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Inmitten der Krisen und Bedrohungen der liberalen Demokratie entwickelt Isabell Lorey eine Demokratie im Präsens, die politische Gewissheiten ebenso aufbricht wie lineare Vorstellungen von Fortschritt und Wachstum. Mit ihrer queer/feministischen politischen Theorie formuliert sie eine grundlegende Kritik an maskulinistischen Konzepten von Volk, Repräsentation, Institution und Multitude. Und sie entfaltet einen originellen Begriff von präsentischer Demokratie, der auf Sorge und Verbundenheit, auf der Unhintergehbarkeit von Verantwortlichkeiten beruht - und ohne vergangene Kämpfe und aktuelle Praktiken sozialer Bewegungen nicht zu denken ist. …mehr

Produktbeschreibung
Inmitten der Krisen und Bedrohungen der liberalen Demokratie entwickelt Isabell Lorey eine Demokratie im Präsens, die politische Gewissheiten ebenso aufbricht wie lineare Vorstellungen von Fortschritt und Wachstum. Mit ihrer queer/feministischen politischen Theorie formuliert sie eine grundlegende Kritik an maskulinistischen Konzepten von Volk, Repräsentation, Institution und Multitude. Und sie entfaltet einen originellen Begriff von präsentischer Demokratie, der auf Sorge und Verbundenheit, auf der Unhintergehbarkeit von Verantwortlichkeiten beruht - und ohne vergangene Kämpfe und aktuelle Praktiken sozialer Bewegungen nicht zu denken ist.
Autorenporträt
Isabell Lorey ist Professorin für Queer Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln und arbeitet für die Publikationsplattform transversal texts des European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020

Wir, die Vielen
Isabell Lorey schlägt eine neue Demokratie vor
In den aktuellen Debatten um Sexismus und Rassismus stehen sich die Lager immer unversöhnlicher gegenüber. Insbesondere innerhalb der Gruppe jener Diskutierenden, die sich bis vor gar nicht allzu langer Zeit mehr oder weniger auf derselben (links-)liberalen Seite wähnten, tun sich oft kaum noch zu überbrückende Abgründe auf. Während die eine, tendenziell jüngere (weibliche, diversere, „woke“) Seite nichts als herzlose Ignoranz, gedankenlosen Machtmissbrauch und die erbitterte Verteidigung alter (weißer, männlicher) Privilegien beklagt, sieht die andere Seite in der Kritik bloß „Cancel Culture“, selbstgerechten Moralismus und eine ernste Gefahr für die Meinungsfreiheit, wenn nicht gleich das Ende von liberaler Demokratie und gesundem Menschenverstand.
Abgesehen davon, dass erbitterter Streit bei so wichtigen und kontroversen Themen natürlich unendlich besser ist als gar keine Diskussion (und längst überfällig), vermisst man insgesamt doch langsam auch so etwas wie eine gewisse intellektuelle Beweglichkeit und produktive Originalität. Denn weder die Revolution noch die Restauration scheinen derzeit ja realistische Szenarien. Werder steht die geschlossene Abdankung der weißen alten Männer unmittelbar bevor, noch das Ende der gesellschaftlichen Diversität und des Bemühens benachteiligter Minderheiten um gleichberechtigte Teilhabe. Alle sind gekommen, um zu bleiben.
Das Buch „Demokratie im Präsens – Eine Theorie der politischen Gegenwart“ der Kölner Politiktheoretikerin Isabell Lorey ist in dieser Lage immerhin ein echter Glücksfall. Für alle, ausdrücklich auch für jene, denen der radikal emanzipative und dezidiert antimaskulinistische Zug ihrer Überlegungen eher fremd sein dürfte.
Als Professorin für Queer Studies an der Kunsthochschule für Medien in Köln steht sie zunächst einmal natürlich klar auf der woken Seite der Zeitläufte, der unaufgeregt-argumentative Ton des Bandes macht aber von Anfang an klar, dass es um mehr geht als bloß um eine weiteren Pyrrhussieg im Kampf der Kulturen. Es geht vielmehr um einen Vorschlag, wie die unübersehbaren Dilemmata der liberalen Demokratie im Sinne tatsächlich aller ihrer Bürger überwunden werden können.
Ausgangspunkt der Ideen Loreys ist dabei die unbestreitbare Beobachtung, dass im Westen seit etwa dem Jahr 2000 „vermehrt autoritär-populistische Kräfte“ Zulauf haben und in der Folge die „Dynamiken der repräsentativen Demokratie“ weniger zur weiteren Demokratisierung genutzt werden als zum „Stillstellen, Aufkündigen und Zurückdrehen der bereits erreichten Demokratisierung“.
Für die breite Allianz der Freunde der repräsentativen Demokratie wird es danach allerdings schnell unbequem, denn Lorey identifiziert das zentrale politische Problem ungnädig genau hier, bei der demokratischen Repräsentation.
In ihren grundlegenden Institutionen sei die repräsentative liberale Demokratie „paradoxerweise zutiefst undemokratisch“. Die „heterogenen Vielen des demos“ könnten gar nicht repräsentiert werden. Die Parteien und Parlamente wiederum seien aufgrund dieses systematischen Mangels „keine neutralen Instrumente der Interessenvertretung, sondern selbst Herrschaftsinstrumente zur Aufrechterhaltung geschlechtlicher, rechtlicher, besitz-, bildungs- und rassisierungsbedingter Ungleichheiten“. Das klingt streng, aber man muss wirklich kein schwarzer trans Mensch in Deutschland sein, um etwa beim Blick auf die Zusammensetzung des Bundestags festzustellen, dass es in unserer politischen Ordnung ein manifestes Repräsentationsdefizit gibt. Nur zum Beispiel sind derzeit gerade einmal dreißig Prozent der Abgeordneten weiblich.
Die andere wesentliche „konstituierende Aporie“ der liberalen Demokratie ist mit Lorey die Trennung zwischen dem Politischem und dem Sozialen. So sei einerseits nicht nur die Notwendigkeit des uneinlösbaren Versprechens politischer Repräsentation entstanden, es sei fatalerweise auch zu einer Feminisierung, Abwertung und Depolitisierung von „sozialen Verbundenheiten, Prekärsein, Reproduktion und Sorge“ gekommen.
Man kann nicht behaupten, dass Lorey ein übermäßig großes Herz dafür hat, dass es die demokratische Repräsentation sogar als die höchst defizitäre Idee, die sie leider ist, ein hart erkämpfter, historisch kaum zu überschätzender Fortschritt für die Freiheit des Einzelnen gewesen ist. Man kann es ihr aber auch nicht vorwerfen, denn es ist ja nicht mehr 1789 oder 1945.
Zumal es nicht bei der Kritik bleibt, sondern – ironischerweise mit den fünf männlichen intellektuellen Komplizen Jean-Jacques Rousseau, Jacques Derrida, Walter Benjamin, Michel Foucault und Antonio Negri – ein neue Demokratieform vorgeschlagen wird, die „Präsentistische Demokratie“, für die sie sich von Antonio Negri für den konstitutiven Souverän den Begriff der „Multitude“ borgt, um endlich um das schwer beladene und allzu missverständliche „Volk“ und die arg bürokratische „Bevölkerung“ herumzukommen.
Im Kern geht es Lorey so um eine gründliche Rekonzeptualisierung der Demokratie, also um ein neues Verständnis von konstituierender Macht und ihren Prozessen, die ohne ein Primat der Repräsentation auskommen sollen. Die gesellschaftliche Vielfalt möchte Lorey also nicht konstitutionell domestiziert sehen. Im Gegenteil, ihre neue Demokratie soll eine Demokratie sein, die sich nicht „auf autonome Individuen stützt, sondern aus Verbindungen und Affizierungen entsteht“. Nicht jedoch aus neuen identitären Kollektivierungen. Das ist entscheidend und macht die Idee so interessant. Aber in der Umsetzung natürlich auch noch etwas kniffliger, weshalb am Ende manche Sätze etwas neblig-imperativisch geraten: „Die präsentistische Demokratie entsteht aus der maßlosen Differenz (. . .). Sie ist geprägt durch radikale Inklusion und Affirmation der Zerstreuung, ohne sie in einer Organisation zu vereinen.“
Der Versuch allerdings, einmal konsequent eine Politik zu denken, die der gesellschaftlichen Vielfalt der Gegenwart gerecht zu werden versucht, die wirklich „um die Besiegten“ weiß und die „jenseits von Scham und Moral“ auf „Schulden- und Sorgebeziehungen“ fußt, ist kaum hoch genug zu schätzen.
JENS-CHRISTIAN RABE
Die „heterogenen Vielen
des demos“ können gar nicht
repräsentiert werden
Derzeit sind lediglich
30 Prozent der Abgeordneten
weiblich
Isabell Lorey:
Demokratie im Präsens.
Eine Theorie der
politischen Gegenwart.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2020.
217 Seiten, 20 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Karsten Fischer zeigt sich durchweg enttäuscht von Isabell Loreys Versuch zu einer Theorie der politischen Gegenwart und einer Neuerfindung der Demokratie. Beides leistet das Buch laut Fischer nicht. Wenn die Autorin mit Rousseau und Benjamin, der Idee der Sorge und eines queeren Schuldenbegriffs hantiert, schwindelt dem Rezensenten bald wegen all der "Worthülsen", die ihm da um die Ohren fliegen. Sinn kann die Autorin den von ihr bemühten Begriffen nicht verleihen, meint Fischer. Und wenn Lorey Rechtspopulismus und Vatikan an einem Strang ziehen sieht, ist für Fischer die Verschwörungstheorie nicht mehr weit.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2020

Queer springt der Tiger
Bitte mal alle auf sozialrevolutionär: Isabell Lorey zerlegt die Volksherrschaft

Nur eine Generation nach ihrem Sieg über den Sozialismus befindet sich die Demokratie in einer unübersehbaren Krise, die neben den osteuropäischen Transformationsstaaten sogar die westlichen Staaten mit den längsten demokratischen Traditionen erfasst hat. Dies gibt Anlass zum Nachdenken. Isabell Lorey, Professorin für Queer Studies in Künsten und Wissenschaft an der Kunsthochschule für Medien Köln, glaubt deshalb die "Demokratie im Präsens" neu erfinden zu müssen.

Dazu bemüht sie zunächst die Politische Theorie Jean-Jacques Rousseaus, die statt entpolitisierender Repräsentation auf Versammlung gesetzt habe. Anschließend wird Jacques Derridas Idee einer "Demokratie im Kommen" als nicht in die Zukunft verschobene, ausgedehnte Gegenwart verstanden, die sich nur "im Kontext von permanenter, molekularer, sozialer Revolution verstehen" lasse.

Das führt die Autorin weiter zum materialistischen Messianismus Walter Benjamins, von wo es weitergeht zu Michel Foucaults Begriff der "infinitiven Gegenwart", bevor Antonio Negris Konzept der konstituierenden Macht der "Multitude" verhandelt wird und "präsentische Demokratie" als Gegenmodell der auf die "Ausweitung der Geltung von Rechten und von Normen wie Gleichheit und Freiheit" ausgerichteten liberalen Demokratie präsentiert wird.

Als Alternative zur zentralen liberalen Institution der Verfassung wird von der Autorin "soziales Revolutionär-Werden" propagiert, das auf "wechselseitige Sorgepraxen" und "ein schwarzes und queeres Verständnis von Schulden" konzentriert ist. In "revolutionären Tigersprüngen" könne die "präsentische Demokratie" also mit "Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnissen patriarchaler, rassistischer und kapitalistischer Gesellschaften" brechen.

Leider ist Loreys "präsentische Demokratie" aber nicht nur einem "durch Infizierungen revolutionärer Praxen" ausgeweiteten "Ereignisgewimmel geschuldet", sondern selbst ein reines Begriffsgewimmel. So muss der Leser aussichtslos versuchen, den Begriffen "Ipsokratie" und "Phallokratie" einen Sinn abzugewinnen und die sechs Komponenten "für eine politische Neubestimmung der Gegenwart" als "präsentischer Demokratie" nachzuvollziehen. Dabei heißt es etwa über die "transversale Wiederkehr", sie sei "die Dynamik, der Modus eines offenen heterogenen Gefüges, in dem Ereignisse entstehen und zur Wiederholung kommen". Der "aktualisierende Sprung" wird präsentiert als "konstitutiver Teil der permanenten Differenzierung in der Gegenwart, die die Dauer als Vielfalt ausmacht." Und "Instituierungen und Organisierung" werden verstanden "als Dauer eines transversalen Gefüges aus differenzierenden Wiederholungen, die Institutionen des Mannigfaltigen und des Gemeinsamen ermöglichen."

Die Autorin hätte Hegel abnehmen sollen, Philosophie sei "ihre Zeit in Gedanken erfaßt" - und nicht in Worthülsen. Stattdessen wird er von ihr verballhornt als Propagandist eines selbstgenügsamen absoluten Geistes ohne Vermittlung und ohne Gesprächspartner. Ebenso abwegig ist es, wenn Rousseau eine demokratische Regierungskunst attestiert wird, die Foucault später mit dem Begriff der Gouvernementalität gefasst habe. Schließlich hat Foucault mit diesem Begriff gerade auch dezidiert vor- und nichtdemokratische Praktiken beschrieben. Und die Behauptung, ohne die Französische Revolution gebe es "kein Verständnis von Politik im liberalen bürgerlichen Sinne, keine repräsentative Demokratie", ist angesichts der politischen Theorien von Locke und Montesquieu ebenso unerklärlich wie die allein schon für die Umwelt- und Friedensbewegung falsche Feststellung, noch in den neunziger und zweitausender Jahren sei es "in sozialen Bewegungen undenkbar" gewesen, "sich positiv auf Begriff und Praxis der Demokratie zu beziehen".

Die politischen Konsequenzen ihrer "Demokratie im Präsens" benennt die Autorin ganz offen. So soll "die unbestimmte Form, die aus der konstituierenden Macht der Multitude entsteht", keiner Interessenvertretung mehr bedürfen und die "in ihren grundlegenden Institutionen paradoxerweise zutiefst undemokratisch" funktionierende liberale Demokratie überwinden. Schließlich könne diese nie alle repräsentieren und basiere auf einer nationalstaatlich exklusiven "Trennung zwischen dem Politischen und dem Sozialen", die durch die "vergeschlechtlichte Trennung zwischen einer öffentlichen und einer privaten Sphäre" konstituiert und durch die "patriarchale Ordnung von naturalisierter heteronormativer Zweigeschlechtlichkeit und Kleinfamilie" ein diskriminierendes Reproduktionsinstrument neoliberalen Sozialabbaus und xenophober Überwachungstechniken sei.

Neu ist an diesem gegen gesellschaftliche Interessenvertretung und Privatsphäre gerichteten Radikalismus nur die Idee, queer gegen die "heteronormative Geschlechterordnung als Staatsgrundlage" vorzugehen und "die Gegenfigur zu einer auf der Souveränität eines ,Volkes' basierenden Form von liberaler Demokratie zu sein". Wer die angeblich erst "durch das bürgerliche Gesetz" geschaffene Ungleichheit abschaffen wollte, müsste dafür schließlich eine noch weitaus größere Ungleichheit der Machtverhältnisse schaffen, was der totalitäre Kommunismus konsequent realisierte.

Wenn die Autorin schließlich die berechtigte Kritik an dem selbstwidersprüchlichen autoritären Populismus damit anheizt, dass sie dessen Positionen "ideologisch aus dem Vatikan befeuert" sieht, weil dieser "die Begrifflichkeit der ,Gender-Ideologie' erfunden und erfolgreich viral verbreitet" habe, ist das Niveau von Verschwörungstheorien erreicht.

Die im Untertitel versprochene "Theorie der politischen Gegenwart" findet man hier ebenso wenig wie eine ihren Namen verdienende Neukonzeption von Demokratie.

KARSTEN FISCHER

Isabell Lorey: "Demokratie im Präsens". Eine Theorie der politischen Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 217 S., br., 20,- [Euro].

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»Das Buch Demokratie im Präsens ... ist ein echter Glücksfall.« Jens-Christian Rabe Süddeutsche Zeitung 20201013