• Broschiertes Buch

1 Kundenbewertung

In seinen Träumen begegnet der ehemalige "Charlie Hebdo"-Zeichner Luz seinen früheren Kollegen, die bei dem Terroranschlag vom 7. Januar 2015 ums Leben kamen. Er selbst entging dem Massaker nur durch Zufall, denn er hatte an dem Tag Geburtstag und kam zu spät in die Redaktion. In einer langen, schlaflosen Nacht lässt er seine Zeit bei der französischen Satirezeitung wieder aufleben: die Persönlichkeiten, die es prägten, die hitzigen Diskussionen - und natürlich den Humor, die raffinierten Pointen wie die beiläufigen Zoten.Luz zeichnet ein intimes, ungeschminktes und höchst lebendiges Porträt…mehr

Produktbeschreibung
In seinen Träumen begegnet der ehemalige "Charlie Hebdo"-Zeichner Luz seinen früheren Kollegen, die bei dem Terroranschlag vom 7. Januar 2015 ums Leben kamen. Er selbst entging dem Massaker nur durch Zufall, denn er hatte an dem Tag Geburtstag und kam zu spät in die Redaktion. In einer langen, schlaflosen Nacht lässt er seine Zeit bei der französischen Satirezeitung wieder aufleben: die Persönlichkeiten, die es prägten, die hitzigen Diskussionen - und natürlich den Humor, die raffinierten Pointen wie die beiläufigen Zoten.Luz zeichnet ein intimes, ungeschminktes und höchst lebendiges Porträt von "Charlie Hebdo" vor dem Anschlag: die getriebenen, idealistischen Journalisten und die begabten Künstler der Redaktion, kritische Geister, Respektlosigkeiten und Tabubrüche, politische Debatten und verlorene Kämpfe. Ganz nebenbei entfaltet er dabei ein Panorama Frankreichs in den Neunziger- und Nullerjahren.
Autorenporträt
Luz, geboren 1972 in Tours, Frankreich, als Rénald Luzier, war ab 1992 festes Redaktionsmitglied von "Charlie Hebdo". Aus seiner Feder stammen die Mohammed-Karikaturen, die Islamisten zu dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" veranlassten. 2015 erschien im S. Fischer Verlag sein Buch "Katharsis", ein erschütterndes wie bewegendes Zeugnis von der Zeit nach dem Anschlag.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Luz ist nicht mehr Charlie. Fast fünf Jahre nach dem Attentat auf das Satiremagazin gehört der Zeichner Rénald Luzier nicht mehr zu den Equipe und fühlt sich ihr auch nicht mehr zughörig, erfahren wir von Rezensentin Birgit Holzer. In seinem in Frankreich vor einem jahr erschienenen Buch "Wir waren Charlie" reklamiert er die alten Zeiten für sich, als die Redaktion noch unbekümmert unkorrekt sein konnte, ein bisschen vulgär und kritisch gegenüber allen Religionen und Autoritäten. Holzer berichtet viel von ihrer Begegnung mit Luz, dem sie anmerkt, wie sehr er seine Freunde und Kollegen vermisst. Dem Buch entnimmt sie vor allem Fragen, die Luz an sich selbst richtet, aber auch Erinnerungen an Fetischisten und Kommunisten sowie den Wahlkampf zwischen Jacques Chirac und Jean-Marie Le Pen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2019

Das tintentiefe Schwarz
Der französische Cartoonist „Luz“ entging den Anschlag auf Charlie Hebdo nur knapp.
Seine Graphic Novel „Wir waren Charlie“ ist eine Feier des Zeichenhandwerks, ein stiller Triumph
VON ALEX RÜHLE
Er hat es einem seltsamen Zufall zu verdanken, dass er noch lebt. Ausgerechnet an seinem eigenen Geburtstag kam Luz zu spät zur Redaktionssitzung. Und so stand er am Morgen des 7. Januar 2015 gerade unten am Hauseingang, in der Rue Nicolas Appert, außer Atem, als er von oben die Maschinengewehrsalven hörte, mit denen Jean Cabut und Georges Wolinski, Bernard Verlhac und Stéphane Charbonnier, seine Kollegen und Lebensfreunde, massakriert wurden.
Fast fünf Jahre ist das mittlerweile her. Luz zeichnete sich direkt nach dem Anschlag sein Trauma von der Seele, nein, das wäre zu einfach, er kämpfte mitten aus dem Trauma heraus mit seinem Stift dagegen an, gegen die Albträume und den Hass, gegen Angststürme und absurde Schuldgefühle, gegen die politische Vereinnahmung und die erst allmählich einsetzende aber dann kratertiefe Trauer. „Katharsis“ hieß der Band, ein schütteres, erschütterndes Buch, ein Überlebensstenogramm aus schwarzen Zitterzeichnungen. Es erschien im Sommer 2015, kurz danach hörte Luz auf bei Charlie Hebdo, er konnte nicht mehr, alles in ihm war versiegt.
Jetzt also „Wir waren Charlie“. Völlig anders. Vom Stil her. Im Ton. Im Umfang. Eine 320 Seiten umfassende Graphic Novel, die im Französischen mit „Les Indélébiles“ den deutlich schöneren Titel trägt: Die Unauslöschlichen. Weil er sich auf beides bezieht. Auf das zeichnerische Werk seiner ermordeten Freunde, das überdauern wird. Und darauf, dass sie ihm für immer im Gedächtnis bleiben.
Es fängt mit einem Traum an: Luz, der in die Redaktion kommt, geschäftiges Treiben, es ist Produktionstag, kurz vor Andruck, alle fragen einander im hektisch-herzlichen Durcheinander, wo Luz nur bleibt. Er setzt sich an den Rand, um seine Zeichnung fertigzukriegen. Als die vorbeihastende Sekretärin ihn ermahnt, sich zu beeilen, will er ihr antworten. Aber seine Sprechblasen bleiben weiß. Fieberhaft zeichnet er weiter, die Redaktion leert sich, man geht gemeinsam noch was trinken. Luz sieht sie alle davoneilen, er hämmert hilflos gegen das Fenster, hinter dem er sie entschwinden sieht, dann bleibt er allein zurück mit seinem Stift. – Als er in tiefer Nacht hochschreckt, fragt seine Frau: „Ein Albtraum?“ – „Nein… Schlimmer… Ein Traum… Alles war so entsetzlich normal.“ Er steht auf, geht zum Kühlschrank und die Erinnerungen kommen hoch. Eine Nacht, ein ganzes Leben.
Naja, ein ganzes Arbeitsleben. Luz lässt im Dunkel dieser einen Nacht 23 Jahre gemeinsamen Redaktionsalltag wieder aufleben. Eine stille Gedenkfeier für einen Mann und mehrere Flaschen Bier. Die zu einer Feier der Freundschaft und des Humors wird, des Arbeitswahnsinns und der Deadlines, der herzhaften Streitereien und des tagelangen schweigenden Zeichnens.
So wie in Luz’ Fall alles mit einem seltsamen Zufall endete (oder eben nicht), so fing es auch mit einer seltsamen Zufallsbegegnung an: Luz, damals noch Rénald Luzier, schüchterner Student aus Tours, wagt sich 1991 irgendwann ins Getümmel von Paris, unter dem Arm einen Haufen Skizzen. Er will zu Le Monde und Libération, eventuell auch zu seinen Göttern, den Zeichnern Cabu und Wolinski, die damals eine Zeitschrift mit dem Titel La Grosse Bertha machten. Aber er verläuft sich ein ums andere Mal, findet weder Le Monde noch die Räume des Canard Enchaîné, beschimpft sich, ein winziger schwarzer Fleck aus Ärger, Schweiß und Selbsthass, mitten im Irrgarten der Großstadt, als plötzlich eine Art Hobbit aus dem Hintergrund auftaucht, ein freundlich dreinblickender Mann mit metronomhaft pendelndem Gang und einer Frisur, als hätte er sich eine Wassermelonenschale aufgesetzt. Cabu! In Frankreich ein ähnlicher Mythos wie Goscinny oder Sempé. Da geht er, mit Umhängetasche, in den Hamsterbacken kaut er etwas vor sich hin. Luz fasst sich ein Herz, zeigt ihm mitten auf der Straße seine Zeichnungen, Cabu schaut erst stumm, dann fängt er still an zu lachen, so eine Art Schaben aus dem Inneren seiner ausnehmend freundlichen Seele, Chüchüchü….
In den Zeichnungen, die ihn nachts zeigen, allein im Hier und Jetzt, ist Luz stets schemenhaft verwischt, wasserfarben, oft verschwimmt er an den Rändern mit der Umgebung, manchmal scheint ihn auch das tintentiefe Schwarz der Nacht zu verschlucken, so als sei er selbst nicht viel mehr als ein Gespinst aus Traumresten. Sobald aber eine neue Erinnerungswelle über ihn hinwegrollt, die selbst durch so einen winzigen Gegenstand wie alte Radiergummikrümel ausgelöst werden kann, wird alles gestochen scharf und taghell: Die Truppe, die ihn damals, nachdem Cabu ihn auf der Straße aufgegabelt hatte, sofort freundlich aufnahm, am hufeisenförmigen Tisch. Riss alias Laurent Sourisseau und Catherine Meurisse, Cabu, Tignous alias Bernard Verlhac und Luz selbst, alle vertieft in ihre Arbeit. Über Seiten hinweg sieht man sie stumm zeichnen, wie Mönche beim Kopieren der Bibel. Jedes Mal wenn einer von ihnen radiert, zittert der Tisch in Cabus Umgebung. Die anderen scheinen nichts davon mitzubekommen.
Die kleine Szene feiert en passant das verschwundene Handwerk. Noch vor 20 Jahren haben sie alle mit Radiergummi, Kleber, Schere, Filzstift und Papier gearbeitet, einige Seiten später wird Meurisse erstmals ein Tablet mitbringen. Das Ganze ist aber zweitens auch als Szene eine Art Gegenentwurf zu „Katharsis“, seinem Terrorband: Dort zeigte er, wie das Zeichnen aus seinem Leben verschwand, er musste danach pausieren, verstummte vorübergehend. Hier nun zeigt er, was sie 25 Jahre gemeinsam geschaffen haben, wie sie handwerklich gerungen haben, wie zeichnet man Stacheldraht und verdammt, was sind die charakteristischen Linien im Gesicht des Schauspielers Pierre Arditi?
Drittens aber ist die Szene wie das Szenario zu einem Keatonschen Stummfilm. Wie sie alle mit versteinerter Mimik arbeiten. Die winzigen Rubbelbeben rund um Cabu. Der irgendwann mit vollendeter Freundlichkeit leisen Protest einlegt. Riss, der ab da wie ein Zerberus über sie alle wacht. Luz, der heimlich doch radiert...
Luz setzt auf den 320 Seiten alle Techniken ein, die ihm zur Verfügung stehen, Aquarell und Federzeichnung, Tuscheskizze, fiese Karikatur und liebevolle Großporträts. Im Hintergrund, durch die Gespräche und Cover der Wochenzeitschrift, rauscht französische und europäische Geschichte im Schnelldurchlauf vorbei, Chirac und Pasqua, Jugoslawienkrieg und Banlieueproteste, erstarkender Rechtspopulismus… Aber im Grunde ist dieses Buch eine Feier des Zeichenhandwerks. Auch deshalb ist Cabu der heimliche Mittelpunkt. Charb oder Tignous waren die „politischeren“ Köpfe des Magazins, Cabu war der künstlerisch Vielseitigste unter ihnen, der sogar blind in seiner Manteltasche so gute Porträts zeichnen konnte, dass die anderen sie ihm aus den Händen rissen.
Am Ende dieser Erinnerungsfeier, frühmorgens, nach fünf, sechs Stunden und mindestens so vielen Bieren, geht Luz ins Bett. Gerade als er am Einschlafen ist, piept sein Tablet. Der Sänger Johnny Hallyday ist gestorben. Luz zieht sich an und geht in die Redaktion. Alle sind sie da. Cabu, Charb, Tignous, dazu Philippe Lançon. Alle, die am 7. Januar 2015 in der Redaktion waren. Irgendwann dämmert Luz, dass Hallyday ja erst drei Jahre später, im Dezember 2017, gestorben ist. Aber Cabu malt jetzt trotzdem das endgültige Cover zum Tod des Rockstars. Während die anderen allmählich verblassen und verwässern, bleiben nur Luz und Cabus Zeichnung übrig, man sieht sie nur von hinten, ein weißes Blatt, das leuchtend hell im Dunkel schwebt, der Anfang jeder kreativen Leistung. Luz lebt bis heute unter Polizeischutz, an einem geheimen Ort. „Wir waren Charlie“ ist ein souveräner Triumph. Die Islamisten, der Anschlag, der Terror werden mit keinem Wort erwähnt. Die Kunst ist stärker. Unauslöschlich.
Luz: Wir waren Charlie. Aus dem Französischen von Vincent Julien Piot, Tobias Müller und Karola Bartsch. Reprodukt, Berlin 2019. 320 Seiten, Broschur, 29 Euro.
Winzige Gegenstände wie alte
Radiergummikrümel lösen
neue Erinnerungswellen aus
Die Islamisten, der Anschlag,
der Terror werden
mit keinem Wort erwähnt
Freundlicher kann ein Aufnahmegespräch gar nicht laufen: Cabu schaut sich erstmals Skizzen von Luz an, muss lachen, und damit beginnt eine 23-jährige Arbeitsfreundschaft, Stuhl an Stuhl, an einem Tisch, oft still wie Mönche beim Kopieren. Wenn nur das Radiergummibeben nicht wäre...
Abb. aus dem besprochenen Band
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2020

Nach dreimal unerwartet frühem Sterben

Die Comiczeichner Tina Brenneisen, Nick Drnaso und Luz zeigen in ihren sensationellen neuen Büchern, was das Weiterlebenmüssen für diejenigen, denen Menschen genommen wurden, bedeutet.

In diesem Jahr sind drei herausragende Comics erschienen, die thematisch eines eint: das Leben nach dem Tod. Nicht im religiösen Sinne, sondern als Fallstudien über Hinterbliebene, Weiterlebenmüssende also. Und zugleich erzählen alle drei Comics beklemmend über unsere Gegenwart, obwohl der eine als Paarporträt ganz privat ist, der zweite als Phänomenologie der Sozialen Medien ganz öffentlich und der dritte als Hommage an ein Redaktionskollektiv ganz politisch. Was den Stil betrifft, sind sie sowohl graphisch als auch erzählerisch denkbar unterschiedlich angelegt. Der erste Comic heißt "Das Licht, das Schatten leert" und kommt aus Deutschland, geschrieben und gezeichnet hat ihn Tina Brenneisen. Der zweite heißt "Sabrina" und kommt aus den Vereinigten Staaten, geschrieben und gezeichnet hat ihn Nick Drnaso. Der dritte heißt "Wir waren Charlie" und kommt aus Frankreich, geschrieben und gezeichnet hat ihn Luz.

Luz ist ein Pseudonym, und trotzdem ist Rénald Luzier (wie der Autor mit bürgerlichem Namen heißt) der berühmteste dieser drei Comic-Künstler. Nicht, dass er sich Berühmtheit je auf die Weise gewünscht hätte, in der sie ihn ereilte: Am 7. Januar 2015 überlebte Luz das Attentat auf die Pariser Satirezeitschrift "Charlie Hebdo", und zwar deshalb, weil es an seinem Geburtstag stattfand und seine Freundin ihn nicht rechtzeitig zur wöchentlichen Konferenz aus dem Haus ließ. Als er dann in der Rue Nicolas Appert vor dem Redaktionssitz eintraf, fielen drinnen gerade die tödlichen Schüsse. Über dieses Erlebnis, vor allem aber seine daraus resultierende Traumatisierung hat Luz schon wenige Monate danach den Comicband "Katharsis" publiziert. Zugleich verließ er damals die Redaktion von "Charlie Hebdo". Er hielt die ständige Konfrontation mit der Vergangenheit nicht mehr aus.

Wieso dann nun mit "Wir waren Charlie" (im Original: "Indélébiles" - Unauslöschliche), erschienen beim Reprodukt Verlag, der mittlerweile ersten deutschen Adresse für "Autoren-Comics", ein weiteres Buch aus seiner Feder zu diesem Thema? Weil Luz zwar immer noch unter Polizeischutz steht, aber so weit ins Leben zurückgefunden hat, dass er nun seine schönen Erinnerungen an zwanzig Jahre bei "Charlie Hebdo" aufgezeichnet hat. Selbstverständlich stehen aber auch sie weiter im Schatten seiner acht Freunde, die beim Attentat von 2015 starben, zumal zwei von ihnen, der Chefredakteur Charb und der Zeichnerveteran Cabu, die Mentoren von Luz bei der Zeitschrift waren. Liebevoll - was zumindest bei Charbs brachialem Humorverständnis etwas heißen will - holt Luz diese beiden Persönlichkeiten vor unseren Augen ins Leben zurück, macht sie tatsächlich unauslöschlich, zumindest solange wir leben, die wir diesen Comic gelesen haben.

Zu Beginn erwacht der Luz der Geschichte aus unruhigen Träumen, und die Passagen, die zeitlich nach dem Mord angesiedelt sind, hat der wandlungsreiche Zeichner als dominant blau aquarellierte Bilder angelegt - Nocturnes, aus denen sich dann die in schwarzweißem karikaturesken Strich gehaltenen Rückblicke auf seine Zeit in der Redaktion entwickeln. Man erfährt darin erstaunliche Interna über die Arbeit in diesem Satiremagazin und noch viel mehr über die charakterlichen Unterschiede der Belegschaft; die Geschichte von "Charlie Hebdo" wird ohne Kenntnis von Luz' Comic künftig nicht mehr erzählt werden können.

Aber noch viel interessanter ist das Selbstverständnis der Redaktion als kritische Intellektuelle, das in der Öffentlichkeit keinen breiten Widerhall gefunden hat. "Wir waren Charlie" ist somit eine politische Erzählung sondergleichen, weil hier die Frage nach Meinungsfreiheit und dem Willen, sie zu verteidigen, ständig präsent ist. Und beim Finale des mehr als dreihundertseitigen Bandes, wenn in die schwarzweißen Rückblicke plötzlich blaue Aquarellfarbe einzieht, überführt Luz auch sein Presse-Ideal in die Gegenwart, ehe ganz am Ende, auf den letzten im Jetzt angesiedelten beiden Seiten, der Pinsel als Werkzeug des Aquarellkünstlers gegen die Feder des Karikaturisten getauscht wird: ein Bekenntnis zur eigenen Geschichte und zugleich die Wiedergeburt des 2015 von ihm selbst begrabenen Karikaturisten Luz.

Unter den drei Comics zum Weiterlebenmüssen ist dieser der einzige, der auf einer rundweg positiven Note endet. An Nick Drnasos "Sabrina" ist seit dessen Erscheinen dagegen bewundert worden, wie kompromisslos skeptisch diese Geschichte erzählt wird. Als erstem Comic überhaupt brachte das dem Buch im vergangenen Frühjahr die Nominierung auf der Shortlist des Man-Booker-Preises ein, der angesehensten literarischen Auszeichnung der englischsprachigen Welt. Er gewann zwar nicht, doch in der ganzen Welt riss man sich um die Übersetzungsrechte; in Deutschland machte mit Blumenbar ein Verlag das Rennen, der noch nie einen Comic publiziert hatte. Doch "Sabrina" passt perfekt zu dem auf anspruchsvolle Literatur spezialisierten feinen Haus, das zur Aufbau-Verlagsgruppe gehört. Mit Karen Köhler sicherte man sich zudem eine Übersetzerin, die selbst zu den meistbeachteten jungen deutschsprachigen Autorinnen gehört; sie absolvierte die Aufgabe gemeinsam mit Daniel Beskos, der als Chef des Mairisch Verlags mit Comics ebenso vertraut umgeht wie mit Literatur. Das Resultat überzeugt sprachlich durchweg, und das will angesichts der Textfülle und Stimmvariationsbreite im zweihundertseitigen "Sabrina" einiges heißen.

Wobei Drnaso immer wieder auch ganz ruhige, also "stumme" Sequenzen zwischenschaltet, Nebengeräusche haben gleich gar keinen Platz in seinem Comic; wenn etwa das Autoradio eingeschaltet wird, "hört" man als Leser nichts. Hauptgeräusche dagegen sind extrem präsent: Türklingeln oder -klopfen etwa, ganz zu schweigen von einem daheim gehörten Radioprogramm, das ein apokalyptischer Verschwörungstheoretiker bestreitet: Ganze Doppelseiten in "Sabrina" sind mit seinem Sermon gefüllt, und dazu passiert in den Bildern selbst nicht mehr, als dass Teddy King, ein junger Mann, immer faszinierter diesen wirren Worten der Welterklärung, einem Konfusianismus, lauscht.

Teddy war der Freund der Titelheldin, jener Sabrina, die aber im Comic nur ganz zu Beginn in ihrer Heimatstadt Chicago auftritt, weil sie kurz danach verschwindet und, wie man nach einem Drittel der Handlung erfährt, bestialisch ermordet wird. Die schreckliche Bestätigung stammt vom Täter selbst, der seinen Mord filmte, die Videokassetten an Medienhäuser ins ganze Land verschickte und sich dann selbst umbrachte. Man kennt solche Fälle aus der (nicht nur) amerikanischen Wirklichkeit zur Genüge, und natürlich gelangt auch hier eine Kopie des Snuff-Videos ins Internet. Zugleich artikulieren sich über die unterschiedlichsten medialen Kanäle Zweifler am Geschehen. Was so etwas für die Angehörigen bedeutet, kann man sich denken. Man konnte es aber noch nie so deutlich sehen wie in Drnasos "Sabrina".

Dabei stehen im Mittelpunkt dieses Comics nicht Teddy oder Sabrinas Schwester Sandra, sondern das Zentrum ist der in Colorado lebende Air-Force-Angehörige Calvin Wrobel, ein Schulfreund von Teddy, bei dem dieser Zuflucht sucht, weil er mit der Gegenwart nach Sabrinas Verschwinden nicht mehr zurechtkommt. Calvin hat seine eigenen familiären Probleme, doch er kümmert sich einfühlsam um den Gast, obwohl der immer unzugänglicher wird. Zugleich gerät Calvin, der bei der Air Force für Internet-Überwachungstechnik zuständig ist, in den Fokus der Medien, die nach dem Auftauchen des Hinrichtungsvideos nach Angehörigen gieren, und der Verschwörungstheroretiker, denen er als Militär perfekt in die krude Gedankenwelt passt.

Der medial vermittelte, aber auch angezettelte Ausnahmezustand ist das eigentliche Thema von "Sabrina", einem meisterhaft komponierten Bilderroman, dem man den Einfluss von Chris Ware nicht nur in den Zeichnungen anmerkt. Sie sind bewusst statisch, die Figuren gleichen in ihrer reduzierten Individualität bisweilen Piktogrammen, zur Unterscheidung gerade der Militärangehörigen in Uniform braucht es genaue Lektüre. Diese Welt wird aus Worten konstruiert - und dekonstruiert.

Bei Tina Brenneisens "Das Licht, das Schatten leert" ist es genau umgekehrt: Hier sprechen vor allem die Bilder. Die Geschichte ist erklärtermaßen autobiographisch, es geht um die Verarbeitung eines kurz vor der geplanten Geburt im Mutterleib gestorbenen Kindes. Wie die Berliner Zeichnerin die Verzweiflung des Elternpaares ins Bild setzt, mit immer wieder deformierten Konturen und expressivem Form- und Farbeinsatz, das gleicht einem graphischen Schrei. Entsprechend intensiv ist das Lektüreerlebnis, aber es entspricht in seiner Gewalttätigkeit dem unerwarteten Einbruch des Todes in das Leben einer Familie, die nun nicht einmal weiß, ob sie es je sein wird - Lasse, wie der Sohn hätte heißen sollen, war das erste Kind. Die Trauer der Eltern ist derart überwältigend, dass für die Umwelt keinerlei Raum bleibt: weder metaphorisch noch buchstäblich. Beide verriegeln sich in ihrer Wohnung, und wenn es denn doch einmal zu Konfrontationen mit der Außenwelt kommt, sind das agoraphobische Erlebnisse. Und radikale Enttäuschungen über die Tatsache, dass alle anderen Leben einfach weitergehen.

Nicht nur, weil der Tod ungeborener Kinder oft tabuisiert wird, ist dieser Comic ein Ausnahmefall. Er ist es auch in seiner paradox erscheinenden Lebensbejahung, die er schließlich doch vermittelt. Tina Brenneisen zeichnete ihn gewissermaßen als Therapie, 230 Seiten lang. Freunde überredeten sie dazu, ihn beim Leibinger-Comicbuchpreis einzureichen; er gewann, doch bis zur Publikation vergingen noch einmal zwei Jahre, weil Brenneisen zögerte, diese höchstpersönliche Geschichte allgemein zugänglich zu machen. Dass es nun bei der Edition Moderne, einem höchst ambitionierten Schweizer Comicverlag, der immer schon ein starkes autofiktionales Segment hatte (Tardi, Satrapi, Sacco, Guibert, David B.), geschieht, ist ein Glück für den deutschen Comic.

Aus drei Ländern kommen diese drei Comics, doch sie sprechen mit einer Stimme, sosehr sie sich auch unterscheiden: davon, dass vorzeitiges Sterben viel mehr tötet als die jeweiligen Todesopfer. Mit ihnen stirbt auch die Welt ihrer Vertrauten, wie die sie kannten, und der doppelte Verlust macht die Bewältigung des Schmerzes vielfach schwieriger. Tina Brenneisen, Nick Drnaso und Luz haben Bücher geschaffen, die auch die Glücklichen, die keine derartigen Erfahrungen gemacht haben, verstehen lassen, was da geschieht. Sie bauen die Welt für die Leidtragenden ein Stück weit wieder auf. Der Rest ist dann an uns.

ANDREAS PLATTHAUS.

Tina Brenneisen: "Das Licht, das Schatten leert".

Edition Moderne, Zürich 2019. 240 S., br., 29,- [Euro].

Nick Drnaso: "Sabrina".

Aus dem Amerikanischen von Karen Köhler und Daniel Beskos. Blumenbar Verlag, Berlin 2019. 205 S., geb., 26,- [Euro].

Luz: "Wir waren Charlie".

Aus dem Französischen von Vincent Julien Piot, Karola Bartsch und Tobias Müller. Reprodukt Verlag, Berlin 2019. 320 S., br., 29,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr