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9 Kundenbewertungen

"Ein imposantes, autobiographisch gefärbtes Epos." Der Spiegel
">Das verborgene Wort "Eine ganze Generation wird sich darin wiederfinden und später Geborene verstehen, warum Eltern und Lehrer so sind, wie sie sind." Focus
»Ein imposantes, autobiographisch gefärbtes Epos« Der Spiegel
Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts
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Produktbeschreibung
"Ein imposantes, autobiographisch gefärbtes Epos." Der Spiegel

">Das verborgene Wort< spiegelt wie kaum ein anderer Zeitroman die kulturelle Atmosphäre der fünfziger Jahre." Die Zeit

"Eine ganze Generation wird sich darin wiederfinden und später Geborene verstehen, warum Eltern und Lehrer so sind, wie sie sind." Focus
»Ein imposantes, autobiographisch gefärbtes Epos« Der Spiegel

Ein Mädchen, Arbeiterkind, voller Neugier und Lebenswille sieht sich im Käfig einer engen katholischen Dorfgemeinde gefangen. Sie stößt an die Grenzen einer Welt, in der Sprache und Phantasie nichts gelten. Fast zerbricht sie an der Härte und Verständnislosigkeit der Eltern, die sie in den eigenen Lebensgewohnheiten festhalten wollen. Im Deutschland der fünfziger und frühen sechziger Jahre sucht das Mädchen seinen Weg in die Freiheit: die Freiheit des verborgenen Worts.

Ausstattung: JUBILÄUMSAUSGABE
Autorenporträt
Ulla Hahn, aufgewachsen im Rheinland, arbeitete nach ihrer Germanistik-Promotion als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten, anschließend als Literaturredakteurin bei Radio Bremen. Schon ihr erster Lyrikband, »Herz über Kopf« (1981), war ein großer Leser- und Kritikererfolg. Ihr lyrisches Werk wurde u. a. mit dem Leonce-und-Lena-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Für ihren Roman »Das verborgene Wort« (2001) erhielt sie den ersten Deutschen Bücherpreis. 2009 folgte der Bestseller »Aufbruch«, der zweite Teil des Epos, und auch Teil drei, »Spiel der Zeit« (2014), begeisterte Kritiker wie Leser. »Wir werden erwartet« (2017) bildet den Abschluss ihres autobiografischen Romanzyklus um das Arbeiterkind Hilla Palm. Zuletzt erschien 2021 ihr Gedichtband »stille trommeln« mit Gedichten aus 20 Jahren.
Rezensionen
»>Das verborgene Wort< spiegelt wie kaum ein anderer Zeitroman die kulturelle Atmosphäre der fünfziger Jahre.« Die Zeit

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Die Guten aufs Töpfchen
Heimatmelodie für Müppen: Ulla Hahn trifft den hohen Ton der Tiefebene / Von Gerhard Schulz

Neugierig und voller Schaulust kann man um Ulla Hahns Roman "Das verborgene Wort" herumgehen, wie um eine große Skulptur, deren Charakter und Schönheit changiert, je nachdem von welcher Seite man sie betrachtet. Versprochen wird uns die Geschichte von der kleinen Hildegard Palm, die als Kind einer Hilfsarbeiterfamilie irgendwo zwischen Düsseldorf und Köln in stockkatholischer Gegend zur Welt kommt und sich allen Hindernissen zum Trotz auf den langen Weg zu den Büchern, zum Erkennen und Wissen begibt - die Geschichte einer Jugend also und sicherlich ein Stück Autobiographie der 1946 im Sauerland geborenen Autorin.

Frontal betrachtet ist dieses dicke Buch ein Stück deutscher Heimatgeschichte, nicht unähnlich jener Filmsaga aus dem Hunsrück, mit der Edgar Reitz vor Jahren das Fernsehpublikum weit über die deutschen Grenzen hinaus in seinen Bann zog. Reich an Personen, an Großeltern, Eltern, Kindern, Tanten, Onkeln, Geschwistern, an Kranken und Gesunden, an Priestern, Lehrern, Flüchtlingen, Fremdarbeitern, Fließbandarbeiterinnen, Sekretärinnen und ihren Chefs ist Ulla Hahns kleine Welt, die sich in großem Detail, lebhaft und leibhaftig, entfaltet. Kirmes, Hochzeit, Beerdigung sind Höhepunkte im Alltag, der von den Riten der Kirche durchdrungen ist. Katholische Wundergläubigkeit beschränkt die Köpfe, die Lehre vom erbsündigen Menschen macht selbst das Töpfchensitzen des Kindes zu einem Gott wohlgefälligen Akt, und der geile Kaplan gehört als Phänotyp wie selbstverständlich dazu.

Hie und da dringt ein Hauch Nachkriegszeit in Ulla Hahns epische Heimat, obwohl die große Politik und das goldglänzende Wirtschaftswunder nur ganz selten hindurchscheinen. Aber immerhin vollzieht sich die Entwicklung dieses kleinen Mädchens vor dem Hintergrund des wieder zu Selbstbewußtsein drängenden westdeutschen Staates. Fokus bleibt zwar stets das Leben dieser Hildegard - später "Hilla" - Palm, aber ihr Leben nimmt dennoch so etwas wie symbolische Züge für den deutschen Drang zu einem neuen Selbstwertgefühl an, nur daß es sich in ihr als Sehnsucht nach einer Neugründung im Kulturell-Geistigen, nicht im Materiellen äußert. Darin liegt wohl das Bedeutendste und Attraktivste dieses Romans.

Für Hilla Palm ist es ein Weg aus einer nahezu analphabetischen Sphäre zu den Buchstaben und in die Literatur. Wie das im einzelnen inszeniert wird, wie das kleine Kind aus Steinen Geschichten herausliest, nach dem Verhältnis von Worten und Dingen sucht und in Märchen die Magie der Sprache entdeckt oder aber als intelligente Schülerin leiden muß, das ist mit so viel Feingefühl und Beobachtungsreichtum dargestellt, daß allein dies schon reichen Lohn für die Ausdauer bei der Lektüre des Buches darstellt. "Zauberworte mußte man wissen, damit Felsen sich öffneten, Steine zu Menschen wurden . . ." Es ist nicht schwer, daraus ein Stück Initiation der Lyrikerin Ulla Hahn herauszulesen, der dann die Einweihung der Schriftstellerin und Germanistin in die Literaturgeschichte folgt. Denn Hilla Palm erschließt sich lesend die Werke von Lessing, Goethe, Schiller, Kleist, Keller, Heine, Rilke und der Droste: "Bücher starben nicht", waren resistent gegen die Vergänglichkeit, deren unerklärliche und erbarmungslose Macht dem Kind nach und nach bewußt wird. Ein Bildungsroman also?

Das wohl nicht, sondern allenfalls ein Entwicklungs- oder, besser noch, ein Auswicklungsroman, denn nicht so sehr in der Wechselwirkung von Welt und Ich vollzieht sich der Werdegang dieses jungen Mädchens, sondern eher als Durchsetzung von etwas in ihr Angelegtem. So zumindest gibt es uns die erwachsene Erzählerin zu verstehen, deren Perspektive im zurückhaltenden, oft nur implizierten Deuten des einen oder anderen Geschehens spürbar wird, obwohl ein Kind spricht, dem vieles noch unverständlich bleiben muß. Geht man also neugierig ein wenig weiter um Ulla Hahns Buch herum und betrachtet seine epische Fülle von der Seite, dann erscheint das alles doch ein wenig flach. So stark die episodische Buntheit rheinischen Lebens wirkt - in seiner Summe bleibt es die Enge eines Heimatromans, die dieses Buch prägt, fernab von den Lehrjahren eines Wilhelm Meister, die uns in ein ganzes Zeitalter voller großer geschichtlicher Bewegung hineinblicken lassen, und fernab auch von den intellektuellen Höhen eines Zauberbergs.

Nicht daß diesem Buch Intellektuelles fehlte. Gerade die Begegnungen der jungen Hilla mit der Literatur sind immer wieder Anlaß zu guten, richtigen, nützlichen Gedanken. Aber da ebendieses Gute, Richtige, Nützliche Absicht und Ziel solcher Begegnungen ist, bleiben auch sie etwas flach im Ganzen des Romans. Wie nach einem diskret verborgenen Lehrplan, dem man Tendenzen und Mühen anmerkt, wird dieses Begegnen veranstaltet, bei dem allein schon die Vielfalt der Werke ihrer Wirkung in die Quere kommt, und von der existentiellen Wucht, mit dem Shakespeares Hamlet den jungen Wilhelm Meister trifft, ist hier gewiß nichts zu spüren.

Ähnlich absichtsvoll sind im Grunde auch die Fäden der Zeitgeschichte und der unmittelbaren deutschen Vergangenheit hineingewebt. Nicht daß Ulla Hahn aufdringlich und grob auf das politisch Korrekte aus wäre. Dazu ist sie eine viel zu sensitive Künstlerin. Aber man kann sich dennoch nicht des Eindrucks erwehren, daß Lessings Nathan, daß Abel, der Junge mit der Schiebermütze, ein Zigeuner oder der Lehrer Rosenbaum da sind, weil sie einfach da sein müssen, also in das Leben der jungen Heldin notwendig gehören, sondern weil sie von der Autorin um des Guten, Richtigen, Nützlichen willen erst ihr Existenzrecht erhalten haben.

Ulla Hahns Roman ist ein Buch aus der rheinischen Tiefebene, durchsetzt von deren Dialekt, der zusammengerechnet wohl kaum weniger als ein Fünftel des fast sechshundertseitigen Buches ausmacht. Ein Glossar am Ende verzeichnet einiges aus dem Plattdeutsch dieser Landschaft. Darin wird das Wort "Müppe" als "Asoziale" definiert, im Buche selbst hingegen genereller als jemand, der im Dorf nicht dazugehörte: "Es gab eingeborene, dreckige Müppen, evangelische Müppen und die Flüchtlingsmüppen aus der kalten Heimat." Der Rezensent muß gestehen, daß er, hätte es ihn in Ulla Hahns fiktives Dondorf verschlagen, ganz sicher unter die Kategorie der Müppen gerechnet worden wäre. Das bedeutet allerdings auch, daß zu ihm und seinesgleichen dieses Buch nicht im gleichen Maße reden kann wie zu denjenigen, die seine Sprache sprechen.

Das ist das Handicap aller Heimatliteratur und Dialektdichtung. Auch Fritz Reuter oder Ludwig Thoma, das Ohnsorg-Theater oder der Komödienstadl sind nicht jedermanns Sache. Und Gerhart Hauptmann? Gerade im Vergleich mit ihm werden die Grenzen von Ulla Hahns Buch noch einmal erkennbar. Hauptmanns "Dialekt" ist in Wirklichkeit Soziolekt; keine seiner Gestalten spricht die gleiche Sprache, immer enthüllt sich in den mit großer Genauigkeit differenzierenden dialektischen oder umgangssprachlichen Eigenheiten seiner Weber, Fabrikarbeiter oder Beamten ihre Persönlichkeit in ihrer Herkunft und ihrem sozialen Umfeld. Hier aber herrscht linguistisches Kolorit, und die Fußnoten oder Glossare vermögen dazu nicht mehr zu tun, als Wortbedeutung zu dolmetschen.

Und dennoch: Mit diesem Roman hat sich die Lyrikerin Ulla Hahn als Epikerin etabliert. Fern von Thesenhaftigkeit wie von verkrampfter Originalitätssucht hat sie kräftig zupackend und zugleich feinnervig eine deutsche Geschichte erzählt und damit Selbsterfahrenem Sinn zu geben versucht: "Im Lichte des hellen Geistes verstand ich alles. Die Schönheit war der Schlüssel, die Schönheit der Ordnung, des Sinns. Bestimmung der Buchstaben war es, Wort zu werden, Zweck des Wortes war der Sinn, wer im Wort war, war im Sinn."

Es ist müßig zu fragen, inwieweit die Lebensgeschichte der Hilla Palm derjenigen der Ulla Hahn entspricht. Die Freiheit gegenüber den Gestalten und dem Geschehen des Buches darf sich die Autorin vorbehalten, wenn sie nicht Anspruch auf eine Autobiographie erhebt. Aber gelegentlich darf sie wohl auch bedeutsames Spiel mit den Gestalten treiben. Hilde Palm ist der bürgerliche Name der Lyrikerin Hilde Domin, die sich ihren Künstlernamen aus Dankbarkeit für die Dominikanische Republik gab, weil dieses Land der aus Deutschland Vertriebenen einst Asyl gewährte. 1992 erhielt Hilde Domin den Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg; Ulla Hahn hielt ihr damals die Laudatio. Falls hier eine stille Dedikation vermutet werden dürfte, wäre das nicht das Unbedeutendste, was es in diesem Buch zu entdecken gäbe.

Ulla Hahn: "Das verborgene Wort". Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart, München 2001. 595 S., geb., 49,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»Ein wichtiges, schönes, schreckliches Buch über das Erwachsenwerden, Wachwerden, Menschwerden.« (Erdmute Klein im Rheinischen Merkur)
»Was bleibt und überwiegt, ist Bewunderung: […] für den beeindruckenden, streckenweise überwältigenden Roman, der aus dem nährstoffarmen Boden dieser Provinz erwachsen konnte.« (Martin Ebel in der Neuen Zürcher Zeitung)
»Eine dicht erzählte Geschichte, die nie langatmig wird, die bis in die Lebensentwürfe der Nebenfiguren hinein brillant konstruiert ist. Klug und sprachlich wunderschön. Ein Roman, an dem die Lyrikerin Ulla Hahn viele Jahre gearbeitet hat und für den sich jede Stunde Lesezeit lohnt.« (Brigitte extra - Buchspecial)
»Dieser Roman hat ein schlagend wirkliches Herz und ein Charaktergesicht. Und während der Rhein im Hintergrund dahinströmt und mit dem Reichtum des Inhalts beinahe über die Buchdeckel schwappt, wird hier eine deutsche Geschichte erzählt im Format eines großartigen Mädchens.« (Tanja Jeschke in der Stuttgarter Zeitung)
»Dieser Erziehungs- und Bildungsroman ist eine wunderbare Lektüre. Wer hätte gedacht, dass das Schiller’sche Pathos von der Freiheit der Gedanken noch einmal so überzeugen könnte wie in diesem Roman über ›dat Heldejaad‹ aus Dondorf, das sich befreit aus der lieblosen, knechtenden Enge eines proletarischen Haushalts mit der Kraft des Wortes?« (Stuttgarter Nachrichten)
»Und warum interessiert diese ellenlange Geschichte von 600 Seiten? Weil in diesen Zeiten der Kurznachrichten und Schnellschreiberei, der hastigen Meinungen und hohlen Polemiken diese Ausführlichkeit das Herz wärmt […] Ein unübertreffliches Sittengemälde.« (Jürgen Flimm in der Woche)
»Wie das kleine Kind aus Steinen Geschichten herausliest, nach dem Verhältnis von Worten und Dingen sucht und in Märchen die Magie der Sprache entdeckt oder aber als intelligente Schülerin leiden muß, das ist mit so viel Feingefühl und Beobachtungsreichtum dargestellt, daß allein diese schon reichen Lohn für die Ausdauer bei der Lektüre des Buches darstellt.« (Gerhard Schulz in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung)
»Wegen seiner Lebensfülle und seines authentischen Zeitkolorits vermag der Text in seinen Bann zu schlagen. Und wegen des Leidensdrucks, der sich mit liebevoller, nie gehässiger Ironie und Situationskomik zur Geschichte eines persönlichen Triumphes verbindet.« (Katrin Hillgruber in der Badischen Zeitung)
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.08.2001

Unsre Oma fährt im Hühnerstall Motorrad
Ein unglaublicher Schicksalsroman aus den fünfziger Jahren: Ulla Hahn erzählt, wie sie sich in Friedrich Schiller statt in James Dean verliebte
Das Huhn ist tot. Es ist Opfer des sexuellen Missbrauchs geworden, den nicht etwa ein stolzer Hahn, sondern ein Halbwüchsiger der Spezies Homo sapiens mit ihm getrieben hat, in einer Freilichtvorführung zum Gaudium der Dorfjugend. Wer Unzucht mit Hausgeflügel für die Ausgeburt bizarren Humors oder einer besonders schräg gelagerten Imaginationskraft hielt, findet jetzt in der Prosa einer der preisgekröntesten deutschen Lyrikerinnen den Beweis dafür, dass das Schimpfwort „Hühnerf...” durchaus keine an den Federn herbeigezerrte Injurie ist. Freilich, der Täter stammt aus asozialem Milieu, hört auf den sprechenden Nachnamen Kackaller und hat, was in den fünfziger Jahren noch als prinzipiell verdächtig galt, rote Haare, und zu allem Überfluss liegt der Ort des blutigen Spektakels in der Nähe eines von den Nazis verwüsteten Judenfriedhofs.
Die romanhafte Anhäufung von Klischees des Bösen mildert indes nicht den Eindruck, dass wir hier mit der nackten Nachkriegswirklichkeit der rheinisch-katholischen Provinz konfrontiert werden. Auch wenn Ulla Hahn ihr mit Spannung erwartetes Epos „Das verborgene Wort” partout nicht als Autobiografie verstanden wissen will, lassen der bodenständige Realismus ihrer Schilderungen, die Gefühlslage ihrer Ich-Heldin und die Parallelität der Lebensläufe keinen Zweifel daran, dass es sich bei dem sechshundert Seiten starken Werk um ein persönliches Erinnerungsbuch handelt, in dem Figuren und Handlung zwar chiffriert und modelliert, aber von einer Kernsubstanz privater Erfahrung weit gehend ausgefüllt sind.
Inferno auf den Rheinwiesen
Das entlastet den Berufsleser, weil das mühselige und oft genug windige Geschäft einer literaturkritischen Wertung sich damit beinahe von selbst erledigt. Am liebsten möchte man in diesem Fall der Devise folgen: Lerne preisen, ohne zu fragen. Wohl ist bei den Schriftstellern, die um die Mitte des vorigen Jahrhunderts geboren wurden, die literarische Verarbeitung der eigenen Kindheit und Adoleszenz heftig en vogue, aber in derart schwelgerischer Detailfülle und mit einem so rückhaltlosen Bekenntniswillen ist die Geschichte vom Wachsen und Werden in den Zeiten des Kalten Krieges bislang noch nicht erzählt worden. Allerdings konnte die Trägerin des Bundesverdienstkreuzes am Bande, die Anfang der achtziger Jahre dem deutschen Gedicht vom Kopf auf den Herzmuskel half und dafür den fruchtbaren Segen des amtierenden Literaturpapstes empfing, über einen Lebensstoff gebieten, um den jeder Verfasser von Schicksalsromanen sie beneiden würde. Die Kinder- und Jugendjahre der kleinen Hildegard Palm, in der wir die kleine Ursula Hahn wiedererkennen dürfen, sind so herzzerreißend zwischen Idyll und Inferno ausgespannt, dass das typische Alltagsinventar und das gesellschaftliche Klima der Fünfziger, wiewohl für Generationsgenossen von einigem Wiedererkennungsreiz, daneben zum bloßen Dekor verblasst. Und welch ein Rührungspotenzial der Tatsache innewohnt, dass die promovierte Germanistin und gefeierte Dichterin in einem Haushalt aufwuchs, in dem Lesen und Schreiben, ja sogar Hochdeutsch geächtet waren und bisweilen mit physischer Züchtigung bestraft wurden, liegt auf der Hand.
Es geht bei der monumentalen Rückschau denn auch vor allem um die Eroberung der Sprache, um die Befreiung aus bildungsfeindlichen Verhältnissen und den Aufbruch in eine andere, lockende Welt, deren Anziehungskraft ja gerade denen so unwiderstehlich erscheint, die zeitweilig gewaltsam von ihr fern gehalten werden: die Welt der Bücher. Ein früher Vorschein dieser Verheißung leuchtet für Hildegard aus den Geschichten des Großvaters, der mit ihr und Brüderchen Bertram in den Rheinwiesen herumstreunt und mit Steinen zaubern kann, und aus den Märchenlesungen der gütigen Kindergartenschwester Aniana. Die Großmutter, so fromm wie rabiat, bringt der Kleinen, sobald sie sprechen kann, das Beten bei und weckt damit ihre Begeisterung für Rhythmus und Reim. Der Vater hingegen, ein ungelernter Arbeiter, will von Buchstaben nichts wissen, schnitzt Prügelstöckchen und neigt zu gefährlichen Wutausbrüchen, während die Mutter nichts anderes zu sein wagt als eine verhärmte Hausfrau und Putzhilfe. Das dörfliche Umfeld, das trotz drückender Armut und geistiger Enge der kindlichen Fantasie viel Anregung bietet, zugleich aber tausend Ängste nährt, erhält seine besondere atmosphärische Färbung durch die Mundart, eine Variante des kölschen Platt, die Ulla Hahn ausgiebig nutzt, um das Auftauchen ihrer Heldin aus jenen Niederungen auch sprachlich sinnfällig zu machen: Das Recht, Hochdeutsch zu reden, muss sie sich ebenso erkämpfen wie die Lizenz, mit Messer und Gabel zu essen, und beide Fertigkeiten markieren bedeutsame Stationen auf ihrem Emanzipationsweg.
Der ist nun allerdings eine Märtyrerstraße, wie sie steiniger und dorniger kaum sein könnte. Und Hildegard, deren klösterliche Namensbase aus Bingen ja nicht umsonst in frauenbewegten Kreisen sehr geschätzt wird, hat von Kindesbeinen an das Zeug zur Heiligen, die sich ihre eigene Legende schreibt. So fein sind ihre Antennen, so ausgeprägt ihr Sinn für das Gute, Wahre und Schöne, dass sie bei ihrer grobschlächtigen, ländlich-sittlichen oder naiv katholischen Mitwelt allenthalben auffällt und aneckt. Im günstigsten Fall rufen ihre frühreifen Lesekünste Staunen und Bewunderung hervor, im ungünstigsten wird sie gedemütigt, geschlagen oder anderweitig schikaniert.
Schwer muss die kleine Auserwählte an ihrer Kopflast tragen, ergötzt sie sich doch schon im ersten Schuljahr nach Germanistenart an ihrer „Fähigkeit, die Zeichen in Laute zu überführen, Zeichen und Klang zusammenzubringen, das, was die Augen dem Gehirn signalisierten, mit Zunge, Zähnen, Zäpfchen, den Lippen zu formen. Lesen war für mich Sprechen. Aussprechen. Den Laut lesen. Laut lesen.” Wenig später berauscht sie sich am Klang des Lateins, der „Sprache Gottes”, und erlebt die Wörter und Sätze der Bibel, diesmal in der Version Luthers, als „schiere Magie”. Der Katholizismus zeigt seine beiden Gesichter, das einer zauberischen Wortwelt und wundersamer Heilsversprechen und das eines lüsternen Kaplans, der kleine Mädchen unsittlich berührt. Auch die Erzählerin Ulla Hahn zeigt sich von zwei Seiten, einer unterhaltsam volksnahen, gelegentlich exzessiver Drastik zugeneigten (das Huhn!) und einer hochprätenziösen, heiligmäßigen, die der Perspektive eines Kindes die Ambitionen und Erkenntnisse der reifen Dichterin unterschiebt.
Hildegard träumt von einer Geige und muss stattdessen Akkordeon spielen, „hässlich und gewöhnlich”. Sie versucht, den „Quetschebüggel” mit Bach und Buxtehude zu adeln, doch man verlangt ihr die „Lindenwirtin” ab – ein Fiasko. Ihre Rettung sind Bücher, geschenkte, geerbte, geliehene, mit denen sie sich hinter den Hühnerstall oder in einen Holzverschlag flüchtet, und selbstredend erklimmt sie eilig die Höhen der Weltliteratur. Die Lebensprobleme ihrer Cousinen versucht sie mit Nathan dem Weisen zu lösen, und während ihre Mitschülerinnen für James Dean schwärmen, verliebt sie sich in Friedrich Schiller.
Mit Rilke im Underberg
Bei der Ferienarbeit am Fließband nimmt sie das politische Engagement der Schriftstellerin Hahn vorweg, die sich in vor ihrem Aufstieg als Lyrikstern um die „Literatur der Arbeitswelt” bemühte, und munitioniert einen Frauenstreik mit gereimten Parolen. Wenn sie nicht über die Geheimnisse der Sprache und das Wesen der Wörter sinniert, dann über Liebe, Gott und Gerechtigkeit. Wo die derberen Dorfmädels ihre ersten sexuellen Erfahrungen machen, erhitzt sie ihre Sehnsucht an romantischen Projektionen. Von den Eltern nach der Realschule in eine Bürolehre gezwungen, sucht die Fünfzehnjährige, die sich inzwischen Hilla nennt, Trost im Alkohol und verschlimmbessert Rilkes „Panther” im Underbergrausch. Wären nicht zwei Lehrer und ein Pastor als Nothelfer aufgetreten, was hätte Hilla Hahn, pardon, Ulla Palm noch von ihrer Zukunft erwarten können? Vermutlich „hinter tausend Stäben keine Welt”.
Aber es wurde alles gut, Hildegard kam aufs Gymnasium, und Ulla Hahn konnte einen ergreifenden Schmöker schreiben, der zugleich ein opulentes Zeitdokument ist. Und wenn uns auch die Chronologie der Ereignisse mitunter ein wenig verwirrt hat (zum Beispiel dürfen Vivi Bach und Dietmar Schönherr hier schon vor dem Bau der Mauer das deutsche Fernsehprogramm mit „Wünsch dir was” aufmischen), warten wir doch gespannt auf die Fortsetzung, die uns erzählt, wie es mit diesem Heiligenleben weiterging.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
ULLA HAHN: Das verborgene Wort. Deutsche Verlags-Anstalt, München, 600 Seiten, 49,80 Mark.
Ulla Hahn, Fachfrau für Akkordeonspiel und Latein. Foto: teutopress
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