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"Schwarmstruktur" nennt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Gerhard Neumann das an musikalische Gepflogenheiten erinnernde Verfahren seines autobiographischen Selbstversuchs: Immer wieder werden Themen und Ereignisse erneut aufgegriffen und in anderen Kontexten innovativ variierend verdichtet. Dazu zählen Flucht und Erinnerung, die Funktionen der im Blick auf Aristoteles gesehenen Metapher, Kultur, Ritual, deren Theorie und Lebenswirklichkeit. Ein Schlüsselereignis für Neumann ist die frühe Kränkung durch Paul Celan, die dazu führte, dass er, der als Fahrer der folgenreichen Begegnung…mehr

Produktbeschreibung
"Schwarmstruktur" nennt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Gerhard Neumann das an musikalische Gepflogenheiten erinnernde Verfahren seines autobiographischen Selbstversuchs: Immer wieder werden Themen und Ereignisse erneut aufgegriffen und in anderen Kontexten innovativ variierend verdichtet. Dazu zählen Flucht und Erinnerung, die Funktionen der im Blick auf Aristoteles gesehenen Metapher, Kultur, Ritual, deren Theorie und Lebenswirklichkeit. Ein Schlüsselereignis für Neumann ist die frühe Kränkung durch Paul Celan, die dazu führte, dass er, der als Fahrer der folgenreichen Begegnung Celans mit Heidegger 'stummer Zeuge' während der Autofahrt nach Todtnauberg war, fünfzig Jahre über dieses Ereignis und seine Folgen geschwiegen hat.
Wenige Tage vor seinem Tod Ende 2017 konnte Gerhard Neumann seinen Selbstversuch abschließen. Aus dieser Perspektive stellt der autobiographische Text ein wunderbares Zeugnis eines im Sinne Alkmaions von Kroton vollendeten Kreises dar, der den Anfang mit dem Ende des Lebens zusammenschließt.
Autorenporträt
Neumann, Gerhard
GERHARD NEUMANN (1934-2017), Studium der Germanistik und Romanistik. Professuren an den Universitäten Bonn, Erlangen, Freiburg i.Br., München, seit 2002 emeritiert, seit 2005 Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen u.a. zu Lichtenberg, Goethe, Kleist, Fontane und Kafka, zur Poetik, Methodik, Kultur- und Editionswissenschaft. Mitherausgeber der historisch-kritischen Kafka-Ausgabe und des Hofmannsthal-Jahrbuchs zur europäischen Moderne.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.12.2018

Die offene Wunde
In seinem nachgelassenen autobiografischen „Selbstversuch“ verarbeitet der 2017 verstorbene
Literaturwissenschaftler Gerhard Neumann eine Kränkung, die ihm der Dichter Paul Celan zufügte
VON HELMUT BÖTTIGER
Gerhard Neumann war einer der einflussreichsten und mächtigsten Literaturwissenschaftler der letzten Jahrzehnte. Das wirkt immer noch überraschend, wenn man seine samtene Stimme und seinen verbindlichen Habitus („Wenn Sie so wollen …“) im Ohr hat, seine einfallsreichen Wechselspiele zwischen „Natur und Kultur“ oder „Lizenz und Tabu“ – oft ausgeführt an den Lieblingsobjekten Kafka und Kleist. Das zelebriert er auch gleich auf den ersten Seiten seines autobiografischen „Selbstversuchs“, den er kurz vor seinem Tod im Jahr 2017 noch fertigstellte. Fast augenzwinkernd, nichtsdestoweniger aber kathederwirksam finden sich da lieb gewordene Formulierungen wie „Niemand hat die Lage genauer beschrieben als Heinrich von Kleist“ und „Vielleicht ist es Kafka gewesen, der diese neue Situation besonders scharf beleuchtet hat“.
Das Genre der Autobiografie ist für einen Gelehrten besonders tückisch. Gewohnt, die Gegenstände aus der Distanz scharf umrissen zu sehen, sie hin und her zu wenden und mit einem objektivierenden Gestus zu arrangieren, wird die eigene Person zu einer speziellen Herausforderung. Der Verfasser versucht deshalb, sich theoretisch abzusichern, spricht von unvermeidlichen „Fehlerinnerungen“ und findet ein Wort, das seiner Praxis entspricht, Begriffe sinnlich aufzuladen: die Form seiner autobiografischen Erinnerungen nennt er „Text-Schwarm“, in Analogie zum Vogelschwarm. Das ist für ihn die Möglichkeit, „zwischen System und Chaos zu vermitteln“. Neumann, der 1934 geboren wurde, erzählt nicht chronologisch, sondern in Schüben, mit vielen, zum Teil wörtlichen Wiederholungen.
Sehr plastisch erscheint das deutsche Elternhaus im tschechoslowakischen Brünn, das seit März 1939 zum Protektorat Böhmen und Mähren gehörte, in einem reichen Stadtviertel. Die Vertreibung, das Studium in Freiburg und längere Aufenthalte in Paris werden fragmentarisch beleuchtet. Es ist aber aufschlussreich, dass das Anfangskapitel „Chronik der Lektüren“ das intimste Zeugnis der Annäherung des Autors an sich selbst ist. Die „Urszene“ in Neumanns Lesebiografie findet im Lesesaal in Oxford beim Umblättern von Kafkas Oktavheften statt: „Dies war eine Erfahrung des Ausnahmezustands, der zwischen Leben und Schriftzeichen sich auftut“. Die Edition von Kafkas Texten, der „Akt der Deutung bei der Lektüre“, die Darstellung des Gelesenen durch „neue Schrift- und zuletzt durch Druckzeichen“: das ist selbst etwas Schöpferisches.
Es sind nicht einzelne Texte, die den Autor elektrisieren, und er gesteht, kaum Lieblingsautoren nennen zu können (außer etwas schalkhaft Karl May). Es geht ihm um „die Literatur“ als kulturelles Muster, das die eigene Existenz beglaubigt, um die Erfahrung der Schrift, in die man eintauchen und die man weiterschreiben kann – die Literatur als weitläufiges, empfindliches System, das die Vorstellung einer „Sekundärliteratur“ gar nicht zulässt.
Die „politische Aufgabe“ der Philologen sieht Neumann in ihrer Arbeit am „performativen Geschehen der Sprache“, und das Wort „Politik“ gebraucht er in diesem Sinne lustvoll und differenziert. Wenn es allerdings um konkrete Tagespolitik geht, stößt man in seiner Autobiografie auf erstaunliche Leerstellen. Wie sehr sein Vater in den Nationalsozialismus verstrickt war, beschäftigt ihn verblüffenderweise gar nicht. Er erwähnt eher nebenbei, dass sich seine großbürgerlichen Eltern im böhmischen Brünn zu jener „Bewegung“ bekannten und nach dem Einmarsch der Nazis 1939 auch sofort aus der Kirche ausgetreten seien. Dass der Sohn im Unterschied zu fast allen anderen Deutschen in seiner Klasse nicht mehr am Religionsunterricht teilnahm, ist eine fast komödiantische Kurzerinnerung.
Der Stolz des Vaters, am Ersten Weltkrieg teilgenommen zu haben, wird konstatiert, die gemeinsame Lust an Kriegsfilmen „mit der Verherrlichung aller Waffengattungen durch unerschrockene Helden“ erhält bloß den Zusatz, dies habe „ohnehin jeden Jungen begeistert“. Umso markanter ist die mehrfache Rede vom „Zusammenbruch“ im Jahr 1945. Neumann sieht sich selbst als Opfer und stellt sein Schicksal, die Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen, mit dem der von den Nazis verfolgten Emigranten gleich.
Dies fällt umso schwerer ins Gewicht, wenn er über seine Beziehung zu dem jüdischen Lyriker Paul Celan schreibt, der den Konzentrationslagern entronnen war. Sie ist der prekäre Dreh- und Angelpunkt und, wie der Autor mehrfach bekennt, auch der Auslöser seines Buches. Neumann, der Celan durch den gemeinsamen Freund Elmar Tophoven kennengelernt hatte, veröffentlichte im Jahr 1970 einen Aufsatz über die „absolute Metapher“ und verglich darin Paul Celan mit Stéphane Mallarmé.
Als Celan wenige Wochen vor seinem Tod diesen Aufsatz las, brach er brüsk die Beziehung ab. Das war für Neumann eine „Kränkung“, die jahrzehntelang anhielt: Celan habe Neumanns Versuch, seine Dichtung zu verstehen, also „in die sprechende Kommunikation einzutreten“, schroff zurückgewiesen. Und zusätzlich aufgeheizt wird dies noch dadurch, dass die Person Neumanns in einem Gedicht Celans vorher direkt aufgerufen wurde: Neumann war nämlich dabei, als Celan am 25. Juli 1967 den durch sein Verhalten im Nationalsozialismus kompromittierten Philosophen Martin Heidegger in dessen Schwarzwaldhütte besuchte. Er war der Fahrer, „der Mensch, / der’s mit anhört“, wie es in „Todtnauberg“ heißt.
Es ist viel darüber gerätselt worden, was bei der Begegnung zwischen Celan und Heidegger genau geschah. Neumann hat nie etwas dazu gesagt. Stattdessen interpretiert er nun, nach einigen Jahrzehnten, mit großem Aufwand in einer Art Rachefeldzug Celans Gedicht „Todtnauberg“. Und beharrt dabei trotzig auf dem Instrumentarium, das er in seinem Text über die „absolute Metapher“ verwendet hat. Das ist jedoch schon im Ansatz verfehlt. Ingeborg Bachmann stellte bereits 1959 fest, dass Celan „ein neues Gelände begeht. Die Metaphern sind völlig verschwunden“, es komme zu neuen Bezügen „von Wort und Welt“. Mit Neumanns aristotelischem Metaphernbegriff, mit dem Spiel zwischen Nachahmung und Ähnlichkeiten sowie mit einer daraus hergeleiteten „Poetologie der ‚absoluten Metapher‘“ hat ein Gedicht wie „Todtnauberg“ nicht das Geringste zu tun. Der Interpret interessiert sich nicht für die biografischen und historischen Voraussetzungen, die zur Ästhetik der späten Gedichte Celans führten. Er wird stattdessen, entgegen seiner gewohnten akademischen Praxis, persönlich und unterläuft so seine „Text-Schwarm“-Konzeption.
Neumanns Beschäftigung mit Celans „Todtnauberg“-Gedicht ist offenkundig von der Zurückweisung seines frühen Aufsatzes durch Celan ausgelöst. Darin liegt der Grund für seine Fehlleistungen. Neumann geht von der Szene im Auto aus, sieht sich als „Zeitzeuge“ angesprochen. Und diesem „Zeugen“ wird in seiner Sicht „die Rolle des Schuldigen, geradezu in einem Akt der Überwachung und Erpressung, aufgebürdet“. Überhaupt sei Celans „poetische Kommunikationsstrategie“ generell darauf ausgerichtet gewesen, „dem Kommunikationspartner, als dem Schuldigen, das Geständnis, die Äußerung dieser Schuld, abzupressen“.
Das ist, mit Verlaub, von Martin Walsers Rede über die „Moralkeule“ Auschwitz nicht allzu weit entfernt. Und wohl die Äußerung eines Literaturwissenschaftlers, der nicht ganz bei sich ist. Leider hat Neumanns „Selbstversuch“, mitsamt einiger Anleihen bei Roland Barthes und der manchmal auffällig herablassenden Wiedergabe akademischer Begegnungen, in seinem Kern, der Auseinandersetzung mit Paul Celan, nichts von dem, was man bei diesem Autor erwartet hätte, nichts Offenes, Zweifelndes oder Suchendes. Eher zollt er hier der deutschen Tradition aggressiver Verdrängung Tribut. Dass dieser Grandseigneur des Hörsaals sich das durchgehen ließ, muss auch seine wohlwollenden Leser befremden.
Gerhard Neumann: Selbstversuch. Rombach Verlag, Freiburg 2018. 385 Seiten, 58 Euro.
Die Urszene dieser Leserbiografie
findet in Oxford statt, beim
Blättern in Kafkas Oktavheften
Das Hakenkreuz als Notenhalter: Kindheit in Brünn, im Protektorat Böhmen und Mähren. Rechts der künftige Literaturwissenschaftler.
Foto: Gerhard Neumann
Vor dem Eklat: Celans Widmung im kostbaren Einzeldruck des Gedichts „Todtnauberg“ im August 1967.
Foto:  G. Neumann
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