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  • Hersteller: History,
  • EAN: 4011222050922
  • Artikelnr.: 49039611
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2022

Staatsopernwürdig
Wagners "Meistersinger" / Von Reinhard Kager, Wien

Applaus, noch ehe ein Takt Musik erklingt: Das Publikum stellt sich demonstrativ hinter Philippe Jordan, den Musikchef der Wiener Staatsoper, nachdem Direktor Bogdan Roscic zwei Tage vor der Premiere von Richard Wagners "Die Meistersinger von Nürnberg" in einem Interview mit der Tageszeitung "Der Standard" mitgeteilt hatte, ab der Saison 2025/2026 keinen Musikdirektor mehr beschäftigen zu wollen. Dieser Ankündigung war Anfang Oktober ein kleines Scharmützel vorangegangen, als Jordan in einem Gespräch mit dem Wiener "Kurier" gegen die Auswüchse des Regietheaters wetterte und bekannt gab, seinen Vertrag mit der Wiener Staatsoper nicht verlängern zu wollen. Roscic konterte prompt und hielt in der Austria Presse Agentur dagegen, dass er es gewesen sei, der Jordan bereits im Sommer mitgeteilt habe, dessen Vertrag nicht über die Laufzeit bis Ende der Saison 2025 zu prolongieren. Wie auch immer es sich tatsächlich zugetragen haben mag: Jordan eroberte sich die Sympathie des Publikums.

Unbeirrt von allem Drumherum ergreift der achtundvierzigjährige Schweizer Dirigent straff die Zügel, schlägt schon im Vorspiel zügige Tempi an und vermeidet damit jeden Anflug von Pathos, mit dem Wagner in den "Meistersingern" nicht eben geizte. Stattdessen setzt Jordan auf den luziden, komödiantischen Tonfall, den die Oper zweifellos auch enthält, und animiert das ebenso leicht wie präzise spielende Staatsopernorchester immer wieder zu federndem Brio, womit auch die zweite musikalische Falle des Stücks, Sentimentalität, glanzvoll umgangen wird. Es ist der bislang überzeugendste Auftritt Jordans an der Wiener Staatsoper, wobei er sich seine Erfahrung mit der keinesfalls einfach zu interpretierenden Oper, die er 2017 auch bei den Bayreuther Festspielen dirigiert hatte, zunutze macht.

Mit Keith Warner, der mit Wagners "Meistersingern" sein spätes Staatsopern-Regiedebüt gab, fand Jordan nun einen Partner, an dessen Arbeit er sich wohl kaum stoßen kann. Deren Grundidee wird bereits klar, als sich der Vorhang gegen Ende des Vorspiels hebt: Vor einem dunklen, blau-grauen Hintergrund sitzt, ausgeleuchtet in sattem Blau, Hans Sachs einsam in der Bühnenmitte und denkt nach. Der Chor der Gemeinde, der die nur durch ein Portal angedeutete Katharinenkirche betritt, wirkt merkwürdig ferngerückt durch die Grautöne der historisch wirkenden Kleidung (Kostüme: Kaspar Glarner). Erst als sich Eva und Magdalene aus der Menge lösen, kommt Farbe ins Spiel. Es scheint, als würde der müde Sachs die Szene nur imaginieren. Ein Traum? Eine blasse Erinnerung? Warner lässt es bewusst offen. Jedenfalls grübelt sich Nürnbergs Schuster immer wieder aus der Realität, um seine Vorstellungswelt zu entfalten.

Boris Kudlicka konzipierte dafür ein sehr wandelbares Bühnenbild, das mal hermetisch wirkt, mal dekonstruiert: Drehbare, vorn mit Holz beplankte Elemente bilden den Bühnenhorizont. Auf deren Rückseite befinden sich drei durch ein Treppengewirr erreichbare Stockwerke, deren Wände mit auffällig psychedelischen Mustern tapeziert sind. Überhaupt kippt das Szenario gelegentlich in eine hyperrealistische Bühnenshow, am auffälligsten in der Festwiesen-Szene, in der Beckmesser in roter Uniform Sergeant Pepper seine Reverenz erweist. Zuvor löst sich die Bühne immer wieder in Abstraktionen auf, als etwa Schemel, Tische und Leisten aus Sachs' Werkstatt hoch im Schnürboden schweben. Die glatte Vorderfront der Drehelemente eignet sich vorzüglich als Projektionsfläche, auf der ein Sternhimmel, Konturen einer verschneiten Berglandschaft oder ein blühender Baum sichtbar werden.

Mit diesem Setting aus Traum und Wirklichkeit, Erinnerung und konkreter Gegenwart erzählt Warner "Die Meistersinger" erstaunlich stringent, allerdings konzentriert auf die vielen Perspektiven, mit denen Sachs das Geschehen betrachtet, das ganz Nürnberg aus den bürgerlichen Bahnen wirft. Die inhärente Künstlerproblematik interessiert den britischen Regisseur eher wenig - bloß ein allenthalben auftauchender Kobold mit mächtigem Nietzsche-Schnauzer erinnert peripher daran. Wichtiger ist Warner die Beziehung Sachs' zu seiner verstorbenen Frau, zu Eva und zu Stolzing, dem er im Finale, als der Junker die Meistersingerinsignien krachend zu Boden wirft, eine Lektion in Sachen Geschichtsbewusstsein erteilt: Nur wer aus dem Wissen um die Tradition schöpft, kann sich künstlerisch weiterentwickeln. Mit Buchtiteln der deutschen Weltliteratur, die Nürnbergs Bürger Stolzing zeigen, bannt Warner auch die leidige Deutschtümelei des Librettos.

Ein glänzendes Ensemble komplettiert das Gelingen dieser Neuinszenierung der "Meistersinger", kurioserweise der ersten an der Wiener Staatsoper seit 1975 (Regie: Otto Schenk): Michael Volle als überragender Hans Sachs überzeugt nicht nur mit perfekter Stimm- und Deklamationstechnik, sondern auch darstellerisch. Es bereitet großes Vergnügen, sein Zusammenspiel mit Wolfgang Koch zu verfolgen, der als Beckmesser bis zur Schlussszene jede Karikatur der Figur geschickt vermeidet. Das junge Paar ist mit leichten, frischen Stimmen besetzt, David Butt Philip als höhensicherem Stolzing und Hanna-Elisabeth Müller als Eva, deren warm timbrierter Sopran in exponierten Höhenlagen leider zu flackern beginnt. Die tadellose, stets in historische Kostüme gekleidete Meistersinger-Riege wird von Georg Zeppenfeld als famosem Pogner angeführt, die etwas dämlich mit Latzhosen samt aufgemalten Violinschlüsseln kostümierten Lehrbuben vom spitzfindigen Michael Laurenz als David. Der von Thomas Lang präzise einstudierte Staatsopernchor rundet den Abend ab. Begeisterter Applaus des Publikums am Ende und ein wahrer Blumenregen für Philippe Jordan.

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