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Ingeborg Bachmanns zweite Lyriksammlung, Anrufung des Großen Bären (1956), enthält Verse, die wegen ihrer hohen Einprägsamkeit, der Kühnheit ihrer Metaphern und ihres zeitkritischen, ethisch motivierten Sprachgestus schon bei Erscheinen Aufsehen erregten und bald kanonisiert wurden. Es sind Gedichte, die radikale Fragen stellen und Themen wie Liebe, Selbstbestimmung, Verantwortung, Utopie mit scharfer denkerischer Freiheit in mitreißenden Klangbildern entfalten.
Die neue Edition macht die raffiniert durchkomponierte Struktur der Sammlung sichtbar. Zum ersten Mal werden die Gedichte unter
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Produktbeschreibung
Ingeborg Bachmanns zweite Lyriksammlung, Anrufung des Großen Bären (1956), enthält Verse, die wegen ihrer hohen Einprägsamkeit, der Kühnheit ihrer Metaphern und ihres zeitkritischen, ethisch motivierten Sprachgestus schon bei Erscheinen Aufsehen erregten und bald kanonisiert wurden. Es sind Gedichte, die radikale Fragen stellen und Themen wie Liebe, Selbstbestimmung, Verantwortung, Utopie mit scharfer denkerischer Freiheit in mitreißenden Klangbildern entfalten.

Die neue Edition macht die raffiniert durchkomponierte Struktur der Sammlung sichtbar. Zum ersten Mal werden die Gedichte unter Berücksichtigung des Nachlasses ausführlich kommentiert und im kulturgeschichtlichen Diskurs der Zeit verortet. Das weitgespannte Netz von intertextuellen Bezügen, der Dialog mit Paul Celan, der philosophische Horizont, die Vielfalt an metrischen Formen, die verwickelte Editionsgeschichte und die kontroverse Rezeption werden exemplarisch dargestellt, so dass die Verse in ihrer unerschöpflichen Vitalität und Ausstrahlungskraft neu beleuchtet werden.

Die Salzburger Bachmann Edition präsentiert die Prosa, Gedichte und Essays, Hörspiele, Libretti sowie die Korrespondenzen Ingeborg Bachmanns in Form einer integrierten Ausgabe. Die Texte werden ergänzt durch eingehende Kommentare auf dem gegenwärtigen Stand der Forschung, die Bachmanns Werk neu erschließen. Neben den zu Lebzeiten erschienenen Werken werden auch unbekannte nachgelassene Texte zugänglich gemacht.
Autorenporträt
Ingeborg Bachmann, geboren am 25. Juni 1926 in Klagenfurt, wurde durch einen Auftritt vor der Gruppe 47 als Lyrikerin bekannt. Nach den Gedichtbänden Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956) publizierte sie Hörspiele, Essays und zwei Erzählungsbände. Malina (1971) ist ihr einziger vollendeter Roman. Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom. Luigi Reitani war Professor für Deutsche Literatur an der Universität Udine und am Graduiertenkolleg für germanische und slawische Studien der Universität Roma »La Sapienza« sowie Vorstandsmitglied des Istituto Italiano di Studi Germanici in Rom. Von 2015 bis 2019 war er Direktor des italienischen Kulturinstituts in Berlin. Er hat zahlreiche Übersetzungen und Publikationen zur Goethezeit und zur österreichischen Literatur vorgelegt und war Herausgeber einer zweibändigen kommentierten italienischen Ausgabe der Werke Friedrich Hölderlins, für die er mit dem Premio Mondello für literarische Übersetzung ausgezeichnet wurde. Reitani starb im Oktober 2021 in Berlin. Hans Höller war bis 2012 Professor für Neuere Deutsche Literatur am Fachbereich Germanistik der Universität Salzburg und bis 2020 einer der Gesamtherausgeber der Salzburger Bachmann Edition. Er ist Verfasser zahlreicher Bücher zur zeitgenössischen Literatur, Mitherausgeber mehrerer Bände der Thomas-Bernhard-Werkausgabe und der Jean-Améry-Ausgabe.
Rezensionen
»Ein weiterer gelungener Band der rasch wachsenden Salzburger Bachmann Edition.« Renate Langer bn. bibliotheksnachrichten

Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension

Rezensentin Elke Schlinsog findet im Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger Bekanntes verdeutlicht, lernt aber auch Neues. So wird ihr von Anfang an die enge Beziehung zwischen den beiden Nachkriegsschriftstellerinnen spürbar, die sich in ihren Briefen "aneinanderschmiegen", so Schlinsog - und zwar trotz ihrer verschiedenen Lebensentwürfe, die die Kritikerin hier in ganz neuer Offenheit entdeckt: Aichinger, die sich für das Familienleben entschied, und Bachmann, die die Tätigkeit als Schriftstellerin vorzog, der Freundin aber auch ihren Schmerz über das Alleinsein kundtat. Ein weiteres Mal wird der Kritikerin hier das "Dilemma einer weiblichen Schriftstellerinnenexistenz" in den 50er Jahren deutlich. Als bemerkenswerte Leerstelle fällt der Kritikerin auf, dass die beiden Frauen fast nie über ihre Herkunft sprechen -Aichinger war Jüdin, Bachmann die Tochter eines Nazis, erinnert Schlinsog.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.11.2021

Ich käme jetzt gern, um Dich zu trösten

Ein Wunder, dass diese Freundschaft so lange Bestand hatte: Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger.

Von Sandra Kegel

Betrachtet man die Korrespondenz der Freundinnen vom Ende her, so wohnt ihr eine Tragik inne. Denn spätestens um das Jahr 1959 herum setzt eine Entfremdung zwischen Ingeborg Bachmann und Ilse Aichinger ein, die schließlich in eine Sprachlosigkeit führt, die umso bestürzender wirkt, da man zuvor in den gut hundert Briefen las, mit welch inniger Zuwendung und geistiger Nähe die beiden Autorinnen sich seit dem Winter 1949 schrieben. Über die Gründe für das Verstummen kann die Literaturwissenschaft nur mutmaßen, wie Irene Fußl und Roland Berbig, die Herausgeber des Briefbands "halten wir einander fest und halten wir alles fest!" der Salzburger Bachmann Edition, in ihrem instruktiven Nachwort schreiben. Dokumentiert ist hierzu nichts. Ein Wunder scheint es rückblickend für sie vor allem zu sein, dass die beiden wichtigsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit ihre Freundschaft über die räumliche Distanz, aber auch über die verschiedenen Lebensentwürfe und den Literaturbetrieb hinweg, der sie zu Konkurrentinnen machte, mehr als zwölf Jahre lang aufrechterhalten konnten.

Als Ingeborg Bachmann, geboren 1926, die fünf Jahre ältere Ilse Aichinger im Wien der Nachkriegszeit kennenlernt, vermutlich auf Vermittlung des Kritikers Hans Weigel, können ihre Erfahrungswelten unterschiedlicher kaum sein. Aichinger, deren Großmutter sowie Onkel und Tante im Holocaust ermordet wurden, hatte mit ihrer Mutter, einer früh zum Katholizismus konvertierten Ärztin, der Wohnung und Arbeitserlaubnis entzogen worden waren, in einem Zimmer direkt gegenüber der Wiener Gestapo-Zentrale den NS-Terror überstanden. Ilses Zwillingsschwester Helga hatte 1939 mit einem Kindertransport nach London fliehen können, während Ilse zum Schutz der Mutter in Wien geblieben war. Es sollte ein Jahrzehnt dauern, ehe die Zwillinge sich wiedersahen.

Ingeborg Bachmann dagegen verbrachte ihre Klagenfurter Jugend in familiärer Sicherheit, mit Hausmusik und Literatur. Doch während der Vater schon früh der NSDAP beitrat, schrieb seine Tochter 1943 als Siebzehnjährige in der Erzählung "Das Honditschkreuz" gegen die NS-Ideologie an. In ihrem Kriegstagebuch wird Bachmann die Befreiung 1945 als "den schönsten Sommer" ihres Lebens bezeichnen, "und wenn ich hundert Jahre alt werde".

Als sie Aichinger im Herbst 1947 kennenlernt, schreibt diese gerade ihren ersten Roman fertig, "Die größere Hoffnung". Die neue Freundin schaut bewundernd zu ihr, der "Leitfigur", wie Hans Weigel notiert, auf. Mit einem kurzen Weihnachtsgruß beginnt der Briefwechsel zwei Jahre später, nachdem der gemeinsame Lebens- und später lebenslang ambivalent betrachtete Sehnsuchtsort Wien verlassen worden ist. Fortan sind die Frauen auf Briefe angewiesen, um die räumliche Distanz zu überwinden. Während Aichinger nach Ulm geht und für kurze Zeit an der Hochschule für Gestaltung arbeitet, 1951 zur Gruppe 47 kommt und dort ihren späteren Ehemann, den Schriftsteller Günter Eich, kennenlernt, der später ebenfalls an der Korrespondenz teilnimmt, ist Ingeborg Bachmann zunächst in Wien auf Vermittlung der Freundin Elisabeth Liebl beim Sender Rot-Weiß-Rot beschäftigt, arbeitet an Texten und Hörspielen. Auch sie wird zur Gruppe 47 stoßen und spätestens mit dem Preis der Gruppe 1953 großes Aufsehen erregen. Dass der legendäre Spiegel-Titel im Jahr darauf mit der Autorin auf dem Cover ursprünglich als Doppelporträt mit Ilse Aichinger geplant war, wie ein Brief des Verfassers belegt, ist ein interessanter Hinweis der Herausgeber, die gleichwohl die Gründe für Aichingers Wegfall nicht mehr rekonstruieren können.

Was den Briefwechsel der zunächst zwei und mit Eich dann drei Schriftstellern vor allem ausmacht, ist die über Worte und Schrift evozierte Nähe der Schreibenden zueinander. Da wird Ingeborg zum "dritten Zwilling" der Aichingers auserkoren, Eich nennt sie ihre kleine Schwester und Berta Aichinger, die Mutter, zeichnet Briefe an Bachmann mit "Ihre ,Mutti'". Die große Bedeutung familiären Zusammenhalts für sie und ihre Tochter, die Holocaust-Überlebenden, wird in diesen Briefen manifest. Die schriftlichen Liebkosungen, "Ingelein" und "Ilselein" nennen sich die Frauen da ein ums andere Mal, sind nicht zuletzt Markierungen des Leben-und Liebenkönnens angesichts der Traumata der Vergangenheit bei der einen und der Einsamkeit der Gegenwart bei der anderen.

Während Ilse Aichinger sich für ein scheinbar konventionelles Leben entscheidet und mit Mann und den beiden Kindern Clemens und Mirjam zurückgezogen in der Provinz lebt, treibt es Ingeborg Bachmann hinaus in die Welt. Briefe sendet sie in den kommenden Jahren aus Rom, wo sie eine Zeit lang lebt, später aus Paris und dann aus Uetikon bei Zürich, wohin sie Max Frisch gefolgt ist. Das Unglück der Beziehung wird zum Greifen nah, als Ingeborg Bachmann am 24. September 1959 mit Virginia Woolf im Sinn bitter darüber klagt, dass ihr in der gemeinsamen Wohnung "dieser eine Raum zum arbeiten fehlt".

Im Spiegel der Freundin sehnt Bachmann sich nach einer Familie und gesteht brieflich zugleich ihre Furcht ein, kinderlos zu bleiben. Als Frau, als Intellektuelle ihrer Zeit, selbständig und unabhängig, führt sie ein Leben, für das es Vorbilder nicht gibt. Aber sie kämpft sich durch in der Männerdomäne, macht dabei indes auch manches Zugeständnis an den Literaturbetrieb, was Ilse Aichinger missfällt. Sie hält den Betrieb für das Schreiben ohnedies für schädlich. Die letzten Zeilen dieses lesenswerten Bands stammen von Ingeborg Bachmann. Darin bekennt sie der Freundin, "viel zu wenig gesagt zu haben. Dir zu wenig gedankt zu haben, Dich zu wenig oft gesehen zu haben, - ". Der Brief wurde nie abgeschickt.

Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Günter Eich: "Halten wir einander fest und halten wir alles fest!" Briefe.

Piper Verlag und Suhrkamp Verlag, München und Berlin 2021. 250 S., geb., 40,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.10.2021

Zwei
Leben
Enge Freundinnen und grundverschieden:
der Briefwechsel zwischen
Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann
VON HELMUT BÖTTIGER
Es gibt eine große Unbekannte in diesem Austausch. Die magischen Momente in der Beziehung zwischen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann liegen vor dem überlieferten Briefwechsel, lange bevor diese beiden Schriftstellerinnen zu den berühmtesten ihrer Generation wurden. In den Jahren 1949/50 kam es im Wiener 3. Bezirk zu einer ungeahnten Variante des „Dreimäderlhauses“, wie die Beteiligten es nannten. Ingeborg Bachmann zog als Untermieterin zur etwas älteren Journalistin Bobbie Löcker, und gemeinsam mit der in der Nähe wohnenden Ilse Aichinger formierten sie ein Trio, das trotz der immer noch lastenden Vergangenheit von einem neuen Bohèmegefühl beseelt war.
Die Gemeinsamkeit, die zwischen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann bestand, muss euphorisch gewesen sein. In den folgenden Jahren, als sich die Lebensumstände der beiden Freundinnen sehr zu unterscheiden begannen, wird sie in den Briefen immer wieder beschworen. Die Nennung einiger Straßenzüge und Kaffeehäuser, die Gottfried-Keller-Gasse, die Prinz-Eugen-Straße, das Barry, der Elsahof, nimmt mythische Formen an.
Dass Ilse Aichinger in der Nazidiktion als „Halbjüdin“ galt, ist ein unüberhörbarer Grundton. Sie veröffentlichte 1948 den Roman „Die größere Hoffnung“, im Alter von 26 Jahren, und es ging darin untergründig um die Situation ihrer Familie während der Naziherrschaft. Ihrer Zwillingsschwester war es gelungen, 1939 mit dem letzten Kindertransport nach England zu fliehen. Sie aber war zurückgeblieben, um ihrer jüdischen Mutter beizustehen.
Die fünf Jahre jüngere katholische Kärntnerin Ingeborg Bachmann suchte früh den Kontakt zu Juden, das hatte für sie eine politisch-existenzielle Dimension. Sie lernte Aichinger im Kreis des umtriebigen Hans Weigel kennen. Berta Aichinger, Ilses Mutter, hatte nach dem Krieg ihre Tätigkeit als Ärztin wiederaufgenommen, und es war ihr Dienstzimmer in einem Pflegeheim für Todkranke, in dem Bachmann Ilse Aichinger am Anfang ihrer Freundschaft öfter besuchte. Die ersten Briefe zwischen den beiden Autorinnen werden geschrieben, als Ilse Aichinger vom April 1951 bis ins Jahr 1952 hinein als Assistentin von Inge Aicher-Scholl an der Hochschule für Gestaltung in Ulm arbeitet. Und hier werden langsam auch charakteristische Unterschiede deutlich. Ingeborg Bachmann propagiert von Anfang an ein selbständiges, unabhängiges Leben, taucht in die Wiener Kultur- und Medienszene ein und hat einen lukrativen Job bei einem amerikanischen Besatzungssender.
Ilse Aichinger hingegen empfindet nach ihren traumatischen Wiener Erfahrungen ihre Familie als notwendigen Schutzraum und Rückhalt. Dass sie Bachmann Weihnachten 1950 zu sich und ihrer Mutter einlädt, ist der größtmögliche Vertrauensbeweis. Die junge Kärntnerin wird von Ilses Mutter Berta als „dritte Zwillingstochter“ adoptiert und bezeichnet sich in den Briefen liebevoll als „Ersatzmutter“.
Am 20. Mai 1951 taucht zum ersten Mal eine Andeutung auf, die auf die kommenden Jahre vorausweist. Ilse Aichinger schreibt vom „Betrieb“, den sie für „gefährlich“ hält, „sobald er einem keine Zeit mehr lässt Heimweh zu haben und diese Verlassenheit zu spüren, die mit uns allen identisch ist und die auf der anderen Seite den Glanz ausmacht, wenn wir ihn auch selbst in diesem Augenblick nicht sehen“.
Die „Verlassenheit“, von der hier die Rede ist, teilen die beiden Freundinnen. Aber sie hat eine jeweils völlig andere Vorgeschichte und führt zu anderen Verhaltensweisen. Während Bachmann sich offensiv in den Literaturbetrieb hineinbewegt, zieht sich Aichinger immer mehr zurück. Das ist umso bemerkenswerter, da sie im Mai 1952 den Preis der „Gruppe 47“ bekommt, ein Jahr vor Bachmann, und damit auch in der deutschen Literaturszene plötzlich im Rampenlicht steht.
Aichinger heiratet wenig später den deutlich älteren Schriftsteller Günter Eich und veröffentlicht nur noch wenig. Bachmann hingegen schlägt einen entgegengesetzten Weg ein. Als Aichinger 1954 ihr erstes Kind geboren hat, schreibt Bachmann: „Manchmal ist meine Sehnsucht größer nach der kleinen Krebsigkeit als nach Euch, und das versteht Ihr hoffentlich auch – nach den Fingerln und nach dem Schreien und allem, was rosig ist. Ich möchte es ganz vehement und zart halten und nur anschauen. Und manchmal könnt ich auch heulen, weil ich das Gefühl hab, dass ich nie eins haben werd und weil am Horizont absolut kein Licht auftaucht – dass es anders werden könnte mit dem Alleinsein und seiner Fatalität.“
Bachmann, die zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt ist, fühlt sich hin- und hergerissen. Sie führt das Leben einer emanzipierten Frau, ohne einen Begriff dafür zu haben. Was sie will, ist in den Fünfzigerjahren gesellschaftlich nicht vorgesehen. Auf diesen Widerspruch stößt sie zwangsläufig immer wieder. In einem Brief an ihre Eltern schreibt sie im Oktober 1959, dass sie sich, was ihren „Beruf“ angehe, mehr „zu den Männern“ zähle. In ihren Texten überwiegen tatsächlich männliche Protagonisten, das fällt auf. So wie sie zu leben versucht, kann es eigentlich nur ein Mann tun – an dieser Erkenntnis arbeitet sie sich zeitlebens ab. Bachmanns zwei relativ schnell aufeinanderfolgende Gedichtbände werden hymnisch besprochen, sie erhält viele Preise, 1964 mit dem Büchner-Preis den bedeutendsten deutschen Literaturpreis. Von Ilse Aichinger hört man nach ihrem triumphalen Eintritt in den deutschen Literaturbetrieb jedoch kaum mehr etwas. Sie legt 1957 als nächstes Buch einen schmalen Band mit „Szenen“ und „Dialogen“ vor und schreibt an Bachmann, dass sie „an immer kürzeren Versuchen“, arbeite, „die man auch nicht mehr Geschichten nennen kann. Das nächste werden wahrscheinlich Seufzer sein, um es noch kürzer zu machen“. Aichingers „Seufzer“ entsprechen Bachmanns „Alleinsein“ durchaus – doch die gemeinsame Verbindung wird immer loser und schwieriger.
Nach 1959 zeigt sich deutlich eine Entfremdung. Ihrer Mutter gegenüber, die Ingeborg Bachmanns „Talent für publicity“ anspricht, antwortet Ilse Aichinger: „Wer so genau in der Zeit liegt, braucht die Reklame. Wer die Zeit nicht braucht, braucht die Reklame auch nicht.“ Auf der anderen Seite leidet Ingeborg Bachmann sehr darunter, dass Ilse Aichinger immer länger schweigt. Als die gemeinsame Freundin Bobbie Löcker 1961 stirbt, führt das noch einmal zu gegenseitigen Beschwörungen. Bachmann schreibt aus Rom: „Ja, lass uns bald zusammenkommen, und halten wir einander fest und halten wir alles fest!“ Doch das ist nur das nochmalige Auflodern einer Vergangenheit, die mit der konkreten Gegenwart nicht mehr viel zu tun hat.
Die Biografien von Aichinger und Bachmann entwickeln sich weit auseinander. Aichinger hat mit Günter Eich einen Ehemann gefunden, der zu ihr zu passen scheint, und lebt mit ihm zurückgezogen auf dem Land. Bachmann hingegen schlittert in eine Lebenskatastrophe, die durch das Scheitern ihrer Beziehung zu Max Frisch ausgelöst wird. Die umsichtigen und viele bisher unbekannte Materialen heranziehenden Herausgeber dieses Briefwechsels zitieren einen verzweifelten Brief Bachmanns an Frisch aus dem Jahr 1959, in dem der Unterschied zu Aichingers Leben manifest wird. Bereits Mitte der Fünfzigerjahre hat Aichinger den Gegensatz zwischen ihr und Bachmann, ohne von den darin mitschwingenden Dimensionen alles ahnen zu können, programmatisch in Worte gefasst: Sie wünscht Bachmann, dass sie „Freiheit in der Verlassenheit“ finde, und „nicht die Verlassenheit in der Freiheit“. Dieser Briefwechsel ist nicht nur literarisch aufschlussreich. Er ist auch eine eindringliche Fallstudie über weibliche Lebensentwürfe vor den gesellschaftspolitischen Umbrüchen seit Ende der Sechzigerjahre.
Bachmann drängt in
den Literaturbetrieb, Aichinger
zieht sich scheu zurück
Ingeborg Bachmann,
Ilse Aichinger und
Günter Eich: „halten wir einander fest und halten
wir alles fest!“ Der Briefwechsel, hrsg. von Irene Fußl und Roland Berbig. Salzburger Bachmann-
Edition, Suhrkamp, Berlin 2021. 347 Seiten, 40 Euro.
Das Geschichtsbewusstsein
wird in Düren durchaus
kultiviert: Es gibt in der Stadt ein Papiermuseum, die älteste
Maschine, die noch immer im Einsatz ist, stammt aus dem
19. Jahrhundert und am
Haupteingang der Fabrik sieht man noch Einschusslöcher, die nie
beseitigt wurden. Auf dem Bild ist zu sehen: fertiges Papier.

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»[Bachmanns] Lyrik fußt auf den ideellen und materiellen Trümmern, die der Zweite Weltkrieg hinterließ - und erweist sich heute wieder als geradezu erschütternd aktuell.« Tobias Schwartz Der Tagesspiegel 20231114