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Zwei große Künstler begegnen sich im Exil: Die Malerin Marie-Louise von Motesiczky und der Schriftsteller Elias Canetti, die beide aus Nazideutschland nach London geflüchtet waren, lernen sich in Amersham kennen. Die Künstlerin aus reichem Hause unterstützt den bettelarmen Dichter, die beiden machen sich Mut in ihrem Schaffen - und verlieben sich. Über fünfzig Jahre erstreckt sich die spannungsreiche Geschichte, lebhaft schildern die Briefe, wie die Geflüchteten in der Nachkriegszeit in ihrem Gastland heimisch werden. Der Briefwechsel aus fünf Jahrzehnten ist das Zeugnis einer großen Liebe.

Produktbeschreibung
Zwei große Künstler begegnen sich im Exil: Die Malerin Marie-Louise von Motesiczky und der Schriftsteller Elias Canetti, die beide aus Nazideutschland nach London geflüchtet waren, lernen sich in Amersham kennen. Die Künstlerin aus reichem Hause unterstützt den bettelarmen Dichter, die beiden machen sich Mut in ihrem Schaffen - und verlieben sich. Über fünfzig Jahre erstreckt sich die spannungsreiche Geschichte, lebhaft schildern die Briefe, wie die Geflüchteten in der Nachkriegszeit in ihrem Gastland heimisch werden. Der Briefwechsel aus fünf Jahrzehnten ist das Zeugnis einer großen Liebe.
Autorenporträt
Elias Canetti wurde 1905 in Rustschuk/Bulgarien geboren und wuchs in Manchester, Zürich, Frankfurt und Wien auf. 1929 promovierte er in Wien zum Dr. rer. nat. 1930/31 erfolgte die Niederschrift seines Romans Die Blendung, der 1935 erschien. 1938 emigrierte Canetti nach London, wo er anthropologische und sozialhistorische Studien zu Masse und Macht (1960) aufnahm. Ab den 1970er Jahren lebte er vorwiegend in der Schweiz und erlangte weiterreichende Berühmtheit mit seinen Theaterstücken, den Aufzeichnungen und den autobiographischen Büchern, darunter Die gerettete Zunge. 1981 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. 1994 starb er in Zürich.

Marie-Louise von Motesiczky, 1906-1996, wird gerade international entdeckt anhand des von Ines Schlenker erstellten Catalogue Raisonné ihrer Gemälde. Ihr Canetti-Bild hängt in der National Portrait Gallery in London.

Kristian Wachinger, Lektor und übersetzer, seit 2003 (Mit-)Herausgeber mehrerer Editionen aus dem Nachlass von Elias Canetti, Stiftungsrat der Canetti Stiftung in Zürich.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.10.2011

Grausamkeiten im Spinnengewebe
Zwei Leben und ein „Liebhaber ohne Adresse“: Der jahrzehntelange Briefwechsel zwischen Elias Canetti
und seiner „Zweitfrau“, der Malerin Marie-Louise von Motesiczky  Von Volker Breidecker
Unersättlich war der Hunger des Schriftstellers und Gelehrten Elias Canetti (1905-1994) nach Bildern: „Denn ein Weg zur Wirklichkeit geht über Bilder. Ich glaube nicht, dass es einen besseren Weg gibt“, schrieb er im zweiten Band seiner Autobiographie. „Netze“ sind ihm die Bilder, und „was auf ihnen erscheint, ist der haltbare Fang.“ So drückte es der Autor von „Macht und Masse“ mit einem starken, beinahe beckmannesken Bild aus. Canettis Gedanken zur Anthropologie des Bildes und Bildermachens passen auch zu einem Ort und dem dort Geschauten, woran sich die erste nachhaltig große Bilderfahrung des Jünglings und zugleich dessen lebenslang obsessive Beschäftigung mit dem Gedanken an Blindheit entzündet haben soll: Geschildert wird die Erschütterung des künftigen Verfassers des Romans „Die Blendung“ während seiner Frankfurter Pennälerjahre (1921-24) angesichts von Rembrandts Meisterwerk „Die Blendung Simsons“ in der Sammlung des Städelschen Kunstinstituts.
Diese Schlüsselstelle seiner Lebenserinnerungen hat Canetti so eingeleitet: „In Frankfurt durfte man, um zum Städel zu gelangen, den Main überqueren. Man sah den Fluss und die Stadt und schöpfte Atem, es gab einem Mut für das Furchtbare, das einen erwartete.“ Auf dem Eisernen Steg über den Main oder im Museum selbst hätten ihm damals auch der Maler Max Beckmann und dessen junge Schülerin und Freundin Marie-Louise von Motesiczky (1906-1996) begegnen können. Zwei Jahrzehnte später, im gemeinsamen Londoner Exil, wurde die aus einer vornehmen und weit verzweigten Wiener jüdischen Familie stammende Malerin seine Geliebte und „Zweitfrau“. Unter dem Titel „Liebhaber ohne Adresse“ liegt der ein halbes Jahrhundert überspannende Briefwechsel dieses auch äußerlich - sie rank und schlank, er klein und gedrungen - ungleichen Paares jetzt vor. Erfreulicherweise ist die Edition auch mit ausgewählten Werken der in Deutschland viel zu wenig beachteten Künstlerin illustriert.
Dabei gebührt ihr ein Ehrenplatz im Familienalbum des 20. Jahrhunderts: Verschwägert mit Theodor W. Adorno, der Walter Benjamin gegenüber von der „sehr bezaubernden Marie-Louise“ schwärmte, desgleichen mit Heinz Simon, dem Herausgeber der Frankfurter Zeitung , entstammte sie der großbürgerlichen Wiener Ringstraßengesellschaft und war unter den historistischen Dekors und mythologischen Deckengemälden des Palais Todesco bei der Staatsoper aufgewachsen. Der Drang zum Bildermachen war Marie-Louise, die - wie Elias Canetti - früh den Vater, einen begnadeten Cellisten, verloren hatte, in die Wiege gelegt worden: Ihre Großmutter Anna zur Lieben war unter dem Decknamen „Cäcilie M.“ als „Primadonna“ unter Sigmund Freuds Patienten in die Geschichte der Psychoanalyse eingegangen. Freud, der sie seine „Lehrmeisterin“ nannte und ihr bescheinigte, „eine Person von ganz ungewöhnlicher, insbesondere künstlerischer Begabung“ zu sein – freilich auch in der Symptombildung –, hatte mit ihr zusammen das Setting der „Liegekur“ entwickelt. Und Marie-Louises Mutter Henriette nahm an der Seite des jungen Hofmannsthal, in den sie sich unsterblich verliebte, an Aufführungen „lebender Bilder“ in historischen Kostümen teil.
Es war die Tragik dieser Frauen, dass ihr ästhetischer Sinn und ihre künstlerischen Gaben eine Grenze in der Untätigkeit fanden, zu der ihr gesellschaftlicher Status sie verdammte. Mutter wie Großmutter teilten zeitlebens die fatale Neigung zur liegenden Körperhaltung, und es war – mit einem Wort Hermann Brochs – dieser gesuchte Wiener „Dämmerzustand“, aus dem Marie-Louise ausbrach. Ihr künstlerisches Erweckungserlebnis hatte sie mit fünfzehn Jahren, als sie in ihrem Elternhaus dem Frankfurter Besucher Max Beckmann begegnete, ihr zur Seite die Freundin und Münchner Malertochter Mathilde Kaulbach – „Quappi“ genannt –, die Beckmann später ehelichte. Die Prägung durch die übermächtige Persönlichkeit des Malers, der Marie-Louises Talent erkannte und es förderte, ist vor allem ihren Selbstporträts anzusehen. Der Kontakt riss auch im Exil nicht ab, und nach dem Krieg besuchte Marie-Louise die Beckmanns noch in Amsterdam.
In den mit Canetti gewechselten Briefen, deren Frequenz meist dann steigt, wenn einer der beiden oder auch beide getrennt auf Reisen sind, finden sich auch darüber ausführliche Berichte, auch über die Entstehung und Aufnahme von Marie-Louises einzigem zu Lebzeiten veröffentlichtem Text, einem auf Anregung Benno Reifenbergs entstandenen Vortrag über „Max Beckmann als Lehrer. Erinnerungen einer Schülerin des Malers“. Und wie beinahe zu erwarten, zielen die beiderseitigen brieflichen Kommentare auf die Parallelisierung der starken Persönlichkeiten von Maler und Schriftsteller als auch ihrer Werke – auf Canettis Seite zumal in der Form der Eifersucht: „Ich weiß, dass Du irgendwo noch immer der Mensch bist, der den Beckmann gekannt hat, und vielleicht auch der Mensch, der mir begegnet ist“, heißt es einmal beleidigt.
Deutlicher wird Canetti, der manche Zeugnisse eines nur selten durch Ironie gemilderten Größenwahns ablegt, in einem anderen Brief: „Ich wollte, ich hätte einen Schüler oder eine Schülerin, die mich so wahrhaftig in Erinnerung hätte wie Du den Beckmann, wenn ich einmal tot bin.“
Einmal, da platzte Marie-Louise der Kragen: „Immerhin – in mein Netz war der Beckmann und der Kokoschka hineingewoben und viele andere Freunde und Freundinnen . . . Aber hier in England haben Sie oft recht grausam in dieses Spinngewebe oder Netz oder wie sie es nennen wollen - hineingebissen . . . Dann sitzen Sie wie eine dicke böse Spinne ganz still, um sich auf das vermeintliche Opfer zu stürzen oder Sie verschwinden lautlos, um unerwartet der Beute in den Rücken zu fallen. Sehr hübsch ist das nicht . . .“ - „Er tut keiner Fliege etwas zuleid: sie sind ihm nicht fleischig genug“, heißt es in Canettis vor wenigen Jahren wiederentdeckten „Aufzeichnungen für Marie-Louise“ (2005), dem Stammbuch seiner Aphoristik.
Auch dieser Briefwechsel endet traurig, schon bevor Alter und Krankheit einsetzen. Der Liebhaber, der, wenn er auf Reisen war, nur selten eine Adresse hinterließ, ging bald nach dem Tod seiner ersten Frau Veza eine neue Ehe ein. Wieder war es eine Bilderfrau, die Zürcher Restauratorin Hera Buschor, die er der Motesiczky so lange verheimlichte, bis diese selbst darauf kam. Und dann brechen Scham und Verlegenheit in die Beziehung ein, und die Briefe werden seltener, bitterer, untröstlicher.
Elias Canetti und Marie-Louise
von Motesiczky
Liebhaber ohne Adresse
Herausgegeben von Ines Schlenker und Kristian Wachinger. Hanser Verlag, München 2011, 384 Seiten, 24,90 Euro.
Seine Briefe dokumentieren
Canettis nur durch Ironie
gemilderten Größenwahn
Sie sitzen wie eine dicke
böse Spinne ganz still, um sich
auf das Opfer zu stürzen
„Ich weiß, dass Du irgendwo noch immer der Mensch bist, der den Beckmann gekannt hat, und vielleicht auch der Mensch, der mir begegnet ist“, schrieb Elias Canetti einmal eifersüchtig an Marie-Louise von Motesiczky, die einstige Schülerin und Freundin des Malers Max Beckmann, die im Londoner Exil seine Geliebte wurde.
Fotos: Karin Gaa / © Marie-Louise von Motesiczky Charitable Trust, LondonThe Marie-Louise von Motesiczky Charitable Trust is a company limited by guarantee registered in England and Wales (no.7572024) and a registered charity (no.1140890). Registered Office: 151 Ashley Gardens, Thirleby Road, London SW1P 1HW
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011

Stellvertreterin der Lebens- und Liebeslust

Elias Canetti und die Malerin Marie-Louise von Motesiczky verband erst eine Liaison und dann eine Hoffnung. Die blieb einseitig, wie ihr Briefwechsel zeigt.

Von Andreas Platthaus

Dieser Briefwechsel erzählt von einem Ein- und einem Missverständnis. Das erste ist alltäglich, das zweite schrecklich. Denn dass Menschen sich ineinander verlieben, ist zunächst nichts Besonderes, außer für die beiden Beteiligten. Wenn die sich aber derart übereinander (und auch einander) täuschen, wie Elias Canetti und Marie-Louise von Motesiczky es getan haben, wird mit dem Scheitern mehr in Frage gestellt als eine Liebe. Es geht ums Leben.

Und damit um alles, was Elias Canetti verteidigen wollte. Lieben war eine seiner Methoden, den Tod zu vergessen, und an Motesiczky faszinierte ihn noch Jahre später ein Satz, den sie ihm zu Anfang ihrer Liaison gesagt hatte. Er notierte ihn 1947: "Im ersten Winter, sagte M., dachte ich, wir würden wirklich nicht sterben."Da war eine Frau, die Canettis Lebenstraum zumindest glaubte.

Marie-Louise von Motesiczky aber ist um den ihren von Canetti betrogen worden. Die 1906 geborene Malerin war eine Lieblingsschülerin von Max Beckmann. Unmittelbar nach dem "Anschluss" Österreichs ans Deutsche Reich verließ sie mit ihrer Mutter Wien. 1939 fanden beide ihre neue Heimat in England. Dort kam gleichzeitig der 1905 geborene Elias Canetti mit seiner Frau Veza an; auch sie hatten Wien als Juden verlassen müssen. Das gemeinsame Exilantenschicksal machte das mittellose Schriftstellerpaar und die vermögende Malerin zu Freunden; Motesiczky vermittelte den Canettis 1940, als London bombardiert wurde, eine Wohnung auf dem Land in ihrer Nachbarschaft und gewährte wenig später Elias Canetti ein Darlehen über 500 Pfund. Der Brief, in dem er diesen Kredit bestätigte, stammt vom 1. Juli 1941.

Wann die Malerin und der Schriftsteller, damals beide in ihrer neuen Heimat völlig unbekannt, sich ineinander verliebten, ist unbekannt. Selbst der britische Literaturwissenschaftler Jeremy Adler, der viel später beider Freund werden sollte und 2005 aus Motesiczkys Nachlass die "Aufzeichnungen für Marie-Louise" publizierte, die Canetti ihr Ende 1942 geschenkt hatte, musste im Nachwort zu diesem Buch vage bleiben: Das Geschenk sei der erste greifbare Liebesbeweis. Adler kannte damals den gleichfalls im Motesiczky-Nachlass überlieferten Briefwechsel nur in Auszügen; er behauptete, die ersten datierbaren Briefe stammten aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs.

Das Korrespondenzkonvolut, aus dem Ines Schlenker und Kristian Wachinger nun eine Auswahl getroffen haben, scheint immer noch Rätsel genug aufzugeben. Wie wäre es sonst erklärbar, dass sein Titel "Briefwechsel 1942-1992" lautet, obwohl doch das erste Schreiben, die schriftliche Darlehensbestätigung, von 1941 stammt? Und ist es nur der Verführungskraft einer Korrespondenzdauer über scheinbar genau fünf Jahrzehnte zu verdanken, dass man die Schreiben der Jahre 1993 und 1994 (Canettis Todesjahr; Motesiczky starb 1996) nicht mehr berücksichtigt hat? Aus Sven Hanuscheks Canetti-Biographie, in der erstmals aus dem Briefwechsel mit Marie-Louise von Motesiczky zitiert worden ist, kennt man das Datum der letzten Botschaft, die Motesiczky am 1. Februar 1994 nach Zürich an Canetti sandte. Es war eine Einladung zu einer Ausstellungseröffnung, und der letzte Satz lautete: "Ich wollte Sie könnten kommen."

Dieser Satz, so harmlos er klingt, zeugt von der ungebrochenen Zuneigung einer Frau, der von ihrem Liebhaber denkbar übel mitgespielt worden ist. 1963 starb Veza Canetti, und damit schien ihr Mann nun frei für eine Ehe mit Motesiczky, zumal eine weitere Nebenbuhlerin, die Schriftstellerin Friedl Benedikt, schon 1953 gestorben war. Die ursprüngliche Ménage à quatre, die der Schriftsteller in London unterhielt, ist am schönsten dokumentiert in den Briefen von Elias und Veza Canetti an Georges Canetti, Elias' jüngsten Bruder. Die erschienen vor fünf Jahren als erster Band mit Canetti-Briefen, und nach dem jetzt publizierten zweiten dürfte lange Zeit kein weiterer mehr folgen, denn Elias Canetti hat seinen in Zürich aufbewahrten Nachlass testamentarisch streng sekretiert. Dass seine Korrespondenz mit Marie-Louise von Motesiczky überhaupt herauskommen kann, hat seine Ursache in einer großen Zäsur ihres gemeinsamen Lebens, nach der Elias Canetti fast alle Briefe von Motesiczky an diese zurückgab. Deshalb unterliegen sie nicht der Nachlassregelung. Canettis Tochter Johanna hat erfreulicherweise die Publikation späterer Briefe an den Vater, die sich in ihrem Besitz befinden, ermöglicht.

Das ist ein heroischer Akt, denn Elias Canetti zeigt sich in der Korrespondenz von unangenehmster Seite, und Johanna Canetti ist unfreiwillig an jenem Ereignis beteiligt, das das Leben von Marie-Louise von Motesiczky zerstört hat. Schon 1961, also noch zu Lebzeiten Vezas, erweiterte Canetti sein Liebesleben um eine neue Frau: die Schweizer Restauratorin Hera Buschor. Motesiczky ahnte nichts davon, und selbst als Canetti 1971 Buschor heirateten, und im Jahr darauf ihre gemeinsame Tochter Johanna zur Welt kam, hielt er das vor jener Frau, die sich immer noch eine Ehe mit ihm erhoffte, geheim.

Canetti selbst hatte mit seiner Geliebten emotional abgeschlossen. Am 11. Juni 1971 notierte er in seinem Tagebuch: "Sonderbar zu denken, dass ich an M. nur darum festhalte, weil sie während 22 Jahren von Vezas Leben da war. Ich fürchte, dass ein Teil von Veza in mir abstirbt, wenn ich mich über M. nicht mehr zu ärgern habe." Leider schweigt sich das Nachwort des Briefbands über solche zynischen Betrachtungen aus. Es gibt auch keinen Hinweis auf die Kriterien bei der Auswahl der Briefe; dass es viele mehr geben muss, entnimmt man ihnen leicht. Und auch der teilweise parallele Briefwechsel mit Georges Canetti wird nicht genutzt, um die Verhältnisse von und um Elias Canetti zu verdeutlichen. Das ist eine verpasste Chance.

Doch die Briefe selbst bieten Nutzen genug. Einmal in psychologischer Hinsicht, denn hier ist ein Blaubart-Phänomen dokumentiert, wie man es sich kaum drastischer denken kann. Und als Motesiczky im Juli 1973 doch noch von der Heirat und vor allem der Geburt des Kindes erfährt, das sie sich selbst sehnsüchtig von Canetti gewünscht hatte, da wird der Briefwechsel zu einem Drama des verletzten Stolzes von ihrer und höchst peinlicher Rechtfertigungen von seiner Seite, das keine Parallele kennt. (Die entsprechenden Schreiben sind in dieser Zeitung vorabgedruckt worden; F.A.Z. vom 20. August.)

Noch eindrucksvoller jedoch ist der Einblick in Elias Canettis Denken und Arbeitsweise, den der Briefwechsel gestattet. Als sich die Beziehung Mitte der fünfziger Jahre abkühlt, berichtet er vor allem über seine Reisen und Buchvorhaben. Noch bevor Canetti "Die Stimmen von Marrakesch" niederschrieb, erzählte er in seinen Briefen aus der marokkanischen Stadt, was ihn dort fasziniert hat. Reichhaltig sind auch die Verweise auf "Masse und Macht", vor allem auf die für Canetti lebenswichtige Beschäftigung damit. Nie wird er so bitter gegenüber Motesiczky, als wenn er deren mangelndes Verständnis für die Bedeutung dieses Werks beklagt.

Umso unverständlicher, dass aus der Zeit unmittelbar nach Erscheinen des in zwanzigjähriger Arbeit entstandenen Buchs kein Brief Aufnahme fand. Gab es keine? Schwer zu glauben. Dafür ist dann umso eindrucksvoller, wie der greise Canetti angesichts des Todes so vieler Wegbegleiter und der eigenen Schwäche immer mehr verbittert. Sein Widerstand gegen den Tod, bei dem er auch den Beistand der Malerin gesucht hatte, wich der Verzweiflung: "Nach diesen Jahren und Jahren des Kampfes bin ich geschlagen und vernichtet. Es war alles vergeblich. So bin ich selbst vergeblich", schreibt er 1989 an Motesiczky: "Ich weiss nicht mehr, wer ich bin. Ich unterschreibe mit dem Namen, der von mir in der Welt bleiben wird und den ich nicht verdiene. Elias Canetti." Das war das einzige Mal in einem halben Jahrhundert, dass er nicht den gemeinsamen Kosenamen "Pio" wählte.

Marie-Louise von Motesiczky hieß in ihrer Beziehung übrigens "Muli", und in der Tat: Sie hatte die wahre Last dieser Liebe zu tragen.

Elias Canetti, Marie-Louise von Motesiczky: "Liebhaber ohne Adresse". Briefwechsel 1942-1992.

Hanser Verlag, München 2011. 384 S., Abb., geb., 24,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Für Franz Haas kommt mit diesem 50 Jahre umfassenden Briefwechsel mehr Licht ins Dunkel um die Beziehung zwischen Elias Canetti und seiner Geliebten, der Malerin Marie-Louise Motesiczky. Doch windet sich der Rezensent bei der Lektüre dieses "Tatsachenromans" spürbar: An zahlreichen, von Haas ausgiebig referenzierten Stellen erscheine der Nobelpreisträger als "Nörgler und Ekel", der die ihm bis zuletzt ergebene, überdies spendable Geliebte konsequent auf Distanz und hierarchisch unter sich oder, in den Worten des Autors selbst, in einer "Wüste von Erwartungen" halte. Lob ernten die Herausgeber für den zur Seite gestellten Kommentar und das Nachwort, die das Dokument auch Kreisen jenseits der Canetti-Spezialisten aufschließen, allerdings kann Haas nicht umhin zu bemängeln, dass auch diese Briefesammlung lediglich eine Auswahl der Gesamtkorrespondenz darstellt.

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