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Den Zeitraum von neun Tagen, in dem ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade Prozesse, die sehr weit zurückliegen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In Zeitbewusstheit zeigt Marcia Bjornerud eindrucksvoll, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand…mehr

Produktbeschreibung
Den Zeitraum von neun Tagen, in dem ein Tropfen Wasser durchschnittlich in der Atmosphäre verbleibt, können wir leicht nachvollziehen. Aber die Hunderte von Jahren, die sich ein Molekül Kohlendioxid, das den Klimawandel antreibt, darin erhält, überschreiten die Grenzen unserer Vorstellung. Doch gerade Prozesse, die sehr weit zurückliegen, prägen unsere Gegenwart, und unser heutiges Verhalten wird noch über Generationen hinweg gravierende Folgen für den Zustand der Erde haben. In Zeitbewusstheit zeigt Marcia Bjornerud eindrucksvoll, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nicht mehr viel Zeit.
Autorenporträt
Marcia Bjornerud ist Professorin für Geowissenschaften und Umweltstudien an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin. Sie ist Autorin von Elements, des Wissenschaftsblogs des New Yorker. 2005 veröffentlichte sie das Buch Reading the Rocks. The Autobiography of the Earth.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Alex Rühle taucht dankbar und verändert auf aus dem Buch der Geologin Marcia Bjornerud. Die Autorin vermittelt ihm ein Gefühl für die Langsamkeit geologischer Prozesse einerseits, für das Tempo, mit dem der Mensch diese Prozesse null und nichtig macht andererseits. Bjorneruds Reise zur Geburtstunde der Geologie, durch Superkontinente und Eiszeiten, Aussterbephasen und Verwandlungen wirkt auf Rühle zwar mitunter fast poetisch, doch macht sie ihm vor allem auch deutlich, was wir zu verlieren haben. Mit einem besseren Begriff von Räumen und Zeiten und von der Bedeutung klarer Wissenschaft beendet Rühle die Lektüre.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.2020

Alles ist voller Zeit

Hier entfalten sich in wenigen Sätze ganze Epochen der Erdgeschichte: Marcia Bjornerud wirbt auf brillante Weise für die Geologie.

Von Ulf von Rauchhaupt

Jeder kennt die Geschichte mit Newton und dem Apfel. Aber wer hat schon von Siccar Point gehört? Oder von James Hutton? Dem schottischen Arzt soll 1789 an jenem Felskap nahe Dunbar angesichts zweier im steilen Winkel aufeinandertreffender Gesteinsschichten aufgegangen sein, wie unermesslich lange es dauert, bis Berge aufgefaltet und wieder abgetragen werden. Es war die Geburt des Aktualismus, der Vorstellung, dass Gesteinsformationen in enormen Zeiträumen entstanden und durch keine anderen Prozesse als solche, die noch heute am Werke sind. Sie hat für die Geologie historisch eine ähnliche Bedeutung wie Darwins Idee der Evolution durch natürliche Selektion für die Biologie, wo ohne sie, wie der große Genetiker Theodosius Dobzhansky es einmal formulierte, nichts einen Sinn ergibt.

Nun sind Klagen darüber, wie wenig selbst zentrale Wissensbestände eines Faches außerhalb desselben gewürdigt werden, so alt wie die moderne Wissenschaft selbst. Im Falle der Geologie aber sind sie wohl berechtigter als irgend sonst. Man kann heute sein Abitur mit 1,0 bestehen, ohne zu wissen - oder je gewusst zu haben - was Basalt und Granit unterscheidet. Marcia Bjornerud, Geologieprofessorin an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin, findet das nicht nur persönlich bedauerlich. Für sie ist Geringschätzung ihres Fachs einer der Gründe, warum die Menschheit mit ihrem Planeten so umgeht als gäbe es kein Morgen: Viel zu viele Zeitgenossen sind ihrer Einschätzung nach funktionale Analphabeten, wenn es darum geht zu verstehen, auf welchen Zeitskalen die Erde operiert. Zu versuchen, darauf in Form eines populären Sachbuchs aufmerksam zu machen, gar in der Absicht, dadurch zur Abhilfe beizutragen, scheint vermessen. Das sieht Bjornerud selbst so. "Die meisten Menschen", schreibt sie, "haben keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten."

Zum Glück hat sie es trotzdem versucht, denn "Timefulness", so der Titel des Originals, ist das stilistisch brillanteste Buch, das seit langem über Geowissenschaften publiziert wurde. Offenbar ist es einfacher über Quantenphysik zu schreiben als über Steine und Erdzeitalter, das der Dinosaurier vielleicht ausgenommen. Schon Reisebuchautoren geraten ihre geologischen Abschnitte nicht selten zu sprachlichem Knäckebrot. Aber wenn der Mangel an lesbaren Geologiebüchern ein Grund für das Imageproblem des Fachs ist, dann hat Marcia Bjornerud ihm hier auf ganzer Linie abgeholfen. Auf der Basis einer umfassenden, auch literarischen Bildung und zugleich mit großem Gespür für das Wichtige und für die Fragen, die sich Laien stellen mögen, macht sie auf denkbar knappem Raum auch Schwieriges durchsichtig. Sie erspart ihren Lesern dabei nicht nur unnötiges Fachvokabular, sondern auch jegliche geomorphologische Naturlyrik. Stattdessen entfalten hier wenige Sätze ganze Zeitalter.

Marcia Bjorneruds makellose Prosa scheint auch in der deutschen Fassung noch durch, wenn auch nicht alle Übersetzungsprobleme lösbar waren. Dazu gehört der Titel. "Timefulness" ist bei Bjornerud ein Gegenbegriff zu "timelessness", was hier weniger auf ewige Gültigkeit zielt als auf eine davon inspirierte Haltung, die davon absehen zu können meint, dass Gesteine und Landschaften "voller" Zeit sind, "dass die Welt von der Zeit, oder, besser, aus Zeit gemacht ist".

Dieser Einsicht wünscht man sich tatsächlich größere Gefolgschaft und nimmt dem Buch auch alle vorgebrachten Argumente dafür ab, warum ihre mangelhafte Verbreitung Lösungen für die immer drängenderen Umweltprobleme erschwert. Dabei verzeiht man es der Autorin auch, wenn sie die Dominanz der "Timelessness" etwas einseitig der Physik und ihrem Ideal ewig gültiger Gesetze anlastet. Auch wäre es nicht nötig gewesen, den seinerzeit durchaus gut begründete Einwand des Physikers Lord Kelvin gegen Darwins Überzeugung, die Erde müsse ein enormes Alter haben, zu einem interdisziplinären Grundkonflikt aufzubauschen und Kelvin eine verborgene, im heutigen Sinn des Wortes kreationistische Agenda zu unterstellen. Wenigstens lässt Bjornerud nicht unangedeutet, dass der jahrzehntelange Widerstand gerade so vieler Geologen gegen Alfred Wegeners Einsicht in die Kontinentalverschiebung viel mit der mangelhaften physikalischen Bildung der damaligen Gesteinsexperten zu tun hatte.

Wie Bjornerud sich überhaupt herausnimmt, auch die eigene Zunft zu kritisieren, etwa, wenn in popularisierender Absicht die Erdgeschichte mit einem 24-Stunden-Tag verglichen wird, an dessen Ende der Mensch in den letzten Sekundenbruchteilen vor Mitternacht erscheint. "Das ist ein verqueres, ja sogar unverantwortliches Verständnis unserer Stellung in der Zeit", schreibt Bjornerud. "Denn zum einen legt es einen Grad an Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit nahe, der nicht nur psychologisch befremdend ist, sondern uns auch das Ausmaß, mit dem die Menschheit in dieser letzten Viertelsekunde auf den Planeten einwirkt, verdrängen lässt."

Das ist natürlich richtig in Bezug auf die geologischen Bedürfnisse einer Säugetierspezies, die von einer ebenso empfindlichen wie raumgreifenden Infrastruktur abhängig ist und deren bald acht Milliarden Vertreter nicht nur überleben, sondern gut, mehr noch: alle möglichst gleich gut leben wollen - mit vollem Recht natürlich, aber als erste Lebensform, die in der Lage ist, solches Recht vor der Naturgeschichte geltend zu machen. Aus einem Blickwinkel sub specie temporis kann das Anthropozän, die Epoche, in der die Menschheit zum geologischen Faktor wurde, dann eben doch eine Zeit erdgeschichtlicher Umwälzungen unter anderen sein. Indem aber der Gedanke der Timefulness auch solche Perspektiven öffnet, konterkariert er das von der Autorin ausgerufene große Ziel "das Anthropozän aufzuheben und den Aktualismus wieder einzusetzen". Denn im Gegensatz zur Evolution in der Biologie hat sich in der Geologie gezeigt, dass dort eben nicht alles nur im Licht des Aktualismus einen Sinn ergibt.

Marcia Bjornerud: "Zeitbewusstheit". Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten.

Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 245 S., geb., 28,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 30.12.2020

Steine sind keine Substantive
Die Geologie kann eine staubtrockene Wissenschaft sein. Im neuen Buch der amerikanischen
Wissenschaftlerin Marcia Bjornerud aber wird sie zu einem intellektuellen Erlebnis
VON ALEX RÜHLE
Timefulness. Man kann den Neologismus nur notdürftig ins Deutsche übersetzen, schließlich lehnt er sich im Englischen an die allerorten geforderte „Mindfulness“ an, die bei uns als „Achtsamkeit“ Konjunktur feiert und das wertschätzende Wahrnehmen des Augenblicks meint. Der amerikanischen Geologin Marcia Bjornerud geht es mit ihrem titelgebenden Begriff der Timefulness um eine Art komplementäres Bewusstsein zur Mindfulness, diagnostiziert sie doch einen kollektiven „zeitlichen Analphabetismus: Wenn ein Erwachsener mit Abitur nicht in der Lage ist, auf einer Weltkarte die Kontinente zu bezeichnen, zeigen wir uns schockiert, sind gleichzeitig aber ziemlich schmerzfrei, was die Unkenntnis selbst der gängigsten Höhepunkte des Planeten anbelangt (mhm, Beringstraße... Dinosaurier … Pangaea?)“ Der tiefere Grund für diese Unwissenheit liegt ihrer Meinung nach in unserer Chronophobie, also der kollektiven Angst vor der Zeitlichkeit.
Bjornerud, Professorin für Geowissenschaften und Umweltstudien an der Lawrence University in Appleton, Wisconsin und New-Yorker-Autorin, möchte bei ihren Lesern ein Gefühl für die „Tiefenzeit“ entwickeln, dafür also, dass unsere Gegenwart auf 4,5 Milliarden Jahren aufliegt, wodurch die Geschichte der Menschheit zu einer hauchdünnen Staubschicht auf kilometerdicken Granitsockeln schrumpft.
Sie nimmt einen auf nur 243 Seiten mit auf eine enorme geologische Reise, quer durch Superkontinente, ewige Eiszeiten, biochemische Umwälzungen und Aussterbephasen. Dabei schreitet sie nicht öde den Zeitstrahl ab, sondern fängt mit der eigenen Verwunderung darüber an, wie Menschen überhaupt darauf kamen, die vermeintlich so stabilen geologischen Verhältnisse erstmals als permanenten gigantischen Wandlungsprozess zu lesen.
Schließlich war bis ins 19. Jahrhundert sonnenklar, dass diese Erde eine Art statische Bühne ist, die Gott dem Menschen vor rund 6000 Jahren aufgestellt hat, auf dass er darin Krone der Schöpfung spiele. Bis der Arzt James Hutton 1789 an der schottischen Küste erkannte, dass die vor ihm aufragende Felswand aus verschiedenen Gesteinsschichten bestand, die einstmals am Grund des Meeres gelegen haben mussten, sich dann gehoben hatten, im Lauf der Zeit erodiert waren – und dass all das Millionen Jahre gedauert hat und bis heute weitergeht. Die Geburtsstunde der Geologie.
Nun ist die Geologie im Vergleich zur Physik mit ihrem Astro-Glamour und den quantenmechanischen Zauberrätseln so was wie die graue Cousine der Naturwissenschaften. Zum einen, so Bjornerud, „haben die meisten keine Lust auf Geschichten ohne menschliche Protagonisten“ (in den USA fristet die Geologie ein so stieftöchterliches Dasein, dass viele Forscher ihre Projekte heute als „Astro-Biologie“ labeln, um an Gelder zu kommen). Zum anderen geht es nun mal darum, aus Steinen zu lesen, was wann wie passiert sein könnte. Was viele Geologiefachbücher tatsächlich staubtrocken und steinschwer macht.
Auch Bjornerud macht es Laien eingangs etwas schwer, wenn sie die verschiedenen Datierungsverfahren und isotopenchemischen Feinheiten erklärt, sagt aber selbst, man könne das überspringen, was man, bevor es einem zu kompliziert wird, tatsächlich unbedingt tun sollte, schließlich findet sie als Reiseführerin durch die Weiten der Vergangenheit anschließend immer wieder so treffende Bilder, dass man diese aufheben möchte wie besonders schöne Kiesel: Steine sind „keine Substantive, sondern Verben – sichtbare Belege für Prozesse, Zeugen von Ereignissen, die sich über lange Zeitspannen zugetragen haben“. Oder hier: „Das Leben selbst hat sich die moderne Atmosphäre geschaffen, hat in gewissem Sinne seine eigene chemische Verfassung geschrieben.“
Zum anderen aber bezieht ihr Buch seine Wucht daraus, dass sie aus der Ferne der Tiefenzeit heraus klarmacht, was auf dem Spiel steht. Im Lauf der Erdgeschichte hat sich die Atmosphäre viermal grundlegend geändert. Was wir für völlig natürlich halten, dieses lebensspendende Gemisch aus genau austarierten Mengen an Stickstoff, Sauerstoff, Argon, begann „erst“ vor 350 Millionen Jahren der heutigen Zusammensetzung zu ähneln.
Beeindruckender noch als diese Geschichte der Atmosphäre ist die Geschichte der großen Massenaussterben. Bis auf das bekannteste am Ende der Kreidezeit (Bye, Dinos!), bei dem der Meteoriteneinschlag vor Yucatán großen Anteil hatte, wurden alle Kataklysmen durch rasche Klimaänderungen verursacht; jedes Mal kann man starke Störungen des Kohlenstoffkreislaufs und des CO2-Gehalts in der Atmosphäre nachweisen; und jedes Mal hat sich die Chemie der Ozeane verändert.
Klingt nach genau dem Rezept, das die Menschheit momentan anrührt. Nur dass die Veränderungen diesmal statt in Zehntausenden Jahren erdgeschichtlich gesehen in Sekundenbruchteilen vonstatten gehen und längst alles ins Rutschen bringen. Auf der Quelccaya-Gletscherkappe in den Anden ist in den letzten zwei Dekaden das Eis aus 1600 Jahren verschwunden. „Die im Englischen übliche Nebenbedeutung von glacial als ,unmerklich langsam’ ist mittlerweile fast ein Anachronismus; heute gehören Gletscher zu den Naturgebilden, die sich am raschesten verändern.“
Man kehrt aus Bjorneruds Text zurück, als hätte einem jemand die Sehschärfe verändert, so groß sind die Räume, Kräfte, Zeitläufte, die sie einem zeigt. Erosion, klar kennt man, da wird was weggewaschen. Aber wenn man liest, dass am Grund des Indischen Ozeans, im bengalischen Fächer, der von Ganges und Brahmaputra gespeist wird, mehr Himalajagestein liegt, als die Gebirgskette heute an Gesamtvolumen besitzt, bekommt diese Gestaltungskraft doch eine ganz andere Macht.
Beklemmend, wie weit fortgeschritten die Gegenaufklärung in den USA anscheinend mittlerweile ist. Junge-Erde-Anhänge und Kreationisten scheinen Bjornerud das Unterrichten derart schwer zu machen, dass sie sich zu Beginn gezwungen sieht, klarzustellen: Nein, Gott hat die Erde nicht vor 6000 Jahren geschaffen.
Man ist beim Lesen noch gar nicht fertig mit dem Kopfschütteln über dieses Aufblühen des Mittelalters mitten im Wissenschaftsbetrieb, als sie hinzufügt, all die Fundamentalisten würden ihre Chronophobie immerhin offen zur Schau stellen. Gefährlicher sind in ihren Augen die unsichtbaren Formen der Zeitverleugnung, die tief in die Hardware unserer Ökonomie und politischen Verfasstheit eingebaut sind, das Prinzip des ewigen Wachstums etwa oder die schnellen Wahlzyklen, die langfristige Politik fast unmöglich machen.
Wenn man wieder auftaucht aus dem Buch, staunt man nur über den Zerstörungsfuror, mit dem dieses filigrane planetarische Mobile gerade in Richtung Massenaussterben gelenkt wird. Was für das Leben nicht weiter störend ist, die Mikroben machen weiter, wie sie immer weitergemacht haben nach planetarischer Tabula Rasa. Für uns ist es halt relativ schade.
Gleichzeitig hält sie nichts von apokalyptischer Fatalismuslust – und kritisiert ihre eigene Zunft für den oft zitierten Vergleich der Erdgeschichte mit einem 24-Stunden-Tag, in dem der Mensch erst Sekundenbruchteile vor Mitternacht auftritt. Für Bjronerud ist das ein unverantwortliches Verständnis unserer Stellung in der Zeit. „Es legt eine Bedeutungslosigkeit und Machtlosigkeit nahe, die psychologisch befremdlich ist und das Ausmaß verdrängt, mit dem die Menschheit in dieser Viertelsekunde auf den Planeten einwirkt.“
In ihren Augen hilft gerade die Geologie dabei, „einen Mittelweg zwischen den Sünden narzisstischen Hochmuts und existenzieller Verzweiflung angesichts unserer Bedeutungslosigkeit“ zu finden. Sie hält es deshalb mit dem polnischen Rabbi Simcha Bunim, der im 18. Jahrhundert riet, man solle zwei Zettel in seinen Taschen tragen: Auf dem einen steht „Ich bin Asche und Staub“, auf dem anderen „Die Welt ist eigens für mich geschaffen worden“.
Nach dem Lesen war da erstmals ein Gefühl von intergalaktischer Dankbarkeit: Schließlich hatte dieser Planet nur so viel Zeit, mit immer neuen Lebensformen zu experimentieren, weil er um einen gelben Zwerg kreist. Sterne, die nur 50 Prozent größer sind als die Sonne, haben eine Lebenserwartung von nur drei Milliarden Jahren. Vor eineinhalb Milliarden Jahren wäre also Schluss gewesen. Da war hier alles noch extrem öd. In diesem Sinne: Guten Rutsch, ihr staubigen Wunderwesen, übermorgen kommt zu den 4 550 000 000 Jahren ein winziges, wertvolles hinzu.
Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020. 245 Seiten, 28 Euro.
Die Nebenbedeutung von ,glacial‘
als ,unmerklich langsam‘ ist
heute fast ein Anachronismus
Alles eine Frage der Perspektive: Marcia Bjornerud zeigt, dass die Menschheitsgeschichte auf unglaublich tiefen Zeitschichten aufsattelt.
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