Fallada-Biograf Peter Walther hat die Archive durchforstet und Überraschendes zutage gefördert: Zahlreiche Erzählungen Hans Falladas wurden nie veröffentlicht oder sind nur in Zeitschriften erschienen. Andere Texte aus dem Nachlass sind seit Jahren in Vergessenheit geraten. Die besten davon hat er zusammengestellt. Die Erzählungen zeigen sowohl bekannte Seiten des Autors, der Hörer kann aber zugleich auch neue entdecken.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.01.2018LITERATUR
Kein Glück in der Lumpengasse
„Alle Aufregungen und Leiden waren vergeblich gewesen“ – unbekannte Geschichten von Hans Fallada
führen in das Spiegelkabinett von Erlebtem und Erfundenem
VON JENS BISKY
Fern von den Eltern, in einer thüringischen Kleinstadt, sehnt sich ein Siebzehnjähriger nach der Liebe. Damit er das Abitur mache, wurde er in die Obhut eines Generalsuperintendenten gegeben, der alle Bewohner des Hauses sonntags zum dreimaligen Kirchenbesuch zwingt und seine „widerliche Vorliebe für Wildbraten mit dem stärksten Hautgout-Geschmack“ exzessiv auslebt. Der Junge leidet unter dem Aasgeruch, wenn das Wildbret zubereitet wird.
In seiner Einsamkeit sitzt er stundenlang am Fenster, schaut in die Landschaft, blickt hinüber ins Haus einer Schneiderin, die Mädchen im Nähen, im Sticken unterrichtet. Eines von diesen hat es ihm angetan. Es kommt zweimal in der Woche, und über die Lumpengasse hinweg fliegen die Blicke der beiden, stumm, schüchtern, ahnungslos lebensgierig.
So geht das einige Zeit, dann zeigt er ihr von Fenster zu Fenster ein Blatt Papier. Man könne doch, heißt das, einander schreiben. Sie nickt heftig, er stürzt hinaus, sie läuft hinab. Auf der Gasse reicht er ihr das leere Blatt. Die Kleinstadt hat ihren Skandal.
„Junge Liebe“ heißt diese bislang ungedruckte Erzählung Hans Falladas. Sie irritiert aus mehreren Gründen. Das Sujet – erotisches Erwachen unter strenger Aufsicht – war um 1900 populär. Fallada aber schrieb die Geschichte Anfang August 1946, wenige Monate vor seinem Tod. Er bot sie der Täglichen Rundschau und dem Nacht-Express an, aber beide, im sowjetischen Sektor Berlins erscheinenden Zeitungen lehnten ab. „Junge Liebe“ enthält reichlich Autobiografisches. Der als Rudolf Ditzen geborene Fallada war 1911 im thüringischen Rudolstadt in Pension gegeben worden. Dort beschloss er mit einem Freund den Doppelselbstmord im Duell. Der Freund starb, er überlebte.
Wie der junge Fallada hat auch der Held der Erzählung langes, blondes Haar. Das Mädchen heißt Erna – wie die Fünfzehnjährige, für die Ditzen 1911 schwärmte. Die Traumata der Jugend scheinen dem 53-jährigen Erfolgsautor sehr gegenwärtig gewesen zu sein. Mehr noch aber irritiert die Kaskade der Ernüchterungen, mit der er den kurzen Text enden ließ. Sein Held, der sich mit Selbstvorwürfen quält, dass er dem Mädchen ein unbeschriebenes Blatt gab, muss das Haus des Superintendenten verlassen, kommt zu einem Oberst a. D. in Pension, der sich um den Lebenswandel seines Schützlings wenig kümmert. Der Weg zu Erna ist frei, aber die Jugendliebe endet in Bösartigkeit. Da ihr Gesicht voller Pickel ist, lässt er sie seine Launen erdulden und wendet sich ab. Jahre später ist sie eine schöne Frau, doch nun fürchtet er, sie würde „ihn zu ihrem Sklaven machen, wie sie einst seine Sklavin gewesen war“. Und als ob das noch nicht stark genug wäre, behauptet der Erzähler im Schlusssatz, dass Erna, von der er sich ganz zurückgezogen hatte, „ihn noch immer liebte und immer lieben würde“.
Halbgar, zusammengeschustert scheint diese Erzählung, so wie die meisten in dem Band mit unveröffentlichten oder in Zeitschriften, Zeitungen publizierten Geschichten Falladas, die dessen Biograf Peter Walther ausgegraben und ediert hat. Es sind im besten Falle Skizzen, Fingerübungen. Die Fallada-typische Mischung aus Sentimentalität und Sachlichkeit, das seine Romane belebende Ineinander von Alltagsszenen und Weltdeutungsillusionen, die rasche Folge von Aufbrüchen und Abstürzen wirken in der Kürze, ohne epische Breite, oft bemüht, effekthascherisch.
Dennoch ist dieser Band sehr willkommen. Er setzt die Reihe der Fallada-Entdeckungen fort, die mit der Publikation von Gefängnisaufzeichnungen begann und – nach dem Überraschungserfolg der englischen Übersetzung des Romans „Jeder stirbt für sich allein“ – mit Neuausgaben der ungekürzte Fassungen dieses Romans und des Krisen-Klassikers „Kleiner Mann – was nun?“ fortgesetzt wurde. Peter Walther hat den Band „Junge Liebe zwischen Trümmern“ so komponiert und kommentiert, dass er als Dokumentation des abenteuerlichen, an jähen Wendungen reichen Schriftstellerlebens gelesen werden kann. Neben den Erzählungen stehen Selbstauskünfte, etwa die „Aufzeichnungen des jungen Rudolf Ditzen nach dem Scheinduell mit seinem Schulfreund“ oder die vermutlich 1933 entstandene Skizze „Schwierig oder leicht –?“. Darin verneigt sich Fallada vor Jean Paul und Joseph Conrad, deren Gemeinsames er in der „bewussten, gewollten Schwierigkeit“ sah. Und dann prüft er sich: „Ich habe gewissermaßen und wider Erwarten einen Bucherfolg gehabt, ich bin das geworden, was man einen Volksschriftsteller, einen populären Mann nennt. Aber nun sitze ich da und grübele: leicht oder schwierig? Verführt Leichtigkeit nicht zum Hinterherlaufen hinter jedem Erfolg, wird man nicht flach, seicht?“
Fallada war ein Süchtiger, auch und gerade als Schriftsteller. Er füllte die Seiten mit einer gleichermaßen Furcht und Bewunderung erregenden Geschwindigkeit. Seiner Unfähigkeit, nicht zu schreiben, verdanken wir nicht nur die großen Romane, sondern auch die rasch hingeworfenen Erzählungen. Darunter sind etwa zwei bezaubernde Skizzen aus dem Nachkriegsberlin.
„Der Pott in der U-Bahn“ wurde am 1. Februar 1946 in der Täglichen Rundschau veröffentlicht. Es geht um einen Kochtopf, der im U-Bahn-Wagen erst an den einen, dann an den anderen verkauft wird und schließlich als Hochzeitstagsgeschenk endet.
In „Junge Liebe zwischen Trümmern“ schildert Fallada ein Paar, dessen Glück die anderen missgünstig stimmt, böse Blicke provoziert und das dennoch nicht voneinander lassen kann, das der Trostlosigkeit der zerstörten Stadt widersteht: „Sie haben ja nur dieses eine Leben. Man kann gar nicht früh genug anfangen, es mit Liebe und Glück zu erfüllen.“
Im längsten Text des Bandes, den er für den Literarischen Klub an der Schule seines Sohnes Uli schrieb, rekapituliert Fallada seine Entwicklung zum Schriftsteller: „Schreibe ich denn diese Bücher? Es schreibt sie in mir.“ Dieser Vortrag, Ende 1946 in der Charité verfasst, wurde seine letzte literarische Arbeit. Am Neujahrstag 1947 soll sein Zustand sich kurz gebessert haben. Er las Jean Paul. Am 5. Februar starb er in einem Behelfskrankenhaus in Niederschönhausen.
„Ich bin das geworden, was
man einen Volksschriftsteller,
einen populären Mann nennt.“
Man kann nicht früh genug
anfangen, dieses eine Leben
mit Liebe und Glück zu erfüllen
„Schreibe ich denn diese Bücher? Es schreibt sie in mir.“ Hans Fallada (1893 – 1947) mit seiner Frau Anna Issel vor seinem Wochenendhaus in Carwitz bei Berlin.
Foto: SZ-Photo
Hans Fallada: Junge Liebe zwischen Trümmern. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Walther. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 298 Seiten, 20 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Kein Glück in der Lumpengasse
„Alle Aufregungen und Leiden waren vergeblich gewesen“ – unbekannte Geschichten von Hans Fallada
führen in das Spiegelkabinett von Erlebtem und Erfundenem
VON JENS BISKY
Fern von den Eltern, in einer thüringischen Kleinstadt, sehnt sich ein Siebzehnjähriger nach der Liebe. Damit er das Abitur mache, wurde er in die Obhut eines Generalsuperintendenten gegeben, der alle Bewohner des Hauses sonntags zum dreimaligen Kirchenbesuch zwingt und seine „widerliche Vorliebe für Wildbraten mit dem stärksten Hautgout-Geschmack“ exzessiv auslebt. Der Junge leidet unter dem Aasgeruch, wenn das Wildbret zubereitet wird.
In seiner Einsamkeit sitzt er stundenlang am Fenster, schaut in die Landschaft, blickt hinüber ins Haus einer Schneiderin, die Mädchen im Nähen, im Sticken unterrichtet. Eines von diesen hat es ihm angetan. Es kommt zweimal in der Woche, und über die Lumpengasse hinweg fliegen die Blicke der beiden, stumm, schüchtern, ahnungslos lebensgierig.
So geht das einige Zeit, dann zeigt er ihr von Fenster zu Fenster ein Blatt Papier. Man könne doch, heißt das, einander schreiben. Sie nickt heftig, er stürzt hinaus, sie läuft hinab. Auf der Gasse reicht er ihr das leere Blatt. Die Kleinstadt hat ihren Skandal.
„Junge Liebe“ heißt diese bislang ungedruckte Erzählung Hans Falladas. Sie irritiert aus mehreren Gründen. Das Sujet – erotisches Erwachen unter strenger Aufsicht – war um 1900 populär. Fallada aber schrieb die Geschichte Anfang August 1946, wenige Monate vor seinem Tod. Er bot sie der Täglichen Rundschau und dem Nacht-Express an, aber beide, im sowjetischen Sektor Berlins erscheinenden Zeitungen lehnten ab. „Junge Liebe“ enthält reichlich Autobiografisches. Der als Rudolf Ditzen geborene Fallada war 1911 im thüringischen Rudolstadt in Pension gegeben worden. Dort beschloss er mit einem Freund den Doppelselbstmord im Duell. Der Freund starb, er überlebte.
Wie der junge Fallada hat auch der Held der Erzählung langes, blondes Haar. Das Mädchen heißt Erna – wie die Fünfzehnjährige, für die Ditzen 1911 schwärmte. Die Traumata der Jugend scheinen dem 53-jährigen Erfolgsautor sehr gegenwärtig gewesen zu sein. Mehr noch aber irritiert die Kaskade der Ernüchterungen, mit der er den kurzen Text enden ließ. Sein Held, der sich mit Selbstvorwürfen quält, dass er dem Mädchen ein unbeschriebenes Blatt gab, muss das Haus des Superintendenten verlassen, kommt zu einem Oberst a. D. in Pension, der sich um den Lebenswandel seines Schützlings wenig kümmert. Der Weg zu Erna ist frei, aber die Jugendliebe endet in Bösartigkeit. Da ihr Gesicht voller Pickel ist, lässt er sie seine Launen erdulden und wendet sich ab. Jahre später ist sie eine schöne Frau, doch nun fürchtet er, sie würde „ihn zu ihrem Sklaven machen, wie sie einst seine Sklavin gewesen war“. Und als ob das noch nicht stark genug wäre, behauptet der Erzähler im Schlusssatz, dass Erna, von der er sich ganz zurückgezogen hatte, „ihn noch immer liebte und immer lieben würde“.
Halbgar, zusammengeschustert scheint diese Erzählung, so wie die meisten in dem Band mit unveröffentlichten oder in Zeitschriften, Zeitungen publizierten Geschichten Falladas, die dessen Biograf Peter Walther ausgegraben und ediert hat. Es sind im besten Falle Skizzen, Fingerübungen. Die Fallada-typische Mischung aus Sentimentalität und Sachlichkeit, das seine Romane belebende Ineinander von Alltagsszenen und Weltdeutungsillusionen, die rasche Folge von Aufbrüchen und Abstürzen wirken in der Kürze, ohne epische Breite, oft bemüht, effekthascherisch.
Dennoch ist dieser Band sehr willkommen. Er setzt die Reihe der Fallada-Entdeckungen fort, die mit der Publikation von Gefängnisaufzeichnungen begann und – nach dem Überraschungserfolg der englischen Übersetzung des Romans „Jeder stirbt für sich allein“ – mit Neuausgaben der ungekürzte Fassungen dieses Romans und des Krisen-Klassikers „Kleiner Mann – was nun?“ fortgesetzt wurde. Peter Walther hat den Band „Junge Liebe zwischen Trümmern“ so komponiert und kommentiert, dass er als Dokumentation des abenteuerlichen, an jähen Wendungen reichen Schriftstellerlebens gelesen werden kann. Neben den Erzählungen stehen Selbstauskünfte, etwa die „Aufzeichnungen des jungen Rudolf Ditzen nach dem Scheinduell mit seinem Schulfreund“ oder die vermutlich 1933 entstandene Skizze „Schwierig oder leicht –?“. Darin verneigt sich Fallada vor Jean Paul und Joseph Conrad, deren Gemeinsames er in der „bewussten, gewollten Schwierigkeit“ sah. Und dann prüft er sich: „Ich habe gewissermaßen und wider Erwarten einen Bucherfolg gehabt, ich bin das geworden, was man einen Volksschriftsteller, einen populären Mann nennt. Aber nun sitze ich da und grübele: leicht oder schwierig? Verführt Leichtigkeit nicht zum Hinterherlaufen hinter jedem Erfolg, wird man nicht flach, seicht?“
Fallada war ein Süchtiger, auch und gerade als Schriftsteller. Er füllte die Seiten mit einer gleichermaßen Furcht und Bewunderung erregenden Geschwindigkeit. Seiner Unfähigkeit, nicht zu schreiben, verdanken wir nicht nur die großen Romane, sondern auch die rasch hingeworfenen Erzählungen. Darunter sind etwa zwei bezaubernde Skizzen aus dem Nachkriegsberlin.
„Der Pott in der U-Bahn“ wurde am 1. Februar 1946 in der Täglichen Rundschau veröffentlicht. Es geht um einen Kochtopf, der im U-Bahn-Wagen erst an den einen, dann an den anderen verkauft wird und schließlich als Hochzeitstagsgeschenk endet.
In „Junge Liebe zwischen Trümmern“ schildert Fallada ein Paar, dessen Glück die anderen missgünstig stimmt, böse Blicke provoziert und das dennoch nicht voneinander lassen kann, das der Trostlosigkeit der zerstörten Stadt widersteht: „Sie haben ja nur dieses eine Leben. Man kann gar nicht früh genug anfangen, es mit Liebe und Glück zu erfüllen.“
Im längsten Text des Bandes, den er für den Literarischen Klub an der Schule seines Sohnes Uli schrieb, rekapituliert Fallada seine Entwicklung zum Schriftsteller: „Schreibe ich denn diese Bücher? Es schreibt sie in mir.“ Dieser Vortrag, Ende 1946 in der Charité verfasst, wurde seine letzte literarische Arbeit. Am Neujahrstag 1947 soll sein Zustand sich kurz gebessert haben. Er las Jean Paul. Am 5. Februar starb er in einem Behelfskrankenhaus in Niederschönhausen.
„Ich bin das geworden, was
man einen Volksschriftsteller,
einen populären Mann nennt.“
Man kann nicht früh genug
anfangen, dieses eine Leben
mit Liebe und Glück zu erfüllen
„Schreibe ich denn diese Bücher? Es schreibt sie in mir.“ Hans Fallada (1893 – 1947) mit seiner Frau Anna Issel vor seinem Wochenendhaus in Carwitz bei Berlin.
Foto: SZ-Photo
Hans Fallada: Junge Liebe zwischen Trümmern. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter Walther. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 298 Seiten, 20 Euro.
E-Book 15,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.01.2018Dort sickert mein Blut
Autor auf der Kippe: Neues aus Hans Falladas Nachlass
Jean Pauls Werk, einst geliebt, hundert Jahre später von den meisten Lesern vergessen, sei wie ein ungepflegter, eigentlich aber doch ganz hübscher Mensch, fand Hans Fallada. Beide, so schreibt er in seinem undatierten Aufsatz "Schwierig oder leicht?", der Schmutzfink wie das Werk, legten potentiellen Bewunderern absichtlich Steine in den Weg. Jean Paul jedenfalls "erzählt nie etwas gradezu. Was er auch zu erzählen hat, er erzählt es auf dem längsten nur möglichen Umwege, er überspringt die Pointen, er schachtelt Privatansichten, Aufgelesenes, Wissensballast ein, kurz, er ist ein Kauz, er ist bewusst schwierig, er will nicht leicht sein". Er selbst aber, sagt Fallada, der nun mal "aus Versehen und wider Erwarten" zum Erfolgsautor geworden sei, frage sich seither, ob das Leichte nicht zum Seichten führe und ob er für sein eigenes Schreiben nicht den schwierigen Weg Jean Pauls einschlagen solle.
Interessanterweise navigiert sich Fallada in diesem Text um die Frage herum, warum Jean Paul damals trotz allen Hürden zum Lieblingsautor einer Generation hatte werden können und ob Zugänglichkeit nicht auch etwas mit Leseerwartungen zu tun habe, die sich über die Zeiten eben änderten. Wie Falladas Entscheidung jedenfalls letztlich ausgefallen ist, lässt sich an seinen Romanen ablesen - Texte wie "Kleiner Mann - was nun?", "Wolf unter Wölfen" oder "Der eiserne Gustav" haben andere Qualitäten als den Jean-Paulschen Stil. Und die Renaissance, die sie seit nunmehr gut zehn Jahren bei der auch englischsprachigen Leserschaft erleben, speist sich nicht zuletzt aus den ebenso klaren wie eindringlichen Schilderungen einer bewegten Zeit, die allerdings auch dem Autor, der sich nach 1933 zur Emigration nicht entschließen konnte, einige Verrenkungen und Kompromisse abverlangte, was erst in jüngerer Zeit durch Publikationen von unzensierten Fassungen einiger Texte richtig sichtbar geworden ist.
Dieser Tage ist ein Band erschienen, der unter dem Titel "Junge Liebe zwischen Trümmern" und herausgegeben von dem Fallada-Biographen Peter Walther insgesamt 27 bislang fast oder vollständig unbekannte Texte des Autors versammelt. Sie stammen aus allen Schaffensphasen Falladas, von der Schulzeit bis zum Lebensende - der Schriftsteller, geboren 1893 in Greifswald, starb am 5. Februar 1947 im Hilfskrankenhaus Niederschönhausen und schrieb noch in den letzten Monaten einige der dreizehn Texte, die hier aus dem Nachlass erstmals erscheinen. Andere wurden etwa in Tageszeitungen publiziert und später nie wieder aufgelegt, so dass der Band in jedem Fall eine editorische Lücke füllt, wenn auch nicht immer zum Vorteil des Autors: Es sind zu einem erheblichen Teil offensichtliche Gelegenheitsarbeiten eines Erfolgsautors, und gerade wo der angeschlagene Ton unterhaltend sein möchte, geht die Sache schief.
"Die Verkäuferin auf der Kippe", publiziert erstmals 1928 im "Hamburger Echo", ist so ein Fall. Pseudodokumentarisch gibt Fallada hier die eine Hälfte eines Telefonats zwischen zwei jungen Verkäuferinnen wieder, muss aber, damit die Diskussion nachvollziehbar ist, jeweils die eine Beteiligte die Äußerungen der anderen zusammenfassend wiederholen lassen, und das ermüdet dann doch.
Überhaupt sind viele eher skizzierte als ganz ausgeführte Texte enthalten, darunter freilich einer, den der Herausgeber wohl zu Recht als Beginn eines nie beendeten Nachkriegsromans einstuft, und von diesem "Ich, der verlorene Findling", entstanden im letzten Lebensjahr des Autors, hätte man gern mehr gelesen.
Das gilt auch für das vielleicht seltsamste Stück des Bandes, zugleich die aufregendste Entdeckung: In einer kurzen Skizze erzählt Fallada noch einmal die berühmte Geschichte seines gescheiterten Selbstmords in Rudolstadt - als Jugendlicher verabredete er sich mit einem Freund zu einem Duell, das den geplanten Doppelsuizid vertuschen sollte. Der Freund starb von Falladas Hand, er selbst überlebte schwerverletzt, und die nun ans Licht gekommene Skizze widmet sich ausführlich und detailverliebt den Minuten danach: der eigenen Brustwunde, aus der das Blut sickert, den Hilferufen, die er von sich gibt, weil er gelesen hat, dass man das in solchen Fällen tue, und schließlich dem beherrschenden Gefühl des Grauens vor der hinter ihm liegenden Leiche des Freundes.
Hier findet der nicht einmal Zwanzigjährige zu einer Intensität der Beobachtung, die dem späteren Schriftsteller keineswegs ständig zur Verfügung steht. Falladas Schreiben jedenfalls erscheint im Licht dieser und anderer Selbstschilderungen des Bandes permanenten Wechseln unterworfen, so, als suchte er seinen Stil bis zum Ende.
In seinen letzten Stunden im Krankenhaus soll Fallada Jean Paul gelesen haben.
TILMAN SPRECKELSEN
Hans Fallada: "Junge Liebe zwischen Trümmern". Mit unveröffentlichten Erzählungen.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Walther. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 298 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Autor auf der Kippe: Neues aus Hans Falladas Nachlass
Jean Pauls Werk, einst geliebt, hundert Jahre später von den meisten Lesern vergessen, sei wie ein ungepflegter, eigentlich aber doch ganz hübscher Mensch, fand Hans Fallada. Beide, so schreibt er in seinem undatierten Aufsatz "Schwierig oder leicht?", der Schmutzfink wie das Werk, legten potentiellen Bewunderern absichtlich Steine in den Weg. Jean Paul jedenfalls "erzählt nie etwas gradezu. Was er auch zu erzählen hat, er erzählt es auf dem längsten nur möglichen Umwege, er überspringt die Pointen, er schachtelt Privatansichten, Aufgelesenes, Wissensballast ein, kurz, er ist ein Kauz, er ist bewusst schwierig, er will nicht leicht sein". Er selbst aber, sagt Fallada, der nun mal "aus Versehen und wider Erwarten" zum Erfolgsautor geworden sei, frage sich seither, ob das Leichte nicht zum Seichten führe und ob er für sein eigenes Schreiben nicht den schwierigen Weg Jean Pauls einschlagen solle.
Interessanterweise navigiert sich Fallada in diesem Text um die Frage herum, warum Jean Paul damals trotz allen Hürden zum Lieblingsautor einer Generation hatte werden können und ob Zugänglichkeit nicht auch etwas mit Leseerwartungen zu tun habe, die sich über die Zeiten eben änderten. Wie Falladas Entscheidung jedenfalls letztlich ausgefallen ist, lässt sich an seinen Romanen ablesen - Texte wie "Kleiner Mann - was nun?", "Wolf unter Wölfen" oder "Der eiserne Gustav" haben andere Qualitäten als den Jean-Paulschen Stil. Und die Renaissance, die sie seit nunmehr gut zehn Jahren bei der auch englischsprachigen Leserschaft erleben, speist sich nicht zuletzt aus den ebenso klaren wie eindringlichen Schilderungen einer bewegten Zeit, die allerdings auch dem Autor, der sich nach 1933 zur Emigration nicht entschließen konnte, einige Verrenkungen und Kompromisse abverlangte, was erst in jüngerer Zeit durch Publikationen von unzensierten Fassungen einiger Texte richtig sichtbar geworden ist.
Dieser Tage ist ein Band erschienen, der unter dem Titel "Junge Liebe zwischen Trümmern" und herausgegeben von dem Fallada-Biographen Peter Walther insgesamt 27 bislang fast oder vollständig unbekannte Texte des Autors versammelt. Sie stammen aus allen Schaffensphasen Falladas, von der Schulzeit bis zum Lebensende - der Schriftsteller, geboren 1893 in Greifswald, starb am 5. Februar 1947 im Hilfskrankenhaus Niederschönhausen und schrieb noch in den letzten Monaten einige der dreizehn Texte, die hier aus dem Nachlass erstmals erscheinen. Andere wurden etwa in Tageszeitungen publiziert und später nie wieder aufgelegt, so dass der Band in jedem Fall eine editorische Lücke füllt, wenn auch nicht immer zum Vorteil des Autors: Es sind zu einem erheblichen Teil offensichtliche Gelegenheitsarbeiten eines Erfolgsautors, und gerade wo der angeschlagene Ton unterhaltend sein möchte, geht die Sache schief.
"Die Verkäuferin auf der Kippe", publiziert erstmals 1928 im "Hamburger Echo", ist so ein Fall. Pseudodokumentarisch gibt Fallada hier die eine Hälfte eines Telefonats zwischen zwei jungen Verkäuferinnen wieder, muss aber, damit die Diskussion nachvollziehbar ist, jeweils die eine Beteiligte die Äußerungen der anderen zusammenfassend wiederholen lassen, und das ermüdet dann doch.
Überhaupt sind viele eher skizzierte als ganz ausgeführte Texte enthalten, darunter freilich einer, den der Herausgeber wohl zu Recht als Beginn eines nie beendeten Nachkriegsromans einstuft, und von diesem "Ich, der verlorene Findling", entstanden im letzten Lebensjahr des Autors, hätte man gern mehr gelesen.
Das gilt auch für das vielleicht seltsamste Stück des Bandes, zugleich die aufregendste Entdeckung: In einer kurzen Skizze erzählt Fallada noch einmal die berühmte Geschichte seines gescheiterten Selbstmords in Rudolstadt - als Jugendlicher verabredete er sich mit einem Freund zu einem Duell, das den geplanten Doppelsuizid vertuschen sollte. Der Freund starb von Falladas Hand, er selbst überlebte schwerverletzt, und die nun ans Licht gekommene Skizze widmet sich ausführlich und detailverliebt den Minuten danach: der eigenen Brustwunde, aus der das Blut sickert, den Hilferufen, die er von sich gibt, weil er gelesen hat, dass man das in solchen Fällen tue, und schließlich dem beherrschenden Gefühl des Grauens vor der hinter ihm liegenden Leiche des Freundes.
Hier findet der nicht einmal Zwanzigjährige zu einer Intensität der Beobachtung, die dem späteren Schriftsteller keineswegs ständig zur Verfügung steht. Falladas Schreiben jedenfalls erscheint im Licht dieser und anderer Selbstschilderungen des Bandes permanenten Wechseln unterworfen, so, als suchte er seinen Stil bis zum Ende.
In seinen letzten Stunden im Krankenhaus soll Fallada Jean Paul gelesen haben.
TILMAN SPRECKELSEN
Hans Fallada: "Junge Liebe zwischen Trümmern". Mit unveröffentlichten Erzählungen.
Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Walther. Aufbau Verlag, Berlin 2017. 298 S., Abb., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main