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1981 wird in der DDR ein junger Student der Zahnmedizin bei Vorbereitungen zur Republikflucht gefaßt und kurz darauf zu zwanzig Monaten Haft verurteilt. In der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg-Görden gerät er in eine ihm völlig fremde Welt von Schwerverbrechern. Da er sein Studium bereits abgeschlossen hatte, darf er nach einiger Zeit im Haftkrankenhaus arbeiten. Dabei hat er keine Wahl: Mörder, Vergewaltiger und Kinderschänder werden zu seinen Patienten und helfen ihm als Assistenten im Behandlungszimmer. Dieser Welt, die von der Öffentlichkeit streng abgeschirmt war, nähert sich Roland…mehr

Produktbeschreibung
1981 wird in der DDR ein junger Student der Zahnmedizin bei Vorbereitungen zur Republikflucht gefaßt und kurz darauf zu zwanzig Monaten Haft verurteilt. In der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg-Görden gerät er in eine ihm völlig fremde Welt von Schwerverbrechern. Da er sein Studium bereits abgeschlossen hatte, darf er nach einiger Zeit im Haftkrankenhaus arbeiten. Dabei hat er keine Wahl: Mörder, Vergewaltiger und Kinderschänder werden zu seinen Patienten und helfen ihm als Assistenten im Behandlungszimmer. Dieser Welt, die von der Öffentlichkeit streng abgeschirmt war, nähert sich Roland Garve mit Neugier und Abscheu zugleich. Er gefällt sich nicht in der Rolle des Opfers, sondern nutzt die Gelegenheit, Umwelt und Mitgefangene zu beobachten. Seine präzise, lakonische und teilweise auch humorvolle Erzählweise zieht den Leser in den Bann der Ereignisse und zeigt neben der alltäglichen Brutalität auch die tragikomischen Seiten des Haftdaseins genau wie das Bemühen, Menschlichkeit zu bewahren.
Autorenporträt
Garve, RolandJahrgang 1955, Studium der Zahnmedizin an der Universität Greifswald; 1981-83 wegen Vorbereitungen zur Republikflucht in der Strafvollzugseinrichtung Brandenburg-Görden inhaftiert, danach Ausreise aus der DDR; 1985 Promotion an der Universität Hamburg, ausgedehnte Forschungsreisen als Mediziner und Dokumentarist nach Afrika, Neuguinea, Südamerika, seit 1990 Zusammenarbeit mit den Völkerkundemuseen in Leipzig und Dresden bei der Feldforschung in Amazonien, Fachvorträge zu Ethnomedizin und Völkerkunde, Arbeit als Kameramann, Fotograf und Autor, Produktion zahlreicher Dokumentarfilme über Naturvölker, u.a.: 'Mein Grün hat tausend Namen', 1990; 'Heller Wahnsinn', 1991; 'Zoe-Indianer - Versteckt im Regenwald', 1996; 'Die Zwergmenschen von Neuguinea', 2007.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.11.1999

Das soll mein Staat sein?
Backpflaumen sind Gift für die Zähne: Was ein Arzt unter den gestrauchelten Brüdern in der DDR erlebte / Von Gangolf Seitz

Den Zahnmediziner Roland Garve zieht es in die weite Welt. Er träumt von Expeditionen durch Neuguinea zu unbekannten Papuastämmen und in den Regenwald des Amazonas mit seinen riesigen Käfern und Schmetterlingen. Sein Pech: Er lebt in der DDR, die es sich nicht leisten kann, ihre Bürger weiter als bis Bulgarien reisen zu lassen. Garve beschließt, diesem Staat den Rücken zu kehren. Er plant die Flucht als Tauchgang durch die Elbe bei Lauenburg. Doch die Stasi bekommt Wind von Garves Fluchtplänen, und als er sich 1981 an einer explodierenden Sauerstoffflasche seines selbst gebastelten Tauchgeräts verletzt und ärztlicher Behandlung bedarf, wird er direkt aus dem Akutkrankenhaus inhaftiert.

Verurteilt wird er zu zwanzig Monaten Zuchthaus, die er im traditionsbeladenen Brandenburg-Görden absitzen muss, wo in der Nazi-Zeit schon Erich Honecker und Robert Havemann inhaftiert waren. Der DDR dient die "Strafvollzugseinrichtung" vor allem zur Verwahrung von Gewalttätern, von den 3000 Insassen sind nur etwa zehn Prozent "politisch".

Die von einem Mediziner geforderte Fähigkeit, einen Patienten genau zu untersuchen und das Gesehene, Gefühlte und Gehörte anschließend nachvollziehbar niederzuschreiben, Garve beherrscht sie. Der hier untersuchte "Patient" ist allerdings eine Haftanstalt mit mehreren tausend Insassen, ein vielfach verschachtelter Komplex, in dem sich die Schicksale der dort Lebenden zwanghaft miteinander verbinden, in dem sich skurrile und absurde Ereignisse abwechseln mit grausamen und abscheulichen. Garve wird dieser nicht leichten Aufgabe gerecht: Die Darstellung seines "Patienten Zuchthaus" ist überzeugend.

Nach einigen Monaten Zwangsarbeit in der dreckigen und lauten Fabrikhalle eines in das Gefängnis integrierten Elektromotorenwerks wird Garve in das Anstaltskrankenhaus versetzt, wo er in seinem Beruf als Zahnarzt arbeiten darf. Das Leben hier erscheint ihm wie ein Traum, verglichen mit den erbärmlichen Umständen der normalen Haft. Mit dem kundigen Blick des Mediziners skizziert er die Arbeitsbedingungen und lässt uns an Patientenschicksalen teilhaben. So sehr ihn diese Veränderung erfreut, so wenig erfüllt sich eine andere, größere Hoffnung: nach angemessener Haftzeit im Rahmen einer Freikaufaktion als "Ausweiser" nach Westdeutschland zu kommen. Stattdessen wird Garve nach vollständig verbüßter Haft in die DDR entlassen.

Sein Verhältnis zu diesem Staat war vor seiner Haftzeit zwiespältig: Zum einen entwickelte er den unbändigen Wunsch, in Urwälder und Mangrovensümpfe zu reisen, aus der miefigen Enge dieses grauen, preußisch-durchorganisierten Landes zu fliehen, zum anderen war er aber auch dessen Kind und hat in Jahren der Indoktrination vieles von der Staatspropaganda verinnerlicht. Was von den Machthabern, Autoritäten und Medien gebetsmühlenartig ständig wiederholt wird, kann doch so ganz falsch nicht sein. Wie sicher viele Mitbürger ist sich Garve unsicher, ob nicht das vom Westfernsehen gezeichnete Bild des Westens genauso falsch und klischeehaft ist wie das DDR-Bild des Ostfernsehens. Mag auch das Leben des DDR-Bürgers bescheiden und bevormundet verlaufen, so kann sich doch der Bürger auf diesen Staat im Großen und Ganzen verlassen. Mit vielen Überraschungen ist da nicht zu rechnen.

Umso größer ist Garves Erstaunen, als er feststellen muss, dass die DDR durchaus nicht dem Bild entspricht, das durch ihre Medien verbreitet wird. Fassungslos findet sich Garve plötzlich inmitten von Schwerverbrechern, einer Spezies, die es offiziell im real existierenden Sozialismus gar nicht gibt. Sein Bild der DDR gerät dadurch möglicherweise mehr ins Wanken als je zuvor: Nicht nur hat der Staat seinen Bürgern die Existenz von Tausenden von Mördern verschwiegen, sondern er ist auch noch so perfide, den Republikflüchtling und Zahnarzt Garve gemeinsam mit diesen Menschen in ein Gefängnis zu stecken. Kein Wunder, dass er nach seiner Haftentlassung seine den Staat ablehnende Haltung deutlicher als zuvor merken lässt. Was dann schließlich auch dazu führt, dass die DDR ihn freigibt: Zehn Monate nach der Entlassung lässt man ihn gen Westen ziehen.

Auf diese Weise erfüllt sich dann doch noch Garves Traum, in exotische Länder reisen zu könne. Garve hat mittlerweile von dieser Möglichkeit reichlich Gebrauch gemacht und eine stattliche Anzahl von Büchern und Filmen über entlegene Gegenden und vergessene Völker vorgelegt. Genauso bewahrenswert wie diese Erkenntnisse ist aber sein Bericht über einen Aspekt der mittlerweile untergegangenen DDR: die Zustände in einem berüchtigten Zuchthaus dieses totalitären Staates. Es ist Roland Garve zu danken, dass er seine Hafterlebnisse festgehalten hat.

Roland Garve: "Unter Mördern". Ein Arzt erlebt den Schwerverbrecherknast. Ch. Links Verlag, Berlin 1999. 256 S., br., 29,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Ein Zahnarzt träumte von Papua-Neuguinea. Aber dummerweise lebte er in der DDR. Er versuchte zu fliehen und wurde ins Gefängnis zu Schwerverbrechern gesteckt. Gangolf Seitz schildert in seiner Rezension, wie erst hier Garves Bild von der DDR endgültig erschüttert wurde. Das System hatte es seiner Öffentlichkeit schlicht verschwiegen, dass es in ihm auch Mörder gab. Seitz nennt diesen „Bericht über einen Aspekt der untergegangenen DDR“ bewahrenswert.

© Perlentaucher Medien GmbH