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Produktbeschreibung
Das neue Album der Helden des Diskursrock.
Trackliste
CD
1Eure Liebe tötet mich00:08:05
2Ein leiser Hauch von Terror00:03:31
3Die Folter endet nie00:03:53
4Das Blut an meinen Händen00:04:38
5Macht es nicht selbst00:04:10
6Bitte oszillieren sie00:02:30
7Schall und Wahn00:05:55
8Im Zweifel für den Zweifel00:04:29
9Keine Meisterwerke mehr00:03:25
10Stürmt das Schloss00:02:49
11Gesang des Tyrannen00:04:12
12Gift00:08:30
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.2010

Die Rache des Spießers
Tocotronic werden herablassend und ernst

Auch böse Menschen haben Lieder. Auf "Schall und Wahn", der neuen Platte von Tocotronic, findet sich ein "Gesang des Tyrannen". Die Überschrift bildet zugleich den ersten Vers des Liedes, wird mitgesungen. Als Vorbild mag Hofmannsthals Gedicht "Der Kaiser von China spricht" gedient haben. Eine solche Eröffnung trägt einen Moment des epischen Theaters in die Lyrik. Das Lied erklärt sich selbst, und zwar ausdrücklich. Durch die Benennung des Sprechers wird das, was auf den Doppelpunkt folgt, als Rollenpoesie ausgewiesen. Aber diese Aufklärung über das Gedicht durch das Gedicht wird von der Dialektik erfasst. Wenn die Bestimmung der Redesituation zum Gedicht gehört, ist dann der Dichter affiziert vom kaiserlichen Ton?

Der Tyrann im "Gesang des Tyrannen" singt vom Singen. Er ist nicht nur Sänger, sondern auch Dichter. Sein Nero-Befehl ist eine mit vollendeter Höflichkeit vorgetragene Bitte: "Lass mich singen", in der zweiten Strophe variiert zu "Lass mich dichten". Das Gedicht müssen wir uns als dramatisches vorstellen. Es bezieht das Publikum ein: "Das Spiel möge beginnen." Der Spielleiter weist sich als moderner Dichter aus, indem er über die historische Situation spricht, in der er spricht. "Was einst Farce war, wird Geschichte." Der satirischen Diagnose von Marx, im Zyklus der Wiederaufnahmen der bürgerlichen Revolution werde der Stoff in einer niedrigeren Gattung geboten, hat das bürgerliche Publikum nur zu gern zugestimmt, weil es viel lieber Farcen sieht als Tragödien. Das war einmal, sagt jetzt der Tyrann. Er räumt die Amüsiermeilensteine ab und gibt die Marschrichtung vor: Aus Spiel wird Ernst. Entfiktionalisierung heißt die Losung politischer Dichtung.

Gegenläufig allerdings die Erkenntnis der Lage in der dritten Strophe: "Was einst wahr war, wird erdichtet." In seiner Interpretation von Stefan Georges Gedicht "Der Herr der Insel" schreibt Gerhard Kaiser: "Die Fiktion der Dichtung sagt, dass die Dichtung eine Fiktion ist und als solche das Reich der Schönheit und nicht des Lebens." Wie sich im "Gesang des Tyrannen" über die Strophengrenzen hinweg "Farce" und "wahr", "Geschichte" und "erdichtet" reimen, so dass dem Nachklang zweimal ein Gegensatz entspricht, das ist ein schöner Effekt der Selbstaufhebung des poetischen Ausdrucks, Einkapselung und Öffnung zugleich. Das Mittelglied der zweiten Strophe: "Wer einst klar sah, hat Gesichte."

Visionen sind kein Symptom der Regression. Es sind die einstigen Aufklärer, die prophetische Rätselbilder produzieren. "Dichten" reimt sich im tyrannischen Poesiealbum auf "diesen Staat vernichten". Irrational ist die poetische Subjektivität darin, dass sie für ihre privatsprachlichen Hervorbringungen den Anspruch auf Gehör erhebt. In der Maske des Fürsten aus dem Burckhardt-Bilderbuch gibt der Dichter seine Einsamkeit als politischen Gegensatz zur Welt aus.

Seit dem "weißen Album" von 2002 befischen Tocotronic die Motivreservoire des europäischen Symbolismus. Der Bruch mit dem unverwechselbaren Stil des Frühwerks, dem Projekt einer rockmusikalischen Prosa, macht offenkundig nicht nur vielen Fans, sondern auch der Band selbst immer noch zu schaffen, was man daraus schließen kann, dass Dirk von Lotzow, Sänger und Dichter von Tocotronic, in Interviews Leute, die mit den späteren Platten nichts anfangen können, als Spießer beschimpft. Kurios nur, dass die alten Sachen gerade in einer "historisch-kritischen Edition" wieder aufgelegt worden sind. (Wie man hört, plante der Heidelberger Germanist Roland Reuß eine historisch-unkritische Gegenedition von Neupressungen mit allen Originalkratzern. Er hatte schon ein Institut für Rocktextkritik gegründet, doch dann kam das blöde Urheberrecht dazwischen!)

Als gespaltene Künstlerpersönlichkeit gibt sich unsouveränerweise der Tyrann zu erkennen, als wäre der Witz an dieser Rolle nicht, dass sie von Rollenproblemen entlastet. "Ich bin Graf von Monte Schizo und ich singe diesen Hit - so." Das ist der Rhythmus, wo man mit muss? Solche Albernheit stört das auf Erhabenheit gerichtete Kunstwollen. Der Rhythmus des "Gesangs" hat aber in der Tat etwas Zwingendes. Ein Motiv, das an den Anfang von Kurt Weills "Alabama Song" erinnert, wird ungerührt wiederholt. Der "Leierklang", den die dritte Strophe beschwört, kommt aus einem Leierkasten, der Tyrann animiert zum Mitsingen im Salzbergwerk oder am Newsdesk der Zeitung von morgen. Die Verinnerlichung des Taylorismus ist das Geheimnis der erneuerbaren Lebensenergie. "In mir brennt das ewige Feuer, kalt, modern und teuer."

Soll man dieses Preisetikett wie den kalauernden Grafen als Stilbruch rügen? Nein, das Teure ist die Endgestalt des Kostbaren und Erlesenen, eines Urelements der symbolistischen Dichtung. Die Wirkungen von Brokat und Purpur (dem "Saft der Tyrer-Schnecke" aus dem "Herrn der Insel") wollen Tocotronic mit den Mitteln der Instrumentierung erzielen. Das Quartett aus Dirk von Lotzow, Jan Müller, Arne Zank und Rick McPhail hat Streicher und Bläser in der programmatischen Absicht hinzugezogen, ein Album der "Opulenz" zu produzieren. Wie in allen Kunstrichtungen, die Raffinement durch Verschwendung markieren, ist das Resultat in einem spezifischen Sinne Geschmackssache.

Die über weite Strecken grotesken Interviewäußerungen, mit denen sich Dirk von Lotzow in den letzten Tagen überall vernehmen ließ, immer unter der Prämisse, er hasse es, sein Werk zu kommentieren, muss man wohl als konsequente Verlängerung dieser ästhetischen Strategie des Bombasts deuten: als Begleitmusik zur Begleitmusik. Wenn er beispielsweise von sich gibt, er sehe sich gar nicht in erster Linie als Musiker, sondern als Künstler, und andererseits wissen lässt, er finde "es besser, zu der Musik und zu den Texten zu tanzen, zu knutschen oder etwas dazu kaputtzuschlagen, als daran herumzuinterpretieren", dann fragt man sich zunächst, wer wohl die Maler und Bildhauer sind, zu deren Werken man knutschen kann. Doch dann fallen einem die Manieristen ein, wie sie sich der Renaissancismus um 1900 ausmalte.

Man darf Dirk von Lotzow bescheinigen, dass sich vor der dekadenten Kulisse aus Streichervorhängen, Goldblechbläsern und Gitarrenduft seine Stimme mit ihren Registern des Raunens, Säuselns und Einflüsterns ganz exquisit zur Geltung bringt. Und das achtminütige Schlussstück "Gift", dessen erster Vers "Dieses Gift ist eine Gabe" den Doppelsinn des ersten Wortes (Giftstoff, Gabe) in den des zweiten (Geschenk, Begabung) überführt, ist ein symbolistisches Meisterstück. Es handelt von sich selbst, vom Lied, das unmerklich in alle Glieder fließt und den Körper bis zum Tod nicht mehr verlässt.

PATRICK BAHNERS

Tocotronic, Schall und Wahn. Vertigo Berlin 7756004 (Universal)

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