfiel wegen seiner nach damaligen Begriffen unrealistischen, "dekadenten" Form dem Verdikt der Literaturpolitiker. Der "Große Sargverkäufer" ist ein allegorisches Porträt der Einheit von Krieg und Markt, ein Geschäftemacher des Todes. Der Konflikt der Schreibweisen wiederholt sich in den Übersetzungen und Überschreibungen anderer Autoren: neben chinesischen Landreform-Geschichten von Lu Hsün finden sich Texte von Poe und Kafka, die Müller bearbeitet.

Wichtige Motive des späten Müller sind 1951 bereits versammelt: vor allem der Avantgardismus der Form und die Dramaturgie der Gewalt. Was sich in der Folge verändert, ist oft nur eine Nuance der Bewertung. "1951 ging mein Vater, um sich herauszuhalten aus dem Krieg der Klassen, über den Potsdamer Platz in Berlin in den amerikanischen Sektor", heißt es in dem Text "Der Vater" von 1958. Erst viel später hat Müller, nach den Gründen für die Flucht befragt, zugestanden, daß "ein blinder Fleck" bei ihm bestand - tatsächlich war der politisch aktive Vater als "Titoist" verdächtig und offenbar real gefährdet. Müllers Vater war gleich nach der Machtübernahme Hitlers verhaftet, geschlagen und in ein Konzentrationslager gesperrt worden. Als er wieder bei der Familie war, mußte der Junge einen Schulaufsatz über den Autobahnbau schreiben. Für die besten Arbeiten waren Preise ausgesetzt. Müllers Vater sagte ihm: "Du mußt schreiben, du bist froh, daß Hitler die Autobahnen baut. Da bekommt bestimmt auch mein Vater wieder Arbeit, der so lange arbeitslos war." Lächelnde Gewalt war Müllers Urtrauma.

Im Sommer 1953 beobachtet er eine nächtliche Straßenszene. Zwei Männer verabschieden sich voneinander, als sie nach verschiedenen Seiten abgehen und schon einige Schritte voneinander entfernt stehen, bietet der eine, gut gekleidet und offenbar der Wohlhabendere, dem anderen noch eine Zigarette an. Bedingung aber ist, daß dieser den Weg auf ihn zugeht. Der andere kommt ihm auf halbem Weg entgegen, aber der Wohlhabende rührt sich nicht, sondern wiederholt seine Aufforderung: "Komm! sagte zum dritten Mal der Mann im hellen Anzug, lächelnd immer noch, die Zigarette immer noch in der ausgestreckten Hand." Jetzt wandelt sich der Ton der Szene, Jovialität wird zur Demütigung. "Ist Willi", so fragt sich sein Gegenüber, "der mit ihm getrunken hat, der Freund, der Kegelbruder, ein Unmensch? Darum geht es. Ist der Freund ein Feind? Das ist die Frage. Darum bleibt er stehen." Die Spannung löst sich bald wieder auf, aber die Frage, die für einen Moment zwischen beiden bestand, bleibt. Die Situation hat Müller so sehr beschäftigt, daß er sie noch in ein anderes Prosastück eingefügte. Hier findet man das Gegenstück zur Erziehungsdiktatur: den Feind, der als Freund erscheinen will.

1972 entstand "Die Befreiung des Prometheus", ein Text, der das Dilemma der DDR - das Dilemma des unwillkommenen "Befreiers", des feindlichen Freundes - mythologisch spiegelt. Der Titan, lange an den Kaukasus gefesselt, hat sich im Lauf der Jahrtausende an sein Schicksal gewöhnt. Als mit Herakles die Rettung naht und der Held den Adler erlegt, der von der Leber des Prometheus gezehrt hatte, weint der Titan laut um den Vogel, "seinen einzigen Gefährten in dreitausend Jahren". Er beschimpft seinen Befreier als Mörder und hängt an seinen Ketten. Als er endlich losgemacht ist, beteuert er auf dem Arm des Herakles, gegen den Himmel schreiend, "seine Unschuld an der Befreiung".

Man kann die Produktivität einer Frage daran messen, wie viele Varianten der Lösung sie ermöglicht. Bei Müller ist die Zahl der Deutungen des Lächelns Legion. Und immer behält es seine Zweideutigkeit: "Verfolgt vom Lächeln des Handlesers", sieht er sich in einem traumähnlichen Text, und in einer anderen, gleichfalls traumartig-sadistischen Szene liest man: "Während einer Operettenaufführung (Léhar: Land des Lächelns) die Zwangsvorstellung, daß ich zwei Nadeln in die (wahrscheinlich blauen) Pupillen der Soubrette stecke. Wenn die Nadeln herausgezogen werden, laufen die Augen aus." Um so aufmerksamer wird man, wenn Müller in einem Rückblick auf seinen Vater schreibt, dieser habe "den Kitsch der Operetten" geliebt.

Zu den aufschlußreichsten Bearbeitungen gehört die Fassung der "Strafkolonie", bei der Müller mit radikalen Streichungen arbeitete. Was von Kafkas Erzählung übrigbleibt, ist der pervers-humanistische Monolog eines Systems, das für seine Delinquenten weder Sorgen noch Mühen scheut. Der Verurteilte wird, geradezu nach ergonomischen Gesichtspunkten, auf Watte gebettet, ein nach höchsten Kunstregeln konstruierter Apparat schreibt ihm das Urteil mit Nadeln in den Körper, ein kleiner Filzstumpf, dessen feine Regulierbarkeit eigens hervorgehoben wird, dringt ihm in den Mund, und bei der vollendeten Betreuung fehlt selbst der warme Reisbrei für die späten Stunden der Exekution nicht. In der sechsten Stunde dann entziffert der Täter das Urteil: "Verstand geht dem Blödesten auf." Das war, 1992, Müllers letztes Wort zur Erziehungsdiktatur. Die Konstellation seiner Jugend hat er nie verlassen, er hat sie bis zur letzten Konsequenz ausbuchstabiert. Müllers "asiatisches Lächeln", von dem Durs Grünbein gesprochen hat, war der Versuch, der Miene eines Zeitalters auf die Spur zu kommen.

Heiner Müller: "Die Prosa". Werke II. Hrsg. von Frank Hörnigk. 211 S., Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999. 211 S., geb., 36,- DM; br., 28,- DM.

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